Wer sagt, was bleibt? Ansichten zweier Geschichtslehrer

Ein Beitrag von Lena Herenz

Das Projekt

Ich bin in Brandenburg zu einer Zeit geboren, die Sozial- und Kulturwissenschaftler heute als „postsozialistisch“ einordnen. Ob dies meinen Blick auf die Welt und die Vergangenheit geprägt hat? Eher nicht – das dachte ich zumindest, bis ich zum ersten Mal gefragt wurde, wie es denn war, so kurz nach der Wende im Osten aufzuwachsen und gewissermaßen Teil einer „Ersten Generation West“ zu sein. Von daher waren die Fragen, die mir bei der ersten Ideenfindung für dieses Projekt im Kopf herumspukten, eigentlich nicht neu: Wer hat mich und diese „Generation“ geprägt? Ist vielleicht auch in mir etwas von der DDR geblieben? Und, was macht meine eigene Vergangenheit eigentlich mit meinem Denken über Geschichte?

„Ist vielleicht auch in mir etwas von der DDR geblieben?“

Um den Antworten auf diese Frage etwas näher zu kommen, sprach ich mit den ersten Historikern, die mir in meinem Leben begegnet waren: meinen Geschichtslehrern – einer aus dem Osten, einer aus dem Westen. Sie unterrichteten mich in der Mittel- und Oberstufe, die Zeit, in der ich begann, mich für die Geschichte zu begeistern. Wieder Kontakt zu früheren Lehrern aufzunehmen, fühlte sich zunächst merkwürdig an. Mit ihnen auf Augenhöhe über ein gemeinsames Interesse – die Geschichte – zu sprechen, hingegen nicht. Sie erzählten mir von den Veränderungen, die das Jahr 1989 in ihr Leben und in ihren Unterricht brachte, und wie es sich eigentlich anfühlt, selbst Teil der Geschichte gewesen zu sein, die man Schüler*innen näherbringen möchte. Herausgekommen sind zwei Gespräche mit Lehrern, die sich in der Veränderung fanden und hier auch ein bisschen von ihrer persönlichen Geschichte preisgeben. So lernte ich nicht nur zwei Perspektiven auf eine von ihnen gemeinsam erlebte Zeit des Umbruchs kennen, sondern auch ein bisschen über mich.

Die Gesprächspartner

Foto von einem Mann mit Stadt im Hintergrund
Hanswalter Werner, Foto: Privat.

geboren 1947 in Bitburg, aufgewachsen in der Eifel-Region | 1968 Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung | 1968-74 Studium Geschichte und Englisch auf Lehramt in Mainz | 1975-76 Referendariat, anschließend Beginn der Lehrtätigkeit in Bonn | Weiterbildung und Qualifizierung zum Schulleiter | 1990 Eintritt in die SPD | ab 1993 Schulleitung am „von Saldern-Gymnasium“ in Brandenburg an der Havel, Unterricht in den Fächern Geschichte, Politische Bildung und Englisch | 1993-98 Stadtverordneter | 2010 Renteneintritt | verheiratet, 1 Kind

Mann sitzt auf einer Bank, Nahaufnahme.
Matthias Richter, Foto: Privat.

geboren 1955 in Potsdam, aufgewachsen in Rathenow |1975-79 Studium Deutsch und Geschichte auf Lehramt in Potsdam | 1979 Beginn der Lehrtätigkeit in Schwedt | 1981 Eintritt in die SED, ab 1983 Parteisekretär | 1985-90 weniger Unterricht durch Invalidenrente | 1987 Versetzung nach Brandenburg an der Havel | 1990 Austritt aus SED, Wiederaufnahme der vollen Lehrtätigkeit, Unterricht am späteren „von Saldern-Gymnasium“ in den Fächern Deutsch, Geschichte, Darstellendes Spiel und Recht | 1991-96 Mitgliedschaft bei der SPD | 1992-2005 Fachberater für Lehrer*innen in Nord- und Westbrandenburg | 2019  Renteneintritt | verheiratet, 2 Kinder

Die Gespräche

Wie alles anfing: Vom politischen Engagement zur Geschichte

Nach der Schule haben Sie den Wehrdienst angetreten, aber nach den Ereignissen des Prager Frühlings traten Sie aus der Bundeswehr aus und waren somit Kriegsdienstverweigerer. War das auch der Moment, in dem ein politisches Bewusstsein bei Ihnen eingesetzt hat? 

Das politische Bewusstsein setzte schon früher ein. Das war so die Phase von 13 bis 14. Mein Vater war SPD-Mitglied, auch im Kreisausschuss, also sehr aktiv in der SPD. Dann später, also zu Beginn des Studiums, habe ich mich in die Richtung des SDS bewegt. Ich war immer eigentlich politisch aktiv, aber eingetreten in die SPD bin ich erst 1990. Und zwar bekam ich da eine Postsendung, also Wahlwerbung, von der NPD und das fand ich unverschämt, dass die Post so etwas in alle Haushalte transportiert. Da habe ich versucht, jemand Verantwortlichen zu finden und da merkte ich, dass man in dieser modernen Gesellschaft, in der wir leben, als Einzelner ein Nichts ist. Man kann nichts bewirken, sondern muss sich in Organisationen zusammenschließen. Und so bin ich in die SPD eingetreten und seitdem bin ich da aktiv und überlege jetzt, ob ich nicht wieder kandidieren soll. Ich habe so eine große Sorge, dass, wenn die Demokraten sich nicht zeigen, unser Gemeinwesen Schaden nimmt. 

Im Studium haben Sie sich dann für die Fächer Geschichte und Englisch entschieden. Was hat Sie denn an der Geschichte interessiert, auch im Studium?

Das kam sicher von der römischen Geschichte. Ich war auch in der Schule ganz gut in dem Fach, aber wir hatten leider in der Oberstufe gar keinen Geschichtsunterricht. Das war bitter für mich, vor allem in den ersten zwei, drei Semestern. Ich glaube, mein Professor schrieb sogar an die Eltern der Studierenden, dass sie es sich doch mit dem Studium nochmal überlegen sollten, ob es das richtige Fach sei – das war in meinem Fall auch so. (lacht) […] Das Interesse war bei mir schon immer da und dann kamen ja auch so, als ich etwa 12,13,14 war, die Kenntnisse über den Holocaust. Da gab es plötzlich Filme im Fernsehen. Als Kind hatte ich das nicht wahrgenommen, dass das überhaupt eine Rolle spielte. Aber dann so in meiner Pubertät, da ist man ja auch plötzlich wacher. Das ist auch ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt hat: Wie kann so etwas in Deutschland passieren? Bis heute auch. Vielleicht liegt das ja auch in den Genen, das Interesse an der Geschichte war immer da.

Sie sind in einem eher kritischen Umfeld aufgewachsen und wollten trotzdem bereits als Schüler in die SED eintreten. Wie kam es dazu?

Da kommt unsere EOS-Klasse zum Tragen. Wir waren da eine Reihe von sehr interessierten Schülern und mit unseren Diskussionen auch im Staatsbürgerkunde-Unterricht – wir hatten da einen sehr offenen, sehr guten Lehrer – und da reifte eben irgendwo die Einsicht, dass man nur ändern kann, wenn man dabei ist. Also von außen meckern oder Unzulänglichkeiten feststellen, das kann man alles tun, aber … wen interessiert’s?! Wir gingen eben davon aus: Eintreten und dann versuchen, unsere Vorstellungen da miteinzubringen, umzusetzen und zu verändern. Der Punkt war schon immer dabei: Verändern zu wollen.

Was konkret wollten Sie da verändern?

Die Offenheit, die Buntheit, die Farbigkeit im Land, die … tja, heute würde man sagen: die Demokratisierung, Meinungsäußerungen anbringen zu können, dahin wollten wir schon.

Warum haben Sie sich dann für Geschichte als Studienfach entschieden?

Weil meine Wunsch-Studienfächer nicht möglich waren und dann zur EOS-Zeit geguckt wurde, wo kommt man mit einiger Sicherheit unter und wo ist vielleicht noch ein bisschen Interesse. Dann hab ich eben angefangen, Deutsch und Geschichte auf Lehramt zu studieren. Interessiert hat mich dann besonders die Geschichte. Besonders die Zwischentöne in den Vorlesungen, die Möglichkeiten, tiefer einzutauchen und an Literatur zu kommen, die sonst nicht zugänglich war in der DDR. Eben die Zusammenhänge, der Überblick, die Möglichkeit, dann bestimmte Sachen auch weiterzugeben. 

Unterrichten vor 1990: Zwei Lehrer in zwei deutschen Staaten

Wie sah die Lehrtätigkeit vor 1990 aus? Was waren die Unterschiede zu dem Unterricht, den ich kenne?

Die Unterschiede waren gar nicht so groß. Das Referendariat ging 1,5 Jahre; man hatte Fachseminare und Hauptseminare. Und damals wie heute war es eben wichtig, dass die Schüler selber zu ihren Ergebnissen finden sollten. Aber heute ist diese Moderatorentätigkeit des Lehrers noch stärker. Die Selbstständigkeit der Schüler hat sich sehr stark gesteigert, wird auch stärker gefordert, wird aber nicht immer gemacht. Es gibt noch immer den Frontalunterricht, der auch seine Berechtigung hat, aber dann nur in kurzen Episoden im Unterricht, nicht eine ganze Stunde. Dass der Lehrer spricht und die Schüler hören zu und schreiben mit, das ist ja nicht der Unterricht, den die Schule eben bieten soll. Ich glaube, die Selbstständigkeit der Schüler, die ist sehr viel stärker geworden. Damals war es eher so, dass der Lehrer stärker steuernd war. 

Warum haben Sie sich denn für den Lehrer*innenberuf entschieden?

Es gab keine andere Möglichkeit. Ich bekam ja Bafög und das lief dann aus. Da musste ich ja irgendwie sehen, wie ich Geld verdiene, um mich zu ernähren und dann habe ich das Referendariat angefangen. Aber wie es in der Schule so wirklich zuging, das konnte ich mir nicht vorstellen. Es gab ein Praktikum, da hab‘ ich dann zugeschaut und es hat mich erstmal nicht abgeschreckt. Das fand ich ganz okay und dachte: „Da kommst du schon zurecht!“ Aber dann das Referendariat war wirklich sehr, sehr hart. Die erste Stunde habe ich, glaube ich, eine Woche lang vorbereitet. Also, das Unterrichten war mir nicht so in die Wiege gelegt und das ist ein ganz harter Job. Das hatte ich nicht so gedacht, dass es manchmal so schwierig sein könnte.

Die Unterschiede zu heute … es fängt eben im Prinzip im ganzen Bildungssystem an. Dass dieses Bildungssystem für den Sozialismus und für dieses Gesellschaftssystem strukturiert war. Wie man heute sagt: „Vom Kindergarten bis zum Studium“. Man hatte also immer einen Zusammenhang, einen Überblick und eine Ausrichtung, und die Ausrichtung war natürlich für diese Gesellschaft, denn diese Gesellschaft sollte ja entwickelt und erhalten werden. Und so wurde gebildet. Man wusste von allem die Zusammenhänge, die vorgegeben waren, und von diesen Zusammenhängen aus konnte man eben das Leben, die Geschichte und die Welt einordnen. […] Da war von Rostock bis Suhl alles gleich. Man hatte für den Unterricht Unterrichtshilfen, mit denen sehr viel gearbeitet wurde. Da war jede Stunde im Prinzip schon entwickelt. Und wenn man keine Lust hatte, etwas anderes zu machen, nahm man sich diese Unterrichtshilfen und konnte – da ja auch die Lehrbücher einheitlich waren in der gesamten DDR – nach diesen Unterrichtshilfen unterrichten, ohne dass man selbst Stunden entwickelt hat. 

Konnte. Musste aber nicht?

Musste nicht. Denn, natürlich hatte ich die Unterrichtshilfen auch, aber ich hab‘ das noch nie so richtig gekonnt, nach fremden Vorlagen zu arbeiten und hab‘ dann mit den Lehrbüchern mein Ding selbst gemacht. Da kamen dann eben bestimmte Fragen, die die Unterrichtshilfen nicht hatten – später hieß das dann problemorientierter Unterricht. Wobei vom Studium her alles ausgerichtet war auf diese systemischen Inhalte: „Der Sozialismus siegt!“, also das ist der Kernpunkt gewesen letztendlich. Da konnte man nun eben, wie schon gesagt, einfach mitmachen oder man konnte die Sachen auch ein bisschen kritisch hinterfragen und dann versuchen, die Schüler dahin zu kriegen, dass sie nicht einfach reinlaufen. Die Möglichkeiten waren im bestimmten Umfang schon da.

Vor dem Umbruch: Karrierewege bis zum Sommer 1989

Was war für Sie ausschlaggebend, dass Sie sich dann für die Schulleitertätigkeit weiterbilden lassen wollten?

Wenn man, das werden Sie auch noch merken, Ende 30 ist oder so, dann fragt man sich: „Wie, das war schon alles jetzt? Jetzt nochmal 20 Jahre das Gleiche machen?“ (lacht) Also mit 29 war ich mit dem Referendariat fertig und dann 12, 13 Jahre in der Schule – und dachte, das kann doch nicht alles sein, jetzt nur noch darauf zu warten, dass man pensioniert wird. Und dann habe ich mich diesen Prüfungen unterzogen, um Schulleiter zu werden und das mit sehr gutem Erfolg, während vorher die Examen nicht so gut, also durchschnittlich, waren. Dann habe ich mich ein oder zwei Mal im Westen beworben. Da ging es ganz knapp aus, gegen mich allerdings. Und bevor ich zum Dritten mal angetreten bin, kam ja die Wende dann.  Das hat mich auch sehr interessiert. Wenn man politisch interessiert ist, dann ist das ja irre, was da passiert. Und ich war mit der Klasse in Berlin 1990 und hab das mitbekommen, wie das pulsiert hat. Also dachte ich, vielleicht solltest du es doch mal hier versuchen.

Sie waren Parteisekretär an Ihrer damaligen Schule, wie gestaltete sich da das Verhältnis von Lehr- und politischer Tätigkeit? Gab es Probleme, weil Sie die Linie im Unterricht nicht so ganz befolgten?

Im Endeffekt war der Parteisekretär dafür verantwortlich, dass die offizielle Linie im Lehrerkollegium, im Unterricht, eben an der Schule umgesetzt wurde. Wir waren in Schwedt 40 – 50 Kollegen und davon waren vielleicht 15 Genossen. Und diese 15 Mann sollten nun der Teil sein, der den Rest des Kollegiums mitnimmt und dafür sorgt, dass die Erziehungs- und Bildungsziele, vor allem die Erziehungsziele, im Unterricht relativ störungsfrei umgesetzt werden. Also der Parteisekretär war im Prinzip der zweite führende Kopf der Schule und sprach sich mit dem Direktor in allen möglichen und unmöglichen Fragen ab. Im Kollegium waren die Probleme relativ gering. Mit der Kreisleitung gab’s dann schon Reibereien, weil in bestimmten Fragen andere Ansichten vorhanden waren. Die Kreisleitung war dann wieder dafür zuständig, die große Linie nach unten durchzudrücken und unten … also die SED war nicht so ein monolithischer Block, wie man sie sich heute vorstellt. Da waren die Parteisekretäre und alle Persönlichkeiten verschieden. Eine Vielzahl hat einfach gemacht, was erwartet wurde, ein paar haben, naja versucht, die Realität darzustellen und zu verändern. Und, ich sag‘ mal, zu der letzten Gruppe muss ich mich schon zählen. Man muss auch davon ausgehen, an dieser Schule in Schwedt war alles relativ verkrustet und brav und dann kam da so ein langhaariger in Jeans, und der wurde zum Parteisekretär gemacht. (lacht) War schon ein bisschen komisch, aber funktionierte eben.

Wie haben Sie persönlich den Sommer 1989 erlebt? Was war das für eine Zeit für Sie?

