Und zur Nähe wird die Ferne

Die Präsenz der DDR
Eine bildlich-akustische Annäherung

Ein Beitrag von Ayse Kizilkulak

Was ist von der DDR geblieben? Diese Frage stellte sich zu Beginn unseres Seminars im Winter-semester 2018/19. In meinem Kopf waren blasse Sequenzen. Bilder kamen auf von Hammer und Zirkel, von Menschen, die über die Mauer auf die andere Seite klettern, vom Checkpoint Charlie.

„Wirklich?“, dachte ich, „ist das alles?“ .

Warum wissen viele Menschen heute so wenig über die einstige Teilung Deutschlands, über eine Diktatur, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bundesrepublik abgespielt hatte? Über die unmittelbaren Auswirkungen auch nach dem Mauerfall auf die Gesellschaft und die Kultur der Gegenwart?

Als eine Person aus dem tiefen Südwesten der Bundesrepublik, neu nach Berlin gezogen, wollte ich auf Spurensuche gehen. Ich wollte die DDR in die Gegenwart holen, in mein Bewusstsein. Die Orte sehen, an denen Menschen gelacht, geweint, gegessen, oder vielleicht sogar eine Reise angetreten haben. Mein kleiner Beitrag soll versuchen die gefühlte Ignoranz und zeitlich-räumliche Ferne zu durchbrechen und zur Nähe werden lassen. Nicht alles, was die DDR einst ausmachte ist einfach so von der Bildfläche verschwunden, zumindest nicht in Berlin. Menschen, Architektur, Kultur, Musik, Gewohnheiten: Es gibt sie, die kleinen Anhaltspunkte und Erinnerungssplitter. Gewisse Dinge sind noch da. Andere eben nicht mehr. Gewisse Dinge sind ausgeschildert. Andere nicht. Was ist also von der DDR geblieben und was nicht?

Sehen und hören Sie (am besten beides gleichzeitig) selbst.

Eine Annäherung.

 

Blick auf die Berliner Mauer, im Vordergrund ein Freund von D. Hubert Peuker in der Strelitzer Straße, die damals Egon-Schultz-Straße hieß.
Blick auf die Berliner Mauer, im Vordergrund ein Freund von D. Hubert Peuker in der Strelitzer Straße, die damals Egon-Schultz-Straße hieß.
Bildmontage; Originalbild: Stiftung Berliner Mauer / Foto: Detlef Hubert Peuker


Bildansicht

 

“Republikflucht“
Hubert Peuker spielt schon lange mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen. Geboren 1953 in Braunschweig, fühlