Mauerfall – Was ist geblieben? http://was-ist-geblieben.de Geschichten von Menschen und Dingen drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR Wed, 25 Sep 2019 14:23:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 Ein kleines Dorf in Nordfriesland erinnert sich http://was-ist-geblieben.de/ein-kleines-dorf-in-nordfriesland/ Fri, 08 Feb 2019 11:37:01 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=382 Ein Beitrag von Berit Pohns

Rantrum ist ein kleiner, beschaulicher Ort in Nordfriesland. Die meisten Leute sagen sich hier beim Spazieren gehen noch „Guten Tag“ oder man grüßt durch ein knappes „Moin“. Dieses Dorf ist nicht nur der Ort, an dem ich groß geworden bin, auch meine Eltern sind hier geboren und aufgewachsen. Ebenso sind ihre Eltern „waschechte Nordfriesen“. Nur mein Opa, der Vater meiner Mutter, ist kein Urgestein aus Rantrum und damit fast schon so etwas wie ein Exot. Mein Opa ist in Blankenfelde großgeworden und somit in einem Teil Deutschlands, der später die DDR geworden ist. Er verließ Blankenfelde vor dem Mauerfall und ging nach Nordfriesland, wo er meine Oma kennenlernte und blieb. In der DDR zurück blieben Erinnerungen und ein Stück Heimat.

Nachdem ich im letzten Jahr für das Studium nach Berlin gezogen bin, ist mir schnell aufgefallen, wie wenig ich über die Geschichte von Ost- und Westberlin weiß. Ich kannte zwar einige wichtige Daten, genauer beschäftigt habe ich mich mit dem Thema aber weder in der Schule, noch privat. Hin und wieder gab es Dokumentationen im Fernsehen, aber eine richtige Vorstellung von einem Leben in der DDR hatte ich nicht. Ich begründete es damit, dass ich erst nach der Wende geboren wurde und nicht nah genug an Berlin aufgewachsen bin. Bei einem Besuch meiner Eltern erzählte ich beiden von meiner These. Schnell kamen wir in eine Diskussion darüber, inwieweit das Thema DDR in Rantrum überhaupt eine Rolle gespielt hat. Ging es nur mir so, dass ich zu wenig wusste und nie sonderlich viel Interesse an der Thematik hatte? Oder war Rantrum einfach zu weit weg, zu klein, zu sehr auf dem Land, als dass es das große Geschehen im Blick hatte?

Interessierte es jemanden in diesem kleinen Dorf, was da am anderen Ende Deutschlands vor sich ging? Wurde es in der Schule besprochen, vielleicht sogar kritisiert? Hat es privat Menschen in Rantrum beeinflusst? Und wenn ja, welche Assoziationen haben sie zu diesem Teil der Geschichte Deutschlands, die irgendwie auch ihre Geschichte ist? Und irgendwie auch nicht…. Ich begann mich auf die Suche und wollte wissen:

Wenn du an die DDR denkst, an was erinnerst du dich?

Hans Jürgen Dau-Schmidt

Unmittelbar in der Nachbarschaft wohnt Hans Jürgen Dau-Schmidt. Meine Eltern kennen ihn schon lange. Ich solle ihn fragen, wenn ich genaueres wissen möchte, er würde bestimmt gern Auskunft geben.

Hans Jürgen, Jahrgang 1934, ist gut auf das Gespräch über die DDR vorbereitet. Bereits im Vorfeld hat er um die Fragen gebeten, auf dem Tisch in der Küche liegen Stapelweise Bücher zur DDR Geschichte.
„Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ich weiß ja auch nicht mehr alles aus dem Kopf.“, sagt er. Es gibt Plätzchen und Cappuchino und unmittelbar beginnt er zu erzählen: „Die DDR wurde uns durch die Presse als nicht gerade menschenfreundlich dargestellt. Es waren nicht die Menschen oder das Land, die wir damals ablehnten. Es war das kommunistische System. Das wahre Gesicht zeigte die DDR-Regierung ja schon 1953, als die Bevölkerung auf die Straße ging. Der Aufstand wurde mit russischer Hilfe blutig niedergeschlagen.“

Es dauert ein bisschen, bis wir über meine eigentlichen Fragen sprechen. Was genau ist seine persönliche DDR-Geschichte? Ich wusste bereits, dass sein Sohn seinen Meister als Tischler gemacht hatte. Direkt nach der Wende ging er in die ehemalige DDR, genauer gesagt nach Waren in Mecklenburg-Vorpommern, weil es dort als Tischler wohl gute Möglichkeiten für ihn gab.

Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, seine Notizen für unser Gespräch
Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, Tischlerei des Sohns in der DDR
Privatbesitz Karl Heinz Schüttpelz, linkes Bild: das erste Bauprojekt in der DDR, rechtes Bild: Sein Sohn arbeitet als Tischler in der DDR, Jahr 1990


„Arbeit gab es da für ihn genug“, erzählt Hans Jürgen, „Er hat dann da mit seiner Familie ein Haus gekauft und eine eigene Firma aufgebaut. 20 Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR hat er dort beschäftigt. Es bestand ja ein großer Bedarf.“
„Und was hast du damals gedacht, als dein Sohn in den Osten gezogen ist?“, möchte ich wissen. „Ich hatte ein bisschen Sorge, dass er dort nicht gut aufgenommen wird. Aber die Sorge war unbegründet. Er wurde sofort akzeptiert.“ Hans Jürgen und seine Frau haben ihren Sohn 1990 direkt das erste Mal besucht. Aus vielen Gesprächen mit den damaligen Mitarbeiter*innen, mit Nachbar*innen und Freund*Innen seines Sohnes berichtet er: „Die größte Lüge der DDR war die Aussage ‚Gleiches Recht für alle‘. Das galt nur für die Oberschicht, die kleinen Leute, die Tischler zum Beispiel oder die Verkäufer, die hatten es schwer.“

Und wenn er, aus heutiger Sicht, beurteilen sollte, ob die Wiedervereinigung für ihn Schaden oder Nutzen gebracht hat?
„Meinem Sohn hat es genutzt.“

Marlene Schüttpelz

Privatbesitz Marlene Schüttpelz, Reisepass ihrer Mutter mit Stempeln aus der damaligen DDR

Marlene Schüttpelz ist meine Tante. Sie ist gerade 70 Jahre alt geworden. Demnach erinnert sie sich noch an die Zeit, als es zwei deutsche Staaten gab. Durch meine Mama kannte ich die Geschichte meines Opas bereits in groben Zügen. Aber da Marlene einige Jahre älter als meine Mutter ist, erinnert sie sich noch ein wenig klarer an die Zeit.

„Ich erinnere mich, dass Mama und Papa immer Carepakete zusammengestellt haben. Mit Kaffee und all solchen Sachen. Da musste immer ganz exakt aufgelistet werden, was in den Paketen enthalten war.“ Nachdem Marlene ihre Tochter Bettina zur Welt gebracht hatte, bekam sie auch mal Post aus der DDR. Eine Freundin ihrer Eltern wollte der Kleinen etwas zur Geburt schenken. Das Problem dabei, so beschreibt sie die Lage, sei gewesen, dass sie zurzeit keine Kinderkleidung in den Geschäften gefunden habe. Also musste Gratulationspost genügen. Mein Opa und meine Oma sind sogar in die DDR gereist um sich die ehemalige Heimat meines Opas anzusehen. Marlene hat den Reisepass ihrer Mutter aufgehoben. Die Stempel dokumentieren die Ein- und Ausreise.

Darauf angesprochen, ob Marlene sich damals viel mit der DDR auseinandergesetzt hat, da ihre Familie ja direkt von der Trennung betroffen gewesen sei, schüttelt sie den Kopf und formuliert es schmunzelnd so: „Berlin, das war damals ganz weit weg für uns. Hamburg war ja schon so weit weg. Für uns war es gar nicht richtig interessant, was noch weiter weg passierte. Natürlich hab ich mitbekommen, dass Papa mal über das eine oder andere gesprochen hat. Aber wir waren mit uns beschäftigt. Mit unserem Leben hier.“

Sönke Pohns

Das Gespräch mit meinem Vater Sönke über die DDR war eigentlich nicht geplant und findet ganz spontan in unserer Küche beim Frühstück statt. Ich erzähle ihm von meinen bereits geführten Gesprächen, von den Projekten der Kommilitonen und von meinem Eindruck, dass hier, im hohen Norden, die DDR trotz einiger persönlicher Verbindungen, gar nicht so eine bedeutende Rolle gespielt hat.
„Was ist denn von der DDR für dich geblieben, Papa?“
„Für uns hier oben ist nur der Soli geblieben, mehr nicht.“ Über seine Antwort muss ich schmunzeln, will es aber dennoch genauer wissen:
„Was wusstest du im Allgemeinen denn von der DDR?“, frage ich ihn und er berichtet, dass alle im Dorf von der ‚Mauer da irgendwo im Osten wussten‘, aber so richtig interessiert hatte man sich in seinem Freundeskreis nicht dafür.