Ich kann mich gar nicht mehr genau an etwas Konkretes erinnern. Natürlich, die Nachrichten schaute man und dann sieht man das alles. Das war ja unglaublich: die Menschen in der Botschaft und der Zug, der durch die DDR in den Westen fuhr… Etwas, das man für unglaublich gehalten hatte, denn es sah ja aus wie ein gefestigtes politisches System. Dann noch die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag, man marschierte auf und dann kam aber schon diese unterschwelligen Veränderungen und die Demonstrationen und dass das dann so kippt – das hätte ich nicht gedacht. Ich war total überrascht und es waren ja fast alle, selbst die größten Experten hätten nicht damit gerechnet, dass dieses System innerhalb weniger Monate so kollabiert. Das fand ich unglaublich spannend. Was ich selber in der Zeit gemacht habe, wo ich zum Beispiel im Urlaub war im Sommer, weiß ich nicht mehr, aber, dass ich das mit riesigem Interesse verfolgt habe und das hat mich auch berührt. Das, was man gar nicht mehr für möglich gehalten hätte – die Einheit des Volkes – das zu erreichen, dass die Mauer fällt, das fand ich wirklich großartig. Da kam also dieser Gedanke auf, vielleicht nicht direkt ’89, aber dann immer stärker – 1990 ging es um die Bundeshauptstadt – da dachte ich, dass ich da irgendwie dabei sein müsste. Also nicht im Sinne: Hier kommt der Besser-Wessi – war ich ja auch gar nicht, denn ich hatte nie eine Schule geleitet – aber ich dachte: „Irgendwie muss ich! Ich geh‘ dahin, wo es spannend ist!“
Sommer ’89, hm. (überlegt) Das war eine spannende Zeit, eine verrückte Zeit, weil man ja merkte, dass irgendwie die Gärung da ist, weil wir ja auch gemerkt haben, dass viele von den Forderungen schlicht und ergreifend berechtigt waren.
Und im Sommer ’89 waren ja dann schon das ‚Neue Forum‘ und der ‚Demokratische Aufbruch‘ auch aktiv und zum Beispiel wurde an meiner Schule das Programm des ‚Neuen Forums‘ ausgehängt. Weil wir eben davon ausgingen, wenn wir eine Demokratie sind, dann gehört’s dazu, dass andere Meinungen gesagt werden können und dann muss man die anderen Meinungen auch kennen. Viele Kollegen waren ja doch verunsichert und ängstlich, die haben eigentlich diese kleine Offenheit dankbar angenommen. Ansonsten war es besorgniserregend, denn – wie gesagt, ich konnte ja schon in die Bundesrepublik fahren und hab das auch gemacht – und man sah ja, welche Gefahren da kommen, man sah ja, wohin die Entwicklung geht.
Auf jeden Fall war klar im Sommer ’89, dass sich etwas ändern muss. Die Sache verschärfte sich zum Herbst immer mehr und als Krenz dann die Nachfolge von Honecker antrat, da war eigentlich schon klar: der Weg kann’s nicht sein. Aber dafür war man zu weit unten, um da aktiv einzugreifen. Vom Sommer zum Herbst hin wurde ja dann auch der
XII. Parteitag einberufen. Da wurden also in den Grundorganisationen andere Töne angeschlagen und auch auf den Delegiertenversammlungen wurden erstmals Leute gewählt, die nicht vorbestimmt waren. […] Man wusste einfach nicht, wohin die Sache geht. Bleibt die DDR? Stabilisiert sie sich? Verändert sie sich? Oder was kommt danach? Das ist dann so im Wechsel Herbst ’89, Frühjahr ‘90, da kippte die Sache dann, dass es sehr schnell in Richtung Wiedervereinigung geht.
Ein Neuanfang: Woran orientiert man sich, wenn sich alles wandelt?

Wie kam es dann dazu, dass Sie sich auf eine Stelle im Osten beworben haben?

Ich ließ mir die Amtsblätter kommen und schlug sie auf und da waren Stellen, so viel wie man haben wollte. Also, ich hätte mich hier überall bewerben können, weil die alten Schulleiter ja abgesägt wurden und nicht mehr arbeiten durften, viele jedenfalls. Und neue Bewerber gab es anscheinend nur wenige, also hab ich mich dann hier umgeschaut. Erstmal sind wir nach Berlin geflogen von Bonn aus, haben uns ein Auto gemietet, sind durch die Mark Brandenburg gefahren und machten über Bernau und Wandlitz einen Bogen nach Brandenburg an der Havel. Und hier hat’s uns eigentlich sehr gut gefallen mit dem vielen Wasser, sodass ich mich dann eben hier beworben habe.

Was war das für ein Gefühl, in so eine unbekannte Welt zu fahren, um eine neue Stelle anzutreten?

Das war schmerzlich, gerade der Abschied. In Bonn hatte ich mir so ein kleines Auto, einen Golf, gemietet, ein paar Sachen reingepackt und bin dann losgefahren. Das war schmerzlich, meine Frau, meine Freunde und alles hinter mir zu lassen.
Also die Erwartungen, da weiß ich gar nicht, was ich mir da dachte. Es war eine neue Aufgabe, eine große Aufgabe und es war eine tolle Gelegenheit, etwas anders zu machen. Das bietet ja auch Motivation, so ein Wechsel. Ich war also sehr, sehr motiviert und habe mich sehr auf die Aufgabe gefreut. Und dann habe ich mich hingesetzt, ins Büro und dann hab ich versucht, da eben anzufangen zu arbeiten. Ich habe ja vorher ein Konzept vorgestellt in der Schulkonferenz und bin von der Schulkonferenz mit acht zu sieben Stimmen gewählt worden und der Leiter des Schulamtes musste meine Ernennung vornehmen und das hat er dann auch gemacht, auch wenn die Entscheidung für mich knapp war. Ich kannte niemanden, weder einen Kollegen noch einen Schüler noch kannte ich die Eltern. Ich war also ganz entwurzelt und das war schwer. Ich war ja auch der Einzige, der aus dem Westen an der Schule war. 

Woran haben Sie sich in den Jahren nach der Wende an der neuen Schule in ihrer Tätigkeit orientiert?

Es gab nicht so viele Vorschriften wie heute, man hatte relativ große Spielräume, obwohl ich ganz neu war. Also, manchmal wäre es besser gewesen, es wäre enger gewesen. […] Orientiert habe ich mich an meinen eigenen Vorstellungen und Erfahrungen, die ich selbst hatte. Auch mein Menschenbild, das ethische Konzept, das Wertekonzept… Das war das eine. Und das andere, wie gesagt, wenn es keine Vorschriften gibt, dann muss man seinen eigenen Weg finden. Meine Ideen habe ich in der Schulleitung abgesprochen und dann haben wir das gemacht. Wir haben direkt am Anfang dafür gesorgt, dass der Name geändert wird – die Schule hieß ja „Gymnasium Neustadt“. Das war einfach kein schöner Name, genauso wie Gymnasium 1 und 2. Dann haben wir, nach der Idee ehemaliger Schüler der Saldria , die Schule in „von Saldern-Gymnasium“ umbenannt.

Gab es auch Dinge, die Sie überrascht haben, als Sie in den Osten kamen?

Ich hatte eigentlich ein positives Bild von der DDR, gerade als ich noch jünger war, also so 18,19,20 Jahre alt. Es gab auch Geflüchtete, damals schon. Die haben mir erzählt, die Schulbildung sei hier so gut, also in der DDR. Und es gab auch den Studentenbund Spartakus, die haben auch immer getrommelt, dass es so schön in der DDR sei und das habe ich zum Teil auch erstmal geglaubt. Und ja, als ich hier hinkam, war ich ein bisschen entsetzt. Es roch schon anders, sobald man über den ehemaligen Grenzübergang Helmstedt/ Marienborn fuhr, roch es nach Braunkohle. Die Luft war schlecht hier, also ganz anders als heute, durch diese Schornsteine, die immer den Dreck in die Luft gepustet haben. Das Stahlwerk, die Wohnsituation, die Straßenbahn, die war viel älter als in Bonn und ratterte durch die Straßen – also die ganze Infrastruktur war schlechter. Alles war schwieriger und das hat mich schon ein bisschen überrascht. Ja, rückständig war es, also wirklich, ja. […] Auch die Räumlichkeiten der Schule, allein schon die Heizungen! Auch im Lehrlingsheim, diese kleine Bude, die ich da hatte, diese 20m². Da bollerte dann die Heizung nachts und die konnte man nicht abstellen. Also wirklich, das waren sehr, sehr primitive Verhältnisse, in denen ich hier zunächst lebte. Aber die Aufgabe, die war wirklich gut.

Wie sind Sie mit der Ungewissheit, die die Wende mit sich brachte im täglichen Leben umgegangen?

Man wusste ja nicht, wie mit den Lehrern umgegangen wird. Ich habe versucht, mich beruflich anders zu orientieren. Denn es war ja nicht sicher, ob man – aufgrund von Qualifikationen oder Parteizugehörigkeit oder anderen Umständen – dabeibleiben konnte. Von daher war da auch eine große Sorge, wie es weitergeht. […] 1990 kam dann die Versetzung zum Gymnasium Neustadt. Die alten Schulen wurden zerschlagen, die Kollegien auseinander genommen, wahrscheinlich um diesen Neuanfang zu unterstreichen und hier auch Veränderung so herbei zu führen. Und dann hab ich 1990 nochmal angefangen, meinen Beruf neu zu lernen für diese veränderte Gesellschaft, weil viele Sachen, die nicht möglich waren in der DDR, jetzt zwingend waren – Geschichtsbetrachtung, inhaltliche Vermittlung, die Methoden anders, der ganze Schulaufbau ist anders geworden. Und von daher, ja das war schon ein schwieriger Neuanfang. […] Jetzt kam ja die Offenheit und die Zugänge zu all diesen Sachen, die man vorher nur in Andeutungen hörte oder die man nicht wahrhaben wollte. Und die Sachen mussten ja in den Unterricht, und wenn man mit der Überzeugung groß wird „Wir arbeiten an der besseren Gesellschaft. Wir werden irgendwann mal die besseren Menschen in diese Welt entlassen.“, dann ist das natürlich sehr schmerzhaft, wenn dieser Teil, an dem man mitgewirkt hat, plötzlich für wertlos erklärt wird oder unter Aspekten gesehen wird, die man nicht wahrhaben wollte oder die man verdrängen wollte – auch in der Geschichte, zum Beispiel das Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion… Auf einmal musste man das unterrichten. Da kippt das Bild ja wirklich ins Gegenteil. Und da muss man den Mut haben, dieses Gegenteil zu begründen, und ich hab mich eigentlich nie geschämt, den Schülern zu sagen: „Ich hab’s mal anders gesehen und unterrichtet, aber durch Information und neue Quellen sehe ich das nun so.“

Wie sah die Weiterbildung aus? Haben Sie noch einmal studiert?

