Zeitzeugen – Was ist geblieben? http://was-ist-geblieben.de Geschichten von Menschen und Dingen drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR Fri, 01 Nov 2019 21:38:39 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 Unsichtbare Mauergeschichten http://was-ist-geblieben.de/unsichtbare-mauergeschichten/ Tue, 05 Feb 2019 07:54:10 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=135 Was von der DDR bleibt? Die Geschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen!

Ein Beitrag von Jona Schapira und Tuba Arıkan

Anwohner*innen der Grenzhäuser an der Sebastianstraße, 10. August 1978
Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski

Den Verlauf der Berliner Mauer kann man heute durch eine Doppelpflastersteinreihe, die in die Berliner Straßen gelassen wurde, nachvollziehen. Schaut man vom Straßenboden wieder nach oben, wird im Westteil der Stadt erkennbar, wie nah die Mauer an den Wohnhäusern stand. Im West-Stadtbezirk Kreuzberg wohnten in diesen Häusern oft die Familien und Nachkommen der sogenannten türkischen Gastarbeiter. Sie etablierten ein spezifisches Lebensgefühl, welches die Berliner West-Bezirke nachhaltig prägen sollte.

Die Geschichte der Berliner Mauer und der Berliner Deutsch-Türk*innen ist, so zeigt bereits das Beispiel, eng miteinander verzahnt. In der deutschen Erinnerungskultur spiegelt sich das jedoch nicht wider.

Am 31.Oktober 1961, nur zwei Monate nach dem Mauerbau, schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Man wollte durch Arbeitsmigration den Verlust der Arbeitskräfte aus Ostdeutschland ausgleichen. Einige der „Gastarbeiter“ gingen nach ihrem Arbeitsaufenthalt zurück in ihre Herkunftsländer, andere blieben in Westdeutschland. Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wurde ein Wendepunkt für die Deutsch-Türk*innen eingeleitet – Grenzen der Zugehörigkeit wurden neu definiert. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre inkludierte Ostdeutsche als „ethnische Deutsche“ und exkludierte Immigrant*innen als das „Andere“. Im kollektiven Gedächtnis der Deutsch-Türk*innen verbreitete sich die Gewissheit, dass sie niemals „dazugehören“ würden. Die Beziehung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Migrant*innen erlebte eine Zäsur, die ihren erschütternden Höhepunkt in den Pogromen der 1990er-Jahre fand.


Der Dokumentarfilm „Paranthesis“

Mehmet Ercan drehte im Zeitraum von 2009 bis 2011 den Dokumentarfilm „Parenthesis“. Der Film entstand im Zusammenhang mit seiner Masterarbeit „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“ im Fach Turkologie an der Freien Universität Berlin. In seiner Dokumentation zeigt Mehmet Ercan die Mauergeschichten von 13 Zeitzeug*innen. Die erzählten Geschichten sind so verschieden, wie die Zeitzeug*innen selbst. Was sie alle eint, sind ihre deutsch-türkischen Biografien.

Exemplarisch werden hier die Geschichten von Kadriye Taşcı, Hasan Toğrulca, Emine Koçyiğit und Bekir Kılıç gezeigt. Die Filmausschnitte sollen dazu beitragen, die Mauergeschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen innerhalb der deutschen Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Was von der DDR bleibt? Die Geschichte der Berliner Deutsch-Türk*innen!

Vier unsichtbare Mauergeschichten -- Filmausschnitte

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„Ich war Mitglied der kommunistischen Partei in der Türkei. […] Es ist nicht nur der Fall einer Mauer, sondern eines ganzen Regimes. Viele Fragen befanden sich in der Schwebe. Was wird mit uns passieren, mit der Partei, mit dem sozialistischen Regime?“ Kadriye Taşcı

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„Die Berliner Mauer habe ich 1979 kennengelernt. […] Ich landete am Flughafen Schönefeld (Ostberlin). Ich wartete stundenlang. […] Nach zwei Stunden haben sie mich in einen Bus gesteckt. Als wir an der Grenze ankamen, dachte ich, sie bringen mich ins Gefängnis. […]“ Hasan Toğrulca

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„Wir wohnten an der Köpenicker Straße in Kreuzberg. […] Meine Eltern warnten uns vor dem Kanal. Sie sagten, wenn wir reinfallen sollten, könne uns niemand retten. […] Tatsächlich patrouillierten Grenzboote im Wasser mit Grenzsoldaten, die schossen, sodass keiner helfen konnte.“ Emine Koçyiğit

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„»Warum darf Peter in der ersten Mannschaft spielen und ich nicht«, fragte ich. Weißt du, was der Mann antwortete? Er sagte: »Du bist Türke, er ist Deutscher. Eines Tages wirst du vielleicht gehen. Er ist hingegen Deutscher. Er gehört zu uns. Er wird hier bleiben.«“ Bekir Kılıç


Interview mit dem Filmemacher Mehmet Ercan

Bitte stell dich kurz vor!