„Als ich zur Handelsschule gegangen bin, sind wir auf Klassenfahrt in Berlin gewesen und haben auch Ostberlin besucht. Wir mussten durch den Checkpoint Charlie. Ich erinnere mich noch gut an die Passkontrolle. Die Passabfertigung erschien uns unheimlich lang. Wir mussten den sogenannten Zwangsumtausch von damals so 20 DM machen, damit sollte man dann einkaufen. Man konnte das Geld aber gar nicht ausgeben. Das Restgeld durfte man aber nicht wieder mit zurück nehmen. Und der Geruch war von den ganzen Trabbis sehr schlecht. Es war irgendwie beklemmend und man war schon froh, als man dann wieder zurück in Westberlin war.“

Er erzählt noch ein bisschen mehr von seinen Eindrücken der DDR, die sich im Wesentlichen nicht von denen von Hans-Jürgen unterscheiden: Graue Häuser, Plattenbauten.

Und was ist nun von der DDR geblieben? In Nordfriesland, in Rantrum?

Nach den Gesprächen versuche ich, das Gehörte zu ordnen. Rantrum, knapp 260 Kilometer von der ehemaligen Grenze der DDR entfernt. 570 Kilometer zur innerberliner Grenze. Ein großer Abstand zur Geschichte, aber nicht groß genug, als dass nicht alle drei Interviewten irgendwie mit der DDR in Berührung gekommen sind. Dennoch bleibt zusammenfassend der Eindruck, dass das Thema DDR, Wende und Wiedervereinigung kaum Einfluss auf das Leben der Menschen in Rantrum genommen hat.

Ich stelle am Ende der Interviews allen drei Interviewpartner*innen die gleiche Frage: „Denkst du, dass es dich in deinem Leben beeinflussen würde, wenn es die DDR noch geben würde?“ und bekomme von allen die gleiche Antwort: „Nein. Letztendlich nicht wirklich.“

Sie sind zwar alle froh, dass der Zusammenschluss friedlich verlief. Sie reisen gerne mal nach Dresden, nach Berlin oder Leipzig. Aber geblieben ist hier nur eine leise Erinnerung an eine Mauer, die Deutschland in zwei Seiten trennte, dass es „damals dort drüben nicht viel gab.“

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DDR in drei Stunden http://was-ist-geblieben.de/drei-stunden-ddr-tourismus/ Tue, 05 Feb 2019 08:08:05 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=128 Ein Beitrag von Lucas Frings, Malte Grünkorn, Emanuel Weitmann

Plötzlich Touri! An einem sonnigen Wintertag treffen wir uns am Brandenburger Tor, drei Stunden „Communist Berlin and Berlin Wall Tour“ stehen uns bevor. Wir buchten vorab, in der Kurzbeschreibung wurde eine akkurate Darstellung des Lebens in der DDR versprochen – „the good as well as the bad“. Schon bei der Buchung hatten wir gemerkt, dass das Angebot von kommerziellen Touren zur DDR-Geschichte – zumal im Winter – überschaubar ist. Radtouren, bei denen deutlich mehr Orte angesteuert werden, beginnen erst im April. Eigentlich wollen wir verschiedene Touren buchen, merken dabei aber rechtzeitig, dass unterschiedliche Unternehmen dieselben Führungen der gleichen Guides rebranded verkaufen.

Geschichte und Tourismus, it’s a match – and a business! Das fand auch Valentin Groebner, in seinem Buch „Retroland“. Er fragt sich darin, wie das aussieht, „wenn Monumente und Ereignisse aus der Vergangenheit als Zeugen lokaler ‘Identität’ und Echtheit vermarktet werden“. Es geht um das Banale, das was einfach da ist, aber aufregend gemacht wird. Um Monumentalisierung, die bei Groebner ein Verfügbarmachen der Stories und Deutungen von Orten in konsumierbaren Portionen ist. Da wollen wir dabei sein, das wollen wir erleben. Denn was bleibt von der DDR, ist das, was gekauft wird und das was performt wird, so unser Gedanke. Als Touristen wollen wir Geschichten über Spies und deren Gadgets (Giftspitzen-Regenschirme), herzzerreißende Familienschicksale und tragische Todesfälle an der Mauer erfahren, wie uns der Flyer zur Führung verspricht. Wir wollen dabei sein während Berlin zum stadtgewordenen Symbol der Freiheit und Unfreiheit wird.