Naja, dieses Studium ist nicht so gemeint, dass ich irgendwo an eine Universität oder Hochschule gegangen bin, sondern dieses Studium war einfach aus der Praxis heraus. Wirklich in die andere Welt einzutauchen, in der anderen Welt zu räubern und zu lernen: Welche Sachen kannst du mitnehmen? Welche Sachen musst du mitnehmen? Also, Leben als Studium oder eher die Berufstätigkeit als Studium in der Veränderung. […] Ein Fachstudium habe ich dann nochmal gemacht für das Unterrichtsfach „Recht“, das damals auch angeboten wurde hier bei uns an der Schule. In Geschichte waren dann bloß durch die Fachberatertätigkeit die wöchentlichen Fortbildungen, wo auch fachliche Teile dazu gehörten. Und Deutsch ging dann eben auch über Fortbildungen. Die Fortbildungstätigkeit nach der Wende – also von ’91 bis etwa 2000/ 2002 – die war sehr intensiv, also in allen Bereichen, in allen Fächern. Wer sich da als Kollege neu orientieren wollte, der hatte viele Möglichkeit und, dieser Bereich ist eigentlich aus meiner Sicht von vielen Kollegen, die damit klarkamen und einen veränderten, aber guten Unterricht gemacht haben, viel genutzt worden.

Woran haben Sie sich in den Jahren nach der Wende beim Unterrichten orientiert?

Na, wir haben uns sehr schnell daran orientiert, die Möglichkeit in Anspruch zu nehmen, mit Kollegen aus den alten Bundesländern zusammenzukommen. Meine Frau ist vier Wochen, sofort ’90, nach Dortmund gefahren, dafür kam aus Dortmund ein Kollege, der bei uns gewohnt hat, ein Schulleiter. Das war natürlich sehr, sehr interessant, weil die wirklich bereit waren zu helfen, diese Veränderungen zu bewältigen, und ein Großteil dieser Leute einfach auch neugierig war, wie es bei uns gelaufen ist. So kamen die und guckten eben, wie sah der Unterricht und die Schule in der DDR aus und die fanden eben doch einige Teile, von denen sie überzeugt waren, dass die mit rüber gerettet werden sollten. Aber naja, die Politik hat dann anders entschieden und hat dann doch die Systeme vollkommen zerschlagen und mehr oder minder übernommen. Manches ist geglückt, manches nicht. Aber für mich war eben immer wichtig der Kontakt mit den Kollegen, die helfen wollten.

Wie sind denn andere Lehrer*innen mit diesem Wandel umgegangen?

Da war schon ein Teil dabei, der sich einfach gesperrt hat, der geblockt hat und der, nachdem er merkte, ihm passiert nichts, einfach weitergemacht hat, weil man sich nicht damit auseinandersetzen wollte: „Ich hab‘ ja mitgemacht!“ Also irgendwie kommt ja immer die Frage von Täter und Opfer in diese Betrachtung mit ‘rein, und wer will schon sagen, dass er im Endeffekt beides ist. Da muss man ja für sich suchen – „Warste nun mehr der Täter oder warste nun mehr Opfer?“ Und an den Fortbildungen die wertvolle Sache war, wenn man mit den Kollegen suchen und diskutieren konnte. Wir haben ja wirklich versucht, uns weiterzubilden! Und diese Weiterbildung war so gestaltet, dass jemand mit einem Impuls kommt und man diskutierte: „Wie machen wir das nun? Wie setzen wir diese Sache um? Wie kommen wir mit den Veränderungen, die uns gewissermaßen durchs Fach aufgezwungen waren, klar? Und wie bringen wir das an die Schüler?“ Da musste man ja auch damit klarkommen, dass sich das Schülerklientel veränderte, also das Lehrersein in der DDR war vollkommen anders als das Lehrersein heute. Also, der wesentliche Unterschied ist: in der DDR gab es die Vorgabe und die Erfüllung, und jetzt danach wirklich die (überlegt) Suche nach Lösungen und die Nutzung von Möglichkeiten. Und da war eben der Austausch miteinander wirklich schön und wertvoll. Und auch mit den Kollegen, das muss ich wirklich sagen, die uns als Berater berieten, die waren nie so, dass sie irgendwelche Dogmen setzten, sondern die brachten ihre Ansichten und Erfahrungen mit und die wurden in unserem Kreis diskutiert.

Ein neuer Schulleiter: Aufbruch in eine neue Zeit?

Wie wurden Sie vom Kollegium in dieser Zeit voller Umbrüche aufgenommen? Was für eine Stimmung herrschte an der Schule?

Die Stimmung war schwierig. Das Kollegium war ja neu zusammengesetzt. Die Kriterien dieser Zusammensetzung waren nicht bekannt, weder den Kollegen noch mir. Man hatte das ja absichtlich gemacht. Auch kam es vor, dass jemand von einen Tag auf den anderen nicht mehr da war, weil er eine IM-Tätigkeit vorher ausgeübt hatte, das kam dann eben peu à peu raus. Diese Fälle gab es also auch. Das führte zu einer großen Verunsicherung. Ich wurde persönlich freundlich aufgenommen, aber auch mit Argwohn und ich würde vielleicht auch sagen, mit Misstrauen beäugt. Da fragten sich die Kollegen schon: „Was will der eigentlich?“ Ich weiß auch nicht, ob ich mich dann immer richtig dargestellt habe. Es gab auch Sprachregelungen, die waren mir unbekannt. Die Sprache hier war auch ein bisschen militarisiert. Die sprachen dann zum Beispiel von „Truppenteilen“, wenn sie von Schülergruppen redeten. Das hat mich gewundert. Ich habe versucht, mein Konzept, was ich mir gedacht habe, was für die Schule gut wäre, dann durchzusetzen. Es war eben anscheinend vorher so, dass die Lehrer eben recht hatten und die Schüler hatten zu parieren. Also das riesengroße Problem der Autorität. Die Lehrer waren autoritärer, als ich das aus Schulen kannte. Es gab aber eben auch die andere Seite, die Autorität war jetzt weg, die Lehrer hatten gestern hü gesagt und jetzt sagten sie hott. Sie mussten sich umstellen, denn die Lehrpläne hatten sich geändert und das führte zu einem Vertrauensverlust bei den Schülern und zum Autoritätsverlust. Die Schüler haben das auch ausgenutzt und auch überzogen, also es gab nicht mehr diese Grenzen und die Schüler weiteten das für sich aus. Also solche Konflikte gab es. Gerade in Konfliktsituationen zeigt sich, was für ein schulisches Bildungs- und auch Staatssystem es gibt, wie man mit Leuten die Konflikte löst und damit umgeht. Ob man die Konflikte annimmt und über die Ursachen redet, oder ob man von oben den Daumen ansetzt und das durchdrückt.

Sie kamen ja gewissermaßen als Personifikation des Wandels an die Schule…

Ja, natürlich wurde es durch mich auch anders. Wenn es zum Beispiel Beschwerden von Schülern gab, dann habe ich mir das angehört und nachdem ich mit dem Schüler gesprochen habe, habe ich mich an den Lehrer gewendet und dann versucht, einen Ausgleich zu finden und nicht zu sagen: „Ich möchte das alles gar nicht hören!“ Das dauerte nicht sehr lange, sondern sprach sich bei den Schülern unglaublich schnell rum. Und dann haben sich die Schüler mehr und mehr geöffnet und das ist auch erstaunlich, gegenüber dem Schulleiter sich dann zu öffnen. Das ist geschehen und das hat mir gutgetan. Aber, man ist an der Spitze der Schule aufgrund der ganzen Umbruchsituation. Und dann hatte ich – so etwa im November ’93 – das Gefühl, ganz allein zu sein, „Es ist niemand da, der mir hilft, sondern ich muss das allein regeln.“ Tja, da muss man Rückgrat haben. […] Man musste sich ja dann auch irgendwie beweisen und das dauerte dann eine Zeit lang bis ich mich in meine Rolle reingefunden habe, denn es war auch ein Rollenwechsel vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber. Als Arbeitgeber konnte ich dann auch in der Gewerkschaft nicht mehr mitarbeiten, weil man mit den Kollegen natürlich nicht an einem Tisch sitzen kann. Ich habe auch niemanden geduzt, sondern blieb beim Sie und wollte die Distanz haben. Das ist auch so geblieben bis zu meinem Berufsende.