Ercan: Mein Name ist Mehmet Ercan. Ich beschäftige mich mit Film und Anthropologie und bin immer noch Doktorand an der Freien Universität Berlin.

Erzähl uns von deinem deutschen Abenteuer! [Diese Frage stellte Mehmet Ercan bei seinen Dreharbeiten zu „Paranthesis“ immer als Eingangsfrage.]

Ercan: Ich bin seit ungefähr 14 Jahren in Deutschland. Ich war am Anfang nur für einen einjährigen Sprachkurs gekommen und genau wie die im Ausländerbüro erteilten Jahresgenehmigungen, wurde mein Abenteuer auch Jahr für Jahr fortgesetzt.

Wieso war das Thema deines Films für dich wichtig?

Ercan: Um ehrlich zu sein erinnere ich mich nicht wirklich, warum ich mich für das Thema entschieden habe. Wie du sagst, es sind schon 10 Jahre her. Wir sind ja in 2019. Also es war ja im Jahr 2009, 20. Jahrestag der Fall der Berliner Mauer. Damals musste ich wohl ein Thema für die Master-Thesis finden, hatte aber kein Budget für ein anderes Filmprojekt. Deshalb habe ich das gewählt, nehme ich an.

Welche Bedeutung hatte es für dich als Türke in Deutschland, Deutsch-Türk*innen zu interviewen?

Ercan: Das Befragen von Türk*innen in Deutschland für einen Film ist nicht sehr unterschiedlich im Vergleich zu meinem alltäglichen Leben. Normalerweise führe ich immer ähnliche Befragungen von Menschen um mich herum durch, einfach aus Neugierde heraus. Fast alle Protagonisten in dem Film waren ja schon Bekannte oder Freunde von mir. Es war aber deswegen interessant, weil es sich diesmal um ein konkretes und einheitliches Thema handelte. 

Welche Mauergeschichten waren für dich am einprägsamsten?

Ercan: Ich fand ja alle Mauergeschichten, die im Film zu sehen sind, sehr einprägsam. Deswegen habe ich mir es erlaubt, dass sie beim Endschnitt alle noch zu sehen sind. Zuschauer*innen sollten wissen, dass der endgültige Film stark geschnitten und editiert wurde, fast wie ein „Fiction-Film“. Nur weil das Genre „Dokumentarfilm“ heißt, bedeutet es nicht, dass keine „Redaktion“ dahinter steht. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass die einprägsamsten Geschichten „off-the-record“ erzählt wurden und deswegen entweder rausgelassen werden mussten oder nicht einmal aufgenommen werden konnten.

Es sind 10 Jahre vergangen seitdem du den Film gedreht hast. Was hat sich seitdem deiner Meinung nach geändert?

Ercan: Es gibt immer noch keine Recherche, Filme und Bücher darüber, was ich damals „zufälligerweise“ zum Teil recherchiert habe. Ich wollte ja, wie gesagt, bloß mein Magisterstudium endlich zu Ende bringen und bin deswegen auf das Thema gestoßen. Und zehn Jahre später befindet sich dieses Mal Tuba in einer ähnlichen Situation und so geht der Staffellauf irgendwie weiter. Sonst sehe ich aber kein ernsthaftes Interesse, weder auf der Seite der Türkei / Deutschlands, noch auf der Seite der türkischen Community, dieses Kapitel der Geschichte weiter zu recherchieren und zu dokumentieren. Es sind immer ein paar „amateure“ Individuen.

Was bleibt für dich von der DDR?

Ercan: Auf der einer Seite nur die Geschichten, die ich von meinen Protagonisten und anderen Leute gehört habe und auf der anderen Seite die krassen Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern, die man merkt, wenn man irgendeine „Infografik-Map“ zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Gender usw. sieht.