Und wer wird das wem erzählen? Wie wird unser Guide (historische) Orte in die Erzählung einbinden? Welches DDR-Narrativ wird vermittelt? Häufig wird die DDR entweder als reine Unterdrückungsgeschichte durch ein zynisches und totalitäres Regime, oder in einer Art ostalgischer Verharmlosung erzählt. DDR-Geschichte bleibt unter einer “Käseglocke”, losgelöst von deutsch-deutschen oder globalen Entwicklungen, wie die Kulturwissenschaftlerin Carola Rudnick im März bei einer Podiumsdiskussion zu dem Thema “DDR neu erzählen!” anmerkte.  

Und das alles in drei Stunden?


Unser Tourguide Sam am Spreeufer.
Unser Tourguide Sam am Spreeufer © Malte Grünkorn

Unseren Guide Sam schüchtern wir direkt ein bisschen ein. Er ist Student, wie wir, lebt ungefähr zwei Jahre in Berlin. Wir werden die nächsten Stunden mit ihm verbringen und ihn einige Wochen später erneut treffen, um mit ihm über die DDR, Tourguiding und was ihn als Brite an deutscher Geschichte fasziniert zu sprechen. Warum gehen drei in Deutschland aufgewachsene Geschichtsstudierende auf eine Tour über deutsche Geschichte? Ob wir ihn nun prüfen und korrigieren werden? Wir beteuern anfangs, nur wenig über DDR-Geschichte zu wissen, was – na klar – geflunkert ist.

Nach einem Abriss der Nachkriegsgeschichte bis in die 50er Jahre mit Blick aufs Brandenburger Tor begeben wir uns zur einst sowjetischen, heute russischen Botschaft. Um seine Ausführungen verständlich zu machen, bricht er komplexe Zusammenhänge herunter, spricht von “East and West” anstelle der Besatzungszonen. Die meisten Besucher*innen, sagt Sam, hätten eine „background info“, nicht unbedingt richtiges Wissen, aber eine Idee oder eine Imagination, ein „inherited knowledge“, dass aber bei den allermeisten Besucher*innen deutlich geringer sei, als das Wissen über den Nationalsozialismus. Während es für jüngere Besucher*innen vor allem ein Entdecken vergangener Geschichte ist, bildet für ältere Menschen aus Mittel- und Osteuropa die Tour einen starken Kontrast zu dem Bild des modernen Idealstaats DDR mit dem sie aufgewachsen sind.

Aus dem baufälligen Gebäude der ehemaligen amerikanischen Botschaft wird durch Sams Erzählung ein Spionagestützpunkt. Von hier aus ist auch der Fernsehturm zu sehen. Auf dem weithin sichtbaren Symbol einer modernen DDR ist im Sonnenschein ein Kreuz auszumachen. It cannot be unseen, laut Sam einer der Lieblings-Fun-Facts von Tourguides. Das Kreuz am Turm stehe auch für die Widersprüchlichkeit der DDR, für Grenzen der Planbarkeit und Herrschaft. In einem Staat, in dem abweichende Gruppen wie beispielsweise die Kirchen gewaltvoll unterdrückt worden sind, wurde das markante Kreuz auf dem Ersatzkirchenturm zur “Rache des Papstes”. Dabei sollte die Kugel eigentlich an den Erfolg des Sputnik-Satelliten erinnern

Die „Rache des Papstes“ auf dem Berliner Fernsehturm © Malte Grünkorn

Wir gehen weiter zur Friedrichsstraße. Am Spreeufer sprechen wir über den Mauerbau, und Fluchtmöglichkeiten in die BRD. Sam erzählt von Günter Litfin, dem ersten Mauertoten, der beim Versuch die Spree zu durchschwimmen von DDR-Grenzbeamten erschossen wurde. Aus der Spree wird eine Todesort. Unser Guide hat eine systematische Vorgehensweise, er beginnt mit umfangreicheren Themen auf der Makroebene, etwa der geopolitischen Lage, die die UdSSR ermutigte den Mauerbau abzusegnen. Nach und nach bricht er es auf die Mikroebene und persönliche Geschichten herunter – der emotionale Zugang als kleinster gemeinsamer Nenner der Verständnis- und Empfindungsebene seiner Zuhörer*innen.