Wie haben Sie versucht auf den Unterricht der Lehrkräfte einzuwirken?

Ja, ich habe mir den Unterricht angeschaut. Da gab es sehr viel Frontalunterricht, es ging sehr autoritär zu, gerade auch von den älteren Lehrern. Die Schüler haben sich nicht gemuckt. (überlegt) Teilweise wurde dann zu mir gesagt: „Kommen Sie doch häufiger in den Unterricht! Der Lehrer war heute so freundlich.“ (lacht) Ja, also, ich war ja auch nicht allein als Schulleiter, sondern gemeinsam mit anderen Lehrern in der Schulleitung und zusammen haben wir das dann in die Wege geleitet. Dann haben wir immer über die Fortbildungen – es gibt ja immer drei Fortbildungstage vor dem Beginn eines Schuljahres – versucht, modernere Erziehungsaspekte anzusprechen. Das war manchmal schwierig, aber wir haben immer wieder versucht, den Kontakt zum Kollegium zu halten.

Was ist denn in den Jahren nach der Wende in der Schule passiert? Was hat sich verändert?

Da ist eigentlich wenig passiert. (überlegt) Da war eine Schulleitung, die war die Schulleitung, die hatte bestimmte Sachen umzusetzen und zu entwickeln mit uns. Da waren die Lehrer, da waren Lehrer, die fanden sich in der Veränderung. Und da waren Lehrer, die sich so viel wie möglich an dem Alten festhalten wollten. Da kam es nicht zu großen Konflikten, da machte man, auch im Fachbereich, im Endeffekt einfach nebeneinander weiter. Der Kontakt zu den Schülern, der hat sich für mich persönlich überhaupt nicht verändert. Ich hab‘ vorher mit denen diskutiert, hab’s danach gemacht. Ich hab mich vorher dafür interessiert, dass alle so gut wie möglich ihre Abschlüsse erreichen, und hab’s danach gemacht. Die Schüler waren widerständiger. Die haben sich natürlich nicht mehr alles gefallen lassen. Die haben Fragen gestellt. Die haben bestimmte Sachen nicht mehr gemacht. Und dann kommt natürlich die Problematik hinzu, dass sich die Eltern vor allem sehr gewandelt haben. In der DDR war das Verhältnis zwischen Eltern und Schule klar strukturiert hierarchisch. Wenn du in der Schule nicht klargekommen bist, dann konnte man die Eltern angehen und zur Not auch über die Betriebe. Diese Variante ist natürlich in der neuen Zeit vollkommen weggeblieben. Die Eltern haben sich nicht mehr alles von der Schule bieten lassen. Man musste sich also schon auch selbst überprüfen: in den Tätigkeiten und den Ansprachen zu den Schülern und auch im Umgang mit den Schülern. Selbst in der Bewertung musste man genauer werden, weil jetzt ja alles überprüfbar und anfechtbar wurde.

Wann haben Sie Herrn Werner kennengelernt und wie haben Sie ihn wahrgenommen? Wie ist er vom Kollegium aufgenommen worden?

Ich hab ihn kennengelernt in seinem Bewerbungsgespräch im Lehrerrat, weil ich dann schon im Lehrerrat war. Hm… Wir wollten ihn nicht. Das Kollegium der Schule wollte ihn nicht, weil er aus dem Westen kam, wir ihn nicht kannten und er sich in seiner ruhigen und damals relativ unkonkreten Art vorstellte. Die Kollegen aus NRW kamen zum Helfen und Entwickeln und gingen wieder und waren nicht unsere Vorgesetzten, die waren unsere Partner. Werner kam im schicken Mantel, relativ locker und damals für den Lehrerrat geradezu ahnungslos hier an, und so jemanden wollten wir nicht. Wir wussten ja nicht, was da wirklich dahintersteckt. In der halben Stunde kam der Mensch Werner nicht so richtig durch und wir hatten eine Alternative, einen Kollegen von uns und dann war Werner plötzlich da.
Wie gesagt, wir wollten Hanswalter Werner nicht haben, weil er sein Programm nicht rüberbringen konnte und sicherlich spielte da auch der Punkt eine Rolle, dass er aus dem Westen kam – „Was wollen die hier?“ Er ist ja dann durch die Entscheidung des Schulamtes an den Posten gekommen und wir haben uns mit unseren Vorstellungen nicht durchsetzen können. Und da ich im Lehrerrat war, mussten wir mit dem neuen Schulleiter zusammenarbeiten, und wir, oder ich, hab dann relativ schnell begriffen, dass der Mann nicht von der verkehrten Sorte ist. Er war zugänglich, er war entwicklungsfähig, hatte Ideen und Spaß an der Arbeit – Spaß an der Entscheidung nicht immer so – aber unter ihm entwickelte sich sehr schnell ein angenehmes Arbeiten. Herr Werner ist wahrscheinlich mit der Muttermilch Demokrat und diese Eigenschaft des demokratischen Lebens und Handelns, die hat er wirklich an diese Schule versucht zu bringen. Er hat es bei einigen geschafft, die diesen Weg dann mitgingen. Bei anderen hat er es nicht geschafft, weil ihm dann vorgeworfen wurde: „Der trifft ja keine Entscheidungen, der labert immer nur!“ Das ist eben der Unterschied zur DDR, inwieweit man das verinnerlicht hatte und mitmachte, dass alles immer ein Ziel haben sollte.

Gestern wie heute: Dürfen Lehrer*innen politisch sein?

Wie ich es verstanden habe, haben Sie versucht, sich über das politische Engagement das Rückgrat zu stärken in ihrer Anfangszeit im Osten. Ist das richtig?

Ja, das habe ich mir so gedacht: „Alleine könnte es sein, dass du es nicht schaffst, wenn dir hier die Tretminen ausgelegt werden.“ – also im übertragenden Sinne. Also habe ich mich in der Politik engagiert, ich war ja Mitglied in der SPD. Und am 1. Mai traf ich den Oberbürgermeister, der gesagt hat: „Komm‘ doch mit!“ Und dann stand ich auf der Liste für die Stadtverordnetenversammlung und habe kandidiert. Ich wurde nicht gewählt, mich kannte ja auch keiner und ich stand weit hinten auf der Liste, aber vor mir auf der Liste waren mehrere Leute, die wegen ihrer IM-Tätigkeit ausscheiden mussten, sodass ich dann plötzlich da rein gerutscht bin. (lacht) Das war schon witzig. Also, und dieses IM-Thema ist ja bis heute aktuell. Ich glaube, das war das allerschlimmste, was durch die Stasi etabliert wurde, dass das Vertrauen verloren ging. Das Misstrauen. Und das spürte ich, man hat mir misstraut. Das war so eine Grundhaltung: „Was könnte der machen? Was könnte mir jetzt passieren?“. […] Das dauerte ziemlich lange und das ist zum Teil auch noch geblieben. Das geht nicht so schnell. Nehmen wir das Beispiel mit der Mauer: Man fährt da ran und karrt sie weg, aber die Mauer in den Köpfen bleibt viel länger.

Sie waren gemeinsam mit Herrn Richter in der AG Bildung innerhalb der SPD tätig und haben versucht, auch über die Schule hinausgehend Veränderungen zu bewirken.

Das war aber nur sehr kurz. Im Jahr ’93 war das, aber ’94 habe ich das dann schon nicht mehr fortgeführt. Genauso wie das Thema mit der Schulleitung und der Politik. Ich war ja Stadtverordneter und das hat sich einfach zeitlich ausgeschlossen. Das war eine zu starke Beanspruchung in der Schule und es gibt ja Schulleiter, die sind nur ganz selten in der Schule und sagen dann Tschüss und machen was Anderes. Das ging für mich nicht, sondern ich habe mich für diesen Weg der Schulleitung entschieden. Das war gut so. Weil es so viel zu tun gab, es war eine 50,60-Stunden Woche manchmal. Und am wichtigsten ist wirklich der Kontakt zu den Kollegen, zu den Schülern zwar auch, aber vor allem die Kollegen. Dass man mit den Kollegen im Gespräch bleibt, und nicht über den Urlaub redet, sondern dass man mit ihnen über ihre Arbeit spricht. Dafür muss man sie besuchen und da muss man sagen, was man möchte und mit ihnen den Unterricht auswerten und Protokolle schreiben… also sehr, sehr intensiv. Aber so habe ich das gemacht, auch mit den anderen aus der Schulleitung zusammen und das war gut, wirklich gut. Man kannte die Leute und sie öffneten sich dann auch und man konnte sagen was man von ihnen erwartet und was sie selber auch erwarten, eine sehr intensive kommunikative Sache.