Der Filmemacher Mehmet Ercan, Foto: Privatbesitz Mehmet Ercan

Grenzen der Zugehörigkeit -- Essay

Feuerwerk, Jubel, Deutschlandfahnen, Menschen reichen sich die Hände. Eine erste Online-Bildrecherche fasst das Narrativ der deutschen Erinnerungskultur zur Wiedervereinigung zusammen: Die Geschichte eines Erfolges. Schaue ich mir die deutschen Erfolgsbilder genauer an, dann suche ich vergeblich die Geschichten meiner jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihrer Familien. Ich suche die Geschichten der Minderheiten in den 1990er-Jahren in Deutschland – und finde sie nicht. Nicht in den Ausstellungen, die ich besuche. Kaum in den Büchern, die ich lese.

Während die Berliner Mauer 1989 fiel, blieb eine andere erhalten – sie heißt Rassismus und bekam nun einen neuen Anstrich. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre schuf neue Grenzen der Zugehörigkeit und leitete damit einen Wendepunkt für all diejenigen ein, die nicht zu „ethnischen Deutschen“ gezählt wurden. Während ehemalige Ost- und Westdeutsche zum „Wir“ im entstehenden „Volk“ gehörten, wurden all diejenigen, die als Migrant*innen gelesen wurden, erneut zum „Anderen“.

Ich finde in den Erfolgsbildern der Wiedervereinigung nicht die Geschichten der Minderheiten wieder. Aber ich finde etwas anderes: Es sind die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die Bevölkerung und die Lebensstile in West- und Ostdeutschland erfuhren durch die Anwerbeabkommen beider deutschen Staaten eine Diversifizierung. Die größte Gruppe der „Gastarbeiter“ in West-Deutschland machten Türk*innen aus. In West-Berlin wurden diese häufig in Wohngegenden direkt an der Mauer angesiedelt. Es ist also davon auszugehen, dass viele Deutsch-Türk*innen konkrete Erinnerungen an das Leben mit der Berliner Mauer und den Mauerfall haben müssen. Dennoch sind ihre Geschichten kaum präsent. Sie sind kein Teil der deutschen Erinnerungskultur. Wie ist das in Hinblick auf die Größe der deutsch-türkischen Community möglich? Was sagt es über die deutsche Erinnerungskultur aus, wenn die Geschichten der Minderheiten nicht erzählt werden?

Es bleibt eine Vermutung: Die deutsche Gesellschaft und damit auch ihre Erinnerungs- und Geschichtskultur ist rassistisch. Die Frage, welche Geschichte und Geschichten erforscht, erinnert und erzählt werden und welche nicht, findet eine Antwort auch in den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen. Ich möchte nicht nur die Bilder der Weißen mehrheitsdeutschen erfolgreichen Wiedervereinigungsgeschichte finden. Im Gegenteil: Ich will sehen und Teil davon sein, wie die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur mit Mut, Kraft und Wut und mit antirassistischen Hämmern eingerissen werden. Und dann mit all meinen jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihren Familien auf den Trümmern tanzen.


Grenzhäuser und -mauer an der Sebastianstraße , 10. August 1978
Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski


Materialliste

Fachliteratur

  • Cil, Nevim: Topographie des Außenseiters. Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin 2007.
  • Ercan, Mehmet: „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“, Berlin 2011 [unveröffentlichte Masterarbeit].
  • Huneke, Dorte: Von der Fremde zur Heimat. 50 Jahre deutsch-türkische Anwerbeabkommen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei, 24.10.2011. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/43161/von-der-fremde-zur-heimat, letzter Zugriff 13.03.19.
  • Mandel, Ruth: Cosmopolitan Anxieties. Turkish Challenges to Citizenship and Belonging in Germany, Duke University Press 2008.
  • Tügel, Nelli: Das Land ihrer Träume? Türkeistämmige politische Emigrant_innen in der DDR, Berlin 2014.

Zeitungsartikel

  • Woltersdorf, Adrienne: „Die Mauer fiel uns auf den Kopf“, Interview mit Nevim Cil, in: TAZ, Berlin 2004. http://www.taz.de/!677266/, letzter Zugriff 25.03.19.