Kurz danach entlässt uns Sam in die Ausstellung im Tränenpalast. Der anschließende Kaffee schmeckt uns viel besser, mit dem Wissen über die ehemals weite Verbreitung von „Erichs Krönung“, dem DDR Ersatzkaffee. Wir steigen in die S-Bahn zum Nordbahnhof. In dessen Untergeschoss sprechen wir über die Geisterbahnhöfe, die durch die Teilung Berlins entstanden. Im Streckennetz und in den Bahnhöfen sieht man noch viele Überreste der DDR, so Sam.

Die von uns angesteuerten Orte haben einen festen Platz in Sams Erzählungen, sie dienen als Aufhänger für Aspekte, die sich zu seiner differenzierten Gesamtdarstellung formen. Sie sind mehr als schmückendes Beiwerk, auf die Architektur der sowjetischen Botschaft etwa gehen wir kaum ein. Unscheinbare Gebäude werden durch Sams Ausführungen zu geschichtsträchtige Orten. An der Friedrichstraße steigen wir nicht mehr nur von der S1 in die U6 sondern haben Bilder von Grenzkontrollen im Kopf. Durch die Veränderung in unserer Nutzung dieses Ortes, nicht Pendler sondern Tourist, verändert sich auch unsere Wahrnehmung des Ortes. Historische Authentizität – Ein Wahrnehmungsmodus?

  • Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer
    Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer © Lucas Frings

An der Gedenkstätte Berliner Mauer sprechen wir über den Aufbau der Sperranlage, Fluchttunnel und Mauertote. Hier sehen wir nun das angekündigte „most historically accurate piece of the Berlin Wall“. Die Formulierung passt, schließlich wurde etwa der Wachturm an der Bernauer Straße der Anschaulichkeit halber 2009 aus Brandenburg hierher versetzt. Durch Schlitze in der Mauer kann hier auch auf die Rekonstruktion des Todesstreifen und in die Vergangenheit geschaut werden.

Als wir Sam ein paar Wochen später in der Kneipe W. Prassnik treffen, kommt auch der Aspekt der Authentizität und der Wunsch nach sichtbaren Objekten zur Sprache. Die DDR-Geschichte in Berlin sei eine der unsichtbarsten Geschichten für Tourist*innen. Durch das Fehlen von Gebäuden und Zeichen im öffentlichen Raum, die als Teil der DDR-Geschichte erkannt werden könnten, projizieren sich alle DDR-Themen auf die Mauer und nehmen deren negative Konnotation auf. So sei es kein Wunder, so Sam, dass vorrangig das Bild einer brutalen Diktatur entsteht. Wenn er könnte, sagt er, würde er auch Orte wie den Platz der Republik, die Karl-Marx-Allee aber auch Berlin-Marzahn in seine Tour einbauen. Dort könnte man etwa die Idee von Plattenbauten vermitteln, auch da „communal housing“ in vielen Ländern abschätzig betrachtet werde.

Die Tour endet an der U-Bahn Station Bernauer Straße, mit der Erzählung des folgenreichen Versehens Günter Schabowskis bei der Pressekonferenz vom 09.11.1989, die schlussendlich zur Öffnung der Grenzen führte. Aus einer missverständlichen Lockerung des Reisegesetzes macht die westdeutsche Tagesschau die Schlagzeile “DDR öffnet Grenzen”.

Am Ende ist für uns klar: Sam hat uns keine Horrorgeschichte der DDR erzählt. Vielmehr hat er die Käseglocke angehoben, Wechselwirkungen aufzeigt, und die komplexe Geschichte der DDR im Berliner Stadtbild für uns sichtbar gemacht. Dass wir – anders als online angekündigt – nichts über Regenschirme mit eingebauter Giftspritze als Geheimdienstwaffe erfahren habe, verzeihen wir ihm gerne.


Wir danken Sam W. für die Gespräche und Publikationsgenehmigung.
Alle Bildrechte liegen bei Lucas Frings und Malte Grünkorn


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