Wie sah Ihre Beziehung zu Herrn Werner dann aus? Sie waren ja auch gemeinsam politisch aktiv…

Wir hatten natürlich Meinungsverschiedenheiten, wir haben uns gestritten, aber: wir waren beide in der gleichen Partei und versuchten damals über die Arbeitsgemeinschaft Bildung in der SPD schulische Entwicklungen im Land Brandenburg mitzugestalten. Wir sind also viele Wochenenden unterwegs gewesen, z.B. in Potsdam, um uns mit anderen SPD’lern und dem Ministerium darüber zu verständigen, wie Schule gemacht und entwickelt werden sollte. Da haben wir also versucht, unsere Ideen einzubringen in dem irrigen Glauben, dass die Basis mitgestalten kann. Da ist dann doch mehr diese hierarchische Ordnung von oben nach unten durchgekommen – ein Referatsleiter hat den famosen Satz geprägt „Oben sticht unten.“ Und so hat er auch gearbeitet und gehandelt, und da war dann wieder diese Aussichtslosigkeit, die dann ‘96 dazu führte, dass wir die Partei verlassen haben, also meine Frau und ich, Herr Werner ist ja bis heute noch dabei. 

Was wollten Sie denn verändern?

Na, wir wollten im Prinzip ein Engagement für die Schule entwickeln, damit an dieser Schule Leute ausgebildet werden, die wir in Ruhe mit Berechtigung, also mit einem guten Gefühl, ins Leben entlassen können. Dazu wollten wir also eigentlich die Möglichkeit entwickeln, dass die Kollegen sich genau daran beteiligen können. Also, dass ihre Ideen, wenn sie im Rahmen waren, mit umgesetzt werden konnten. Dass man eine Schule nach seinen Vorstellungen im großen Rahmen wirklich selbst entwickeln konnte. Aber dazu hätte in allen Bereichen eine wirkliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit da sein müssen, und die ist eben doch hin und wieder an der Individualität der Leute gescheitert. Dass eben ein Teil sagte: „Ich kann jetzt machen, wie ich will, und ich mache, wie ich will. Solange ich nicht gegen irgendwelche Regeln verstoße, lasst mich in Ruhe!“ Diesen Punkt konnten wir nicht aufknacken, aber naja, selbst ist man ja klargekommen. 

Alles auf Anfang: Unterrichten nach der Wende

Wie sah denn in Ihrer Anfangszeit Ihr eigener Unterricht aus? Was war Ihnen wichtig den Schülerinnen und Schülern mitzugeben, vor allem in Ihrem dritten Unterrichtsfach „Politische Bildung“? Und wie hat sich Ihr Unterricht dann verändert im Osten?

Wichtig ist ja, dann zu einem eigenen Urteil zu kommen als Schüler, dass man eben durch die Diskussionen und die Veranschaulichung verschiedener Theorien und Perspektiven zu einer eigenen Meinung kommt. Und das waren die Schüler nicht gewohnt. Die waren eher gewohnt, dass man ihnen sagt „So is‘ es!“ und waren eher das faktische Unterrichten gewohnt, wenig problemorientiert. So habe ich das empfunden. […] Ich meine, Unterricht ist Unterricht und ich habe mich da ja auch nicht so sehr verändern müssen, das war bei mir eigentlich nicht wirklich ein Bruch. Also, es war ein geografischer Bruch, klar, aber von der Art und Weise wie ich unterrichtet habe und was ich vertreten habe, da musste ich mich nicht so sehr verändern.

Schlug Ihnen denn von den Schüler*innen auch so ein Misstrauen entgegen wie von den Lehrer*innen?

Nee, das kann ich eigentlich nicht sagen, das habe ich nicht so empfunden. Die Schüler sind eben Schüler und wer dann da kommt, das hat für die Schüler nicht so eine große Bedeutung. Mit den Kollegen war es viel schwieriger. Auch mit den Eltern war es nicht schwierig, also die waren sehr offen. Die Eltern und Schüler waren weiter als die Lehrer. (lacht) Es waren ja auch sehr gute Schüler – das ist auch noch etwas, das ich unbedingt sagen muss: 12% eines Jahrgangs sind zu DDR Zeiten zur EOS gegangen und haben das Abitur gemacht und innerhalb von wenigen Jahren steigerte sich das auf 36%. Also eine unglaubliche Ausschöpfung von Ressourcen, die sich die DDR durch die Finger gehen lassen hat. Die Leute waren ja gleich klug geblieben und sind nicht irgendwie schlauer geworden, also das fand ich dann sehr gut.

Wie hat sich Ihr Unterricht mit den Erfahrungen der Wende verändert?

In meinem Unterricht ist schon eine starke Veränderung eingetreten durch die Multiperspektivität, dass also nicht nur eine Richtung vorgegeben wird, sondern, dass ich immer versuche, die Problematik und die Offenheit, also die verschiedenen Lösungen mit anzubieten und den Schülern den Raum lasse, sich selbst zu entscheiden. Da kann ich eine Episode erzählen: Eine Schülerin stritt sich mit mir zwei Blöcke lang. Das war im Prinzip fast ein Dialog in dem Unterricht. Zum Ende sagte ich dann einfach: „Tut mir leid, jetzt kriegst du 15 Punkte.“ Da guckte sie ganz erstaunt und fragte: „Wieso? Ich hab doch eine ganz andere Meinung als Sie vertreten?“, und ich sagte: „Na, und gerade deshalb kriegst du die 15 Punkte, weil du es so geschickt und perfekt gemacht hast. Wir sind zwar immer noch nicht einer Meinung, aber du kannst argumentieren und die Möglichkeit, dass es so richtig ist, wie du es siehst, die ist ja gegeben.“ Das ist vielleicht so eine Grundveränderung in meinem Unterricht, dass zum einen diese Möglichkeit besteht, dass man diese verschiedenen Ansätze entwickelt und diskutiert, und zum anderen, dass die Schüler diese Möglichkeiten auch nutzen und von mir auch darauf hingewiesen werden, wenn das der Fall ist, dass wir uns gerade nur eine Variante der Geschichte anschauen und dass andere Sichten darauf auch möglich sind.

Die DDR ist jetzt Geschichte: Was bleibt im Unterricht?

Und wie war es, nun plötzlich ein neues Kapitel der deutschen Geschichte zu unterrichten – also die DDR-Geschichte?

Das war jetzt gar nicht so ein großer Teil. Es ist ja immer so, dass das was einem sehr nah ist, sehr wenig im Unterricht behandelt wird. Es ist immer so, dass sie ein bisschen hinter der Gesellschaft und ihren Entwicklungen hinterherhinkt, die Schule. Deswegen war die DDR im Unterricht gar kein so großes Thema. 

Aber ist genau das nicht sehr spannend, im Politikunterricht über einen Staat zu reden, in dem die Leute aufgewachsen sind und der jetzt Vergangenheit ist – wie beurteilt man dann diese Zeit und wie vermittelt man das den Schülerinnen und Schülern?

Ja, dann gab es ja diesen Begriff des Unrechtsstaates , aber man musste aber wirklich aufpassen, wie man das politische System beurteilt und wie der Einzelne das in seiner Biografie erlebt. Das sind ja Schüler, die auf dem Schulhof waren, sich gefreut und zusammen Fußball gespielt haben, dann kann man sie schlecht für die Stasi verantwortlich machen und so und sie mit in Haftung nehmen, sondern damit muss man differenziert umgehen oder sich ein bisschen zurückhalten.

Was meinen Sie, worauf kommt es an, wenn man DDR-Geschichte hier vor Ort vermitteln möchte?