Filme

  • Candan, Can: Duvarlar-Mauern-Walls, 2000.
  • Ercan, Mehmet: „Paranthesis“, Berlin 2011.
  • König, Jana/ Steffen, Elisabeth/ Turczyn, Inga: Mauern 2.0. Migrantische und anti-rassistische Perspektiven auf den Mauerfall, Berlin 2013.
  • RBB: 1975. Türken in Kreuzberg, in: Die Berliner Mauer. Geschichte in Bildern, 2014. https://www.berlin-mauer.de/videos/gastarbeiter-aus-der-tuerkei-in-kreuzberg-640/, letzter Zugriff 25.03.19.
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Und wenn nichts bleibt? http://was-ist-geblieben.de/und-wenn-nichts-bleibt/ Mon, 04 Feb 2019 11:57:02 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=82 Drei Potsdamer*innen erinnern sich an die Fachhochschule

Ein Beitrag von Jakob Eichhorn

Über das Projekt

Wenn man mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof in die Stadtmitte Potsdams fährt, macht die Bahn zunächst einen Bogen um das neue, alte Stadtschloss, in dem sich seit seiner Rekonstruktion der Brandenburger Landtag befindet, um dann am Alten Markt zu halten. Von hier blickte man bis zum Sommer 2018 auf ein Ensemble, das es so heute nicht mehr gibt: Neben der barocken Fassade des Schlosses und der grünen Kuppel der Nikolaikirche stach die gelbe, kontrastierende 70er Jahre-Fassade des Fachhochschulgebäudes hervor.

Alter Markt mit Fortunaportal, Fachhhochschule, Obelisk und Nikolaikirche (v.l.n.r.), Florian S., CC-BY-SA 3.0 DE

Der Bau, welcher zu DDR-Zeiten das „Institut für Lehrerbildung“ (IfL) und nach der Wende die Fachhochschule (FH) beherbergte, prägte in den 41 Jahren seines Bestehens die Gestalt des Potsdamer Zentrums.
Spätestens mit der Rekonstruktion des Stadtschlosses entwickelte sich das Gebäude für einige Potsdamer*innen zu einem Makel. Doch während die Einen in ihm einen architektonischen „Schandfleck“ sahen, traten Andere für seinen Erhalt ein. Neben dem Verlust eines öffentlichen Gebäudes in der Stadtmitte stand der Abriss für viele auch stellvertretend für eine seit den 90er Jahren praktizierte Potsdamer Baupolitik, der schon ein großer Teil der ostmodernen Architektur in der Stadtmitte zum Opfer gefallen war. Besonders ob des Faktes, dass an deren Stelle die Architektur des preußischen Potsdams rekonstruiert wurde, schlussfolgerte manch eine*r, man wolle das architektonische Erbe der DDR aus Potsdams Mitte tilgen.

Doch letztlich hatte aller Protest keinen Erfolg. Ab 2017 rollten die Bagger und ein Jahr später stand das Gebäude nicht mehr. Heute klafft dort eine Lücke, die bald mit neuen Häusern in historisierender Gestalt gefüllt werden soll. 

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Abbildung 1: Institut für Lehrerbildung/Fachhochschule Potsdam, Willo Göpel, CC-BY-SA 3.0 DE
Abbildung 2: Planungsstand der Bebauung, Januar 2017, Copyright: PWG 1956 eG

Zeit zu fragen, welche Rolle das Gebäude für Potsdamer*innen vor, während und nach dem Abriss spielte. 

Dazu habe ich Katrin, Ernst und Emil interviewt. Während Katrin zu DDR-Zeiten am IfL studierte, spielte das Gebäude für Ernst, der in Westdeutschland aufwuchs und 1992 nach Potsdam kam, in seinem Alltag nur eine nebensächliche Rolle. Emil ist nach 1989 geboren und erlebte als Student der FH die letzten Jahre des Gebäudes.

Drei Potsdamer*innen erinnern sich
Katrin, Geboren 1970 in Magdeburg, Potsdamerin seit 1973
Ernst, Geboren 1959 in Überlingen, Potsdamer seit 1992
Emil, Geboren 1995 in Berlin, Potsdamer seit 2000

Wir sprachen über das Gebäude, ihre persönlichen Bezugspunkte und über den Abriss: Wie nehmen sie die Potsdamer Stadtpolitik wahr, welche Rolle spielte für sie, dass das Gebäude aus der DDR stammte und wie soll mit solchen Gebäuden verfahren werden?
Die Drei nehmen unterschiedliche Perspektiven auf das Gebäude ein. Ihre teilweise kontrastierenden, teilweise erstaunlich ähnlichen Ansichten wurden nach Themen zusammengeschnitten.