Ich weiß nicht, ob Sie den Film F – wie Freiheit kennen, den haben wir zusammen gemacht mit einem professionellen Regisseur über eine Schülerin, die an der EOS „Goethe-Schule“ war. Wir haben den Film auch hier im Theater gezeigt, da waren 400 oder 500 Menschen da, auch Eltern, die sich auch an diese Zeit erinnerten. Und das finde ich sehr wichtig, damit kann man Geschichte besser vermitteln, als wenn man das nur anhand von Strukturen macht. An diesen Einzelschicksalen, die dann eingebettet in den historischen Hintergrund sind. Und, die beiden deutschen Staaten sind schon ein wichtiges Thema gewesen, aber die Projekte sind da vor allem die Möglichkeit, Dinge zu behandeln, für die im Unterricht die Zeit fehlt. Und, was auch ganz wichtig ist, dass Schüler aus der Schule heraus, zu gewissen Tagen, Gedenktagen, wie zum Beispiel am 27. Januar oder am Volkstrauertag, raus gehen, mitgehen zu den Gedenktagen und dort etwas sagen. Das habe ich in der Schule als wichtig empfunden, das ist auch gelungen und jetzt, ist das abgeebbt – das finde ich schade. Dazu sollte Schule doch anregen. Mit dem alten Spruch – Non scholae, sed vitae discimus – und die Verbindung zwischen Schule, dem Unterricht, dem Klassenraum und dem was draußen um einen herum geschieht, die sollte die Schule herstellen. 

Sie haben auch an der Erstellung eines Lehrbuchs mitgewirkt und haben also einen Teil der Geschichte, den Sie selbst miterlebt haben, versucht, in ein Lehrbuch zu verpacken. Worauf haben Sie da geachtet? Was war Ihnen bei der Darstellung wichtig? 

Wichtig war mir, die eigene Erfahrung mit einzubringen und nicht nur die Standards darzustellen: DDR – böse, Bundesrepublik – gut. Ich hab‘s ja mit einem Kollegen aus der Bundesrepublik zusammen gemacht, also unser Kapitel zur Geschichte der beiden deutschen Staaten nach ’45. Wir haben sehr eng zusammengearbeitet und unsere verschiedenen Ansichten ausgetauscht, und ich denke, dass die Darstellung zwar sehr kurz geworden ist, aber anders als das sonst üblich war, weil wir versucht haben, uns im Wesentlichen an Fakten zu orientieren: Wie war das Leben in der DDR? Wie funktionierte es? Wo ist eben deutlich gewesen, dass es so nicht funktionieren kann? Diese Gedanken mussten dann immer dem anderen Kollegen verdeutlicht werden, weil seine Ansicht aus seiner Welt mit in das Kapitel passen musste. […] Auch hier war es so, dass das Team des Lehrbuchs auf Augenhöhe zusammengearbeitet hat. Wir haben immer lange diskutiert, an den Wochenenden. Das war spannend, weil man sich mit seinen Ansichten den anderen gegenüber zur Wehr setzen musste und sie begründen und erklären musste. Da kam eben auch manchmal raus: „Na, das musst du dir doch nochmal anschauen, da warst du selbst nicht auf dem richtigen Weg.“ Aber andererseits haben die auch viel davon profitieren können, dass jemand aus dem anderen System dabei war, denn auch Lehrer in der Bundesrepublik hatten ja eigentlich keinen Kontakt zum Leben in der DDR.

Wie hat sich denn die Art wie Sie die DDR-Zeit unterrichtet haben über die Jahre verändert? 

Zum Beispiel, wenn es Wissenszuwachs gibt, den versuche ich im Unterricht einzubringen, sodass die Schüler davon auch profitieren können. Für mich ist nach wie vor, das muss ich jetzt nochmal sagen, immer die Frage der Doppelrolle von Täter und Opfer wichtig. Die spielt in meinem Unterricht, gerade weil ich Parteisekretär war bis zum Schluss, eine große Rolle und führt auch immer wieder zur Auseinandersetzung mit mir selbst. Und das gibt den Schülern immer die Möglichkeit zu bewerten: „Wie kann so ein Mensch also in zwei Systemen die selbe Rolle machen? Da muss ja irgendwo ein Unterschied sein, sonst würde das ja nicht mehr funktionieren.“ Und wenn dann jemand von den Schülern zu der Erkenntnis kommt, dass es ähnlich sei wie ’45 – naja, dass muss er für sich begreifen und begründen können.

Kann der Geschichtsunterricht denn in diese Themen, zum Beispiel bei der Frage nach Systemkontinuitäten, überhaupt inhaltlich so in die Tiefe gehen?

Ich würde mir von der offiziellen Seite und von den Plänen wünschen, dass es so tief geht. Aber schon allein das Stundenvolumen und die Stofffülle geben das überhaupt nicht her. Bei mir wird es nur über die persönlichen Dokumente versucht, wo dann eben deutlich wird, dass man nicht alles zerschlagen wollte, sondern, dass man hingewiesen hat, hier funktioniert eine Sache absolut nicht und die muss anders gemacht werden. Ja, da ist man dann natürlich, weil es nicht passierte, auch in der Opferrolle, das sehen Schüler schon, aber man kommt nicht so tief rein. Da müsste man wirklich ein Schuljahr mit fünf Wochenstunden Geschichte haben, wo man intensiv an den verschiedenen Sachen arbeiten kann, um den Schülern zu ermöglichen, sich wirklich ein fundiertes Urteil zu bilden. Die Zeit haben wir offiziell nicht und wir haben auch einen Teil Kollegen, die sich damit einfach nicht auseinandersetzen wollen. Das ist bis heute so.

Der*die Lehrer*in als Zeitzeug*in: Wie viel Persönliches darf in den Unterricht?

Wie geht man als Lehrer*in damit um, in einer Doppelrolle zu sein: als Zeitzeug*in und als Lehrkraft? Wie viel Persönliches haben Sie in den Unterricht getragen?

Das weiß ich jetzt gar nicht genau. (überlegt) Als Zeitzeuge hat man natürlich… es fällt einem vielleicht ein bisschen schwerer, diese verschiedenen Perspektiven abzubilden. Ein Unterrichtsstoff, der abgeschlossen ist, damit kann ich ja viel, viel einfacher umgehen, als wenn es jetzt Teil meines eigenen Lebens ist. Aber durch das eigene Erleben – vielleicht kann man es dadurch ein bisschen spannender machen und es ist ja auch ein anderes Wissen, das man da hat, als wenn man etwas nur aus Büchern weiß. Das ist dann ein Vorteil. Also es hat Vor- und Nachteile, denke ich mir.

Aber persönliche Dinge aus Ihrem Leben, die haben Sie nicht in den Unterricht getragen?

Weniger, nein, das habe ich weniger gemacht. Als ich damals in Bonn Englisch unterrichtet habe, da wollte ich den Schülern den Unterricht lebendig machen und spielte ihnen Lieder von Bob Dylan vor, die ich selbst so gut fand. Die Schüler hat das gar nicht interessiert. Die kannten den kaum und ich war voller Euphorie – die Schüler leben ja in einer anderen Welt und das muss man immer berücksichtigen. Natürlich, wir hatten auch Lehrer, wenn man die antippte und ein Stichwort sagte, dann fingen die an und erzählten aus ihrer Biographie – das habe ich nicht gemacht.

Gerade wenn man über die DDR im Unterricht spricht, hatten Sie vielleicht ja auch das Glück, nicht persönlich Stellung beziehen zu müssen, wohingegen das bei anderen Lehrkräften passieren musste. 

Das stimmt. Ich war frei davon, weil ich es nicht erlebt hatte und ich musste mich nicht positionieren. Ich war aber im Westen immer auch schon ein aufrührerischer Mensch. Solche Großorganisationen erfüllen mich immer mit einem gewissen Stachel, sei es jetzt die Universität, sei es die Schule, in der Schule wurde das radikal unterdrückt, als ich Schüler war, oder bei der Bundeswehr. Man kann da auch viel Blödsinn machen, solche Großorganisationen kann man leicht durcheinanderbringen, das habe ich schon gerne gemacht. Auch in der Universität und später, da war ich als Referendar im Lehrerrat und da hat es mir auch Spaß gemacht, ein bisschen Unruhe rein zu bringen. Ich habe nie so aufgenommen, was gesagt wurde, sondern immer alles hinterfragt. Das ist eine gute Haltung, damit man sich nichts vormachen lässt von Autoritäten. Die gibt’s ja überall.

Eigentlich alles, weil ich ja den Unterricht mache. Gerade wenn wir die Zeit des Umbruchs im Unterricht behandeln müssen, nehme ich meine persönlichen Unterlagen mit. Die Schüler lesen meine Stasi-Akte und sehen mein Parteibuch, meinen Reisepass und können mich dann fast alles fragen. Sie können es auch ablehnen. Natürlich, da kann und will ich nicht trennen, aber wichtig ist sicherlich dabei, dass von mir aus die DDR-Zeit kritisch hinterfragt wird, aber dass diese Kritik auch auf die neue Zeit mitgenommen wird. Welche Möglichkeiten bieten sich denn? Wo sind positive Veränderungen und wo muss man sagen – oder wo sage ich – das läuft schief. Also diese Offenheit ist im Unterricht da.  

Sie haben gerade gesagt, dass Sie im Unterricht auch Ihre eigenen Unterlagen zeigen. Wie reagieren da die Schülerinnen und Schüler?