Potsdamer Stadtentwicklung in der DDR

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war der Stadtkern Potsdams zu großen Teilen zerstört oder zumindest beschädigt.
In der neu gegründeten DDR stand man nach Abtragen des Kriegsschutts nun also vor der Frage, wie städtebaulich mit der Situation umgegangen werden sollte.
Die barocke Garnisonsstadt war als Zentrum des preußischen Militarismus symbolisch aufgeladen. Nun sollte Potsdam eine neue Rolle als moderne, sozialistische Stadt spielen. Seine bauliche Geschichte sollte dabei jedoch nicht gänzlich verleugnet werden.

Fachhochschule Potsdam mit Statue am Obelisken auf dem Alten Markt, Zugvogel, CC-BY-SA 3.0

Die Umsetzung dieser Linien äußerte sich baupolitisch durch den Abriss einiger Gebäude, wie dem Stadtschloss am Alten Markt. Am gleichen Ort entschied man sich jedoch auch für die Rekonstruktion von markanten Gebäuden wie der Nikolaikirche und dem Alten Rathaus.
Das Leitbild einer modernen Stadt wurde besonders durch die Errichtung von Neubauten im Stadtzentrum verfolgt. Nach dem Abriss des Stadtschlosses (1960) entstand in den 70er Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zu den historischen Fassaden des Alten Marktes ein Gebäudekomplex aus Bibliothek und Bildungszentrum.

Das Institut für Lehrerbildung/
Die Fachhochschule Potsdam

Ein Jahr nach Baubeginn der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek begannen auch die Arbeiten am baulich anschließenden IfL mit dem Beinamen „Rosa Luxemburg“. Trotz der modernen Architektur des Dreigeschossers, die sich bewusst abwechslungsreich von den historischen Fassaden abheben sollte, war man bemüht, durch gestalterische Reminiszenzen an die barocken Gebäude Potsdams ein stimmiges Ensemble zu erzeugen.
Besonders eine das Gebäude umfassende Kolonnade und vorgebaute Stahlbetonlamellen, die die Fassade des Gebäudes unterteilten, sowie sternförmige Verbindungselemente prägten die Erscheinung des Institutsgebäudes. Mit Gelb war es zudem in einer Farbe gestrichen, die sich in Potsdam auch an anderer prominenter Stelle, beispielsweise dem Schloss Sanssouci, wiederfindet.

Ab seiner Eröffnung 1977 wurden im IfL vor allem Unterstufenlehrer*innen ausgebildet. Dafür wurde kein Abitur benötigt. 
Die Wende bedeutete auch das Aus für das IfL. Stattdessen zog 1991 die FH Potsdam ein. 

Erste Berührungspunkte mit dem Gebäude
„Ich habe mich häufig verirrt, gerade in den Anfängen…“
Fachhochschule Potsdam, Sebastian Ziebell, CC BY-NC-SA 2.0
Das Gebäude und seine Umgebung
„Natürlich war das ein Kontrast, aber ich fand das jetzt nicht störend“
Als Student*in am IfL/der FH
„Man war plötzlich noch mehr auf der Suche. Wie kann mein Leben jetzt weitergehen?“

Die Neugestaltung des Alten Marktes

Mit der Wende änderte sich auch die Potsdamer Baupolitik. Neue Leitlinie war die „behutsame Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild“. Der Abriss des Rohbaus des Hans-Otto-Theaters, welches ab 1988 am Alten Markt entstehen sollte, war eine erste Konsequenz.
In den Folgejahren drehten sich Planung und einhergehende Debatten um die Stadtmitte besonders um den Wiederaufbau des Stadtschlosses, in welches 2014 der Brandenburger Landtag zog.
Doch es taten sich auch neue Konfliktfelder auf. Besonders das angrenzende Gebäude der FH stand – nach weiteren Abrissen von Teilen des 70er Jahre-Ensembles und mit seiner seit Jahrzehnten nicht gepflegten Fassade – nun in deutlichem Kontrast zu den barocken Fassaden der anderen Gebäude am Alten Markt.
Nach Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung konkretisierten sich die Pläne, auch diesen Bereich durch einen Abriss der FH und einen anschließenden Neubau von Gebäuden mit barocken Fassaden dem preußischen Stadtbild wieder anzupassen.
Widerstand der Potsdamer*innen äußerte sich in Form eines letztlich abgelehnten Bürgerbegehrens der Initiative „Potsdamer Mitte neu denken“ und einer Besetzung des Gebäudes im Juli 2017. 