Oh ja, die gucken schon. Und wenn sie allein über die Passbilder lachen. (lacht) Also, da gucken sie schon genauer hin, genauso beim Reisepass. Das ist ja für die jungen Leute heute unvorstellbar, dass man ohne so ein Ding und Erlaubnisse und Visa und Anträge nicht raus kam. Und auch, dass nicht jeder so einen Pass hatte. Da gucken sie schon genau, auch in die Briefe. In den Stasi-Unterlagen sind ja zum Teil persönliche Briefe an Freunde und ehemalige Freunde drin. Die lesen sie schon mit großem Interesse und sind dann schon sprachlos, mit welchen Nichtigkeiten und mit welchem Mist man sich auseinandersetzen musste und welche Teile davon für die Staatssicherheit interessant waren.

Vorhin haben Sie von der Täter-Opfer-Problematik gesprochen. Wenn Sie Ihre Stasi-Unterlagen mitbringen, bringen Sie ja dann schon die Opferperspektive mit in den Unterricht, oder nicht? Wie stellen Sie da Ihre persönliche Zweischneidigkeit dar?

Natürlich gehe ich damit offen um. Ein Parteisekretär war ja nicht dazu da, den Staat umzukrempeln, sondern den Staat stabil zu halten. Schon allein durch die Funktion wird den Schülern das klar, weil ich mich ja auch nie als Widerstandskämpfer darstelle. Im Endeffekt hat ja ein Teil meines Handelns zum Erhalt dieses Staates beigetragen und damit ist die Täterperspektive klar – da muss man nicht mehr viele Worte drüber verlieren. Man hat es so gemacht. Wenn man die Berichte sieht, die so ein Parteisekretär schreiben muss … natürlich waren meine Berichte anders als die von vielen anderen Parteisekretären, aber trotzdem hat man berichtet. Nun wird man da nicht feststellen können, dass durch meine Berichte jemandem persönlich geschadet wurde, aber im Endeffekt, wenn man es heute interpretiert, hat es natürlich geschadet. […] Ja, ich denke, die Sache wird schon klar.
Die Opferperspektive, die kriegt man auch mit, aber andererseits konnte so ein Parteisekretär natürlich in konkreten Situationen auch Menschen und Kollegen helfen und deshalb war ich trotzdem nicht der Widerstandskämpfer. Den Punkt mache ich den Schülern wirklich immer wieder deutlich, denn sie sollen ja begreifen, dass sie sich in ihrem Leben engagieren sollen und dass man sehr schnell in die Rolle eines Täters kommt, auch wenn man das nicht so sieht und wahrhaben will.

Ein Leben als Lehrer*in: Was ist von der DDR geblieben?

Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?

Ich denke, dass relativ viel geblieben ist und je älter man ist, desto mehr ist wahrscheinlich auch geblieben. Und bei den jüngeren, die ja auch in die ganze Welt strömen, bei denen ist die DDR natürlich weniger präsent, als bei denen, die hiergeblieben sind und verbittert sind. Eine große Verbitterung ist da, bei denjenigen, die den Arbeitsplatz verloren haben, bei denjenigen, denen wegen ihrer Tätigkeit bei der Stasi die Rente gekürzt wurde, pauschal um 50%, und das spürt man auch. Nicht umsonst ist ja hier auch die AfD so stark: Die politischen Institutionen werden nicht so geschätzt; der Staat, von dem erwartet man mehr, als er leisten kann und manchmal auch leisten will. Das ist wohl auch ein Erbe der DDR, denke ich mir, diese instabile politische Situation, in der wir jetzt leben. Die Menschen fühlen sich nicht anerkannt. Entwertungsprozesse sind auch abgelaufen, die Treuhand hat hier ja vieles angerichtet, sage ich mal. Da reicht es ja schon, sich den Sozialatlas der Stadt Brandenburg anzuschauen, dann sieht man, welche Probleme es da gibt.

Sie sind seit 10 Jahren in Rente und unterrichten immer noch, wenn auch eher als Hobby und an einer anderen Schule. Dabei war das Unterrichten nach Ihrem Studium ja eigentlich nur eine Notlösung… (lacht)

Das stimmt, ich wollte schon vor zwei Jahren aufhören und jetzt wurde ich wieder gefragt, ob ich das nicht weitermachen könnte. Ich find’s aber auch unglaublich interessant, weil es nicht nur um Wissensvermittlung geht, sondern auch um eine Wertevermittlung. Da gibt es schon Herausforderungen für die Lehrer und das macht mir aber auch Spaß mit den Schülern über alles zu diskutieren. Deshalb mache ich das, auch wenn ich nicht weiß, wie lang ich noch dabeibleibe.

Haben Sie es je bereut, hier her gegangen zu sein?

Naja, nach diesem halben Jahr. Danach eigentlich nicht mehr, nein. Das kann ich nicht sagen, nein, im Gegenteil: Ich finde es toll hier und das merkt man auch. Wenn man das ausstrahlt, das kommt an bei anderen, bei Schülern, bei Eltern, bei Lehrern. Dass man eben nicht der auf Abruf ist, oder der Wessi, der hier seine goldene Nase verdienen will, sondern dass man sich hier eben richtig verwurzelt und dass man hier arbeiten will.  […] Ja, das war wirklich eine ganz gute und wichtig Entscheidung. Ich würde das alles so wieder machen, ich würde es nochmal machen. Aber es ist auch so, dass ich eine emotionale Trennung vollzogen habe. Ich bin neulich über den Schulhof gegangen und es war nicht so, dass ich gedacht habe: „Ach wärst du doch nochmal hier!“ Es ist vorbei und das ist eigentlich auch gut so.

Wenn wir jetzt mal ein Resümee ziehen – Sie stehen jetzt 11 Tage vor Ihrer Rente – bedeutete die Wende für Sie nicht auch, dass Sie sich in Ihrem Lehrer-sein auch immer weiterentwickelt haben? Das war schon ein Glück, oder?

Also, die Frage stellt sich für meine Familie eigentlich nicht, wir sehen diesen Umbruch als wirkliches Glück und eine Chance, aber auch, weil wir im alten System auf der Sonnenseite saßen und im neuen System schon wieder. Wir haben weder materielle Not, wir haben Glück mit unseren Kindern, die alle Arbeit haben und in dieser Gesellschaft angekommen sind, also … (überlegt) es war eine Chance, wirklich nochmal neu anzufangen und wirklich einen anderen und besseren Weg zu gehen. Bei allen Krankheiten und Mängeln, die dieses System hat. Die Chance war günstig. 

Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?

Letztendlich sind 16,5 Millionen Menschen geblieben und Erfahrungen, die man nur in diesem System machen konnte. Die man beschönigen kann, die man kritisch betrachten kann, mit deren Hilfe man sein Leben neu und anders und besser gestalten konnte. Die Nostalgie der DDR ist für mich in vielen Fragen unverständlich, denn wie gesagt, dieses System hatte zwar einen äußeren Anspruch, aber die Wirklichkeit, die jetzt schon wieder verdrängt wird, die war eben eine andere. Aber eigentlich, außer der sozialen Sicherheit, die aber auch nur vorgespielt war, eigentlich war an diesem Staat wenig gut. Aber aus diesem alten Leben konnte ich sehr viel mitnehmen für diese neue Gesellschaft und mein zweites Leben. Das habe ich dann eben doch ein bisschen anders gestaltet, weil es den riesigen Vorteil gibt – ob man nun gehört wird oder nicht – man kann hier erstmal an jeder Stelle alles sagen und dafür wird man nicht bestraft. Und manchmal hat man eben doch den Eindruck, dass die Meinung doch irgendwie gehört wird und dass sich dann doch Dinge anders entwickeln. Also ein Bereuen dieser Veränderungen, das vielleicht am Anfang noch da war, weil man ja doch einen Lebensabschnitt zurücklassen musste und kritisch hinterfragen muss, ein Bereuen ist nicht da. Das ist schon ein Glück, das so erleben zu können. 

Beide Gespräche wurden im Januar 2019 geführt. Für die Vergleichbarkeit wurde die Reihenfolge der Fragen angepasst und die Antworten gekürzt. Größere Auslassungen sind im Text markiert.

Bildnachweis Titelbild: von Saldern-Gymnasium in Brandenburg an der Havel, Foto: Privat.

Zum Thema weiterlesen:
Bernd Martens: Wende in den Schulen in: Dossier: Lange Wege der Deutschen Einheit, Bundeszentrale für politische Bildung.
Ulrich Arnswald et. al.: DDR-Geschichte im Unterricht. Schulbuchanalyse – Schülerbefragung – Modellcurriculum, Berlin 2006.