Alter Markt, Abriss der Fachhochschule, Sol Octobris, CC-BY-SA 4.0

Der beschlossene Abriss konnte nicht verhindert werden. Die letzten Fakultäten der FH zogen in den neuen Campus im Norden Potsdams um und die Entkernung des Gebäudes begann. Ab Mai 2018 wurde die Fassade abgetragen. Parallel dazu liefen die Vergabeverfahren für die Bebauung der frei werdenden Grundstücke. Ein Großteil soll nun von Genossenschaften, hauptsächlich mit Wohnflächen, bebaut werden.

Abriss und Stadtpolitik
„Das FH-Gebäude kann man nicht trennen von seiner Nutzung“
Abriss der Fachhochschule, im Hintergund der Alte Markt, Sol Octobris, CC-BY-SA 4.0

Potsdam im Streit um sein architektonisches Erbe

Architektur und Geschichte
„Sind Gebäude Zeugnisse des Systems oder Zeugnisse des Zeitgeistes?“

Der Fall der FH steht nur stellvertretend für mehrere historische Gebäude, um die in Potsdam Debatten geführt werden. Häufig geht es dabei um einen Abriss von Architektur aus DDR-Zeiten, wie den Staudenhof und das Hotel Mercure im Stadtzentrum sowie das Terrassenlokal Minsk in der Nähe des Hauptbahnhofs. Während Letztere wohl bestehen bleiben, sieht es für einen Erhalt des Staudenhofs ab 2022 schlecht aus. Doch nicht nur Abrisse spalten die Potsdamer*innen, auch der Wiederaufbau der Garnisonkirche, Ort des  inszenierten Schulterschlusses Hitlers und Hindenburgs am „Tag von Potsdam“, sorgt für Konflikte. Auch, weil ein vollständiger Wiederaufbau zwangsläufig den Abriss des angrenzenden Rechenzentrums, dessen Räumlichkeiten zur Zeit von Potsdamer Künstler*innen genutzt werden, bedingen würde.

Fachhochschule Potsdam, Andreas Levers, CC BY-NC-SA 2.0

Der Streit um den richtigen Umgang mit der architektonischen Geschichte Potsdams ist also längst nicht beigelegt. 

Auch wenn sich die Potsdamer Architekturdebatten häufig um die Vergangenheit einzelner Gebäude drehen: Die Interviews mit Katrin, Ernst und Emil haben letztlich gezeigt, dass nicht der Verlust eines Gebäudes aus der DDR im Zentrum ihrer Kritik steht, sondern vor allem, dass öffentlicher Raum aus der Stadtmitte verschwindet.
Die individuelle Nutzungsgeschichte scheint ihre Wahrnehmung des Gebäudes also weitaus mehr zu prägen, als seine historische Bedeutung.


Literatur

Carsten Dippel, „Wir schaffen einen neuen Geist“. Sozialistische Baupolitik in Potsdam, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien NR. 30-31/2004, S. 23-34, https://zzf-potsdam.de/sites/default/files/publikation/Bulletin/dippel_30.pdf (zuletzt abgerufen 07.03.2019).

Christian Klusemann, Das andere Potsdam. DDR Architekturführer. 26 Bauten und Ensembles aus den Jahren 1949-1990, Berlin 2016.

Martin Sabrow, Die Garnisonkirche in der deutschen Geschichtskultur, in: Michael Epkenhans, Carmen Winkel (Hrsgg.), Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg/Berlin/Wien, 2013, S. 133-160.

Links

Offizielle Informationen zum Sanierungsgebiet: http://www.potsdamermitte.de/index.php?id=aktuell

Internetauftritt der Initiative „Potsdamer Mitte neu denken“: https://www.potsdamermitteneudenken.de/

Vielen Dank an:
Katrin, Ernst und Emil für die Interviews
Milan Rottinger für das Mastering: https://milanpeals.com/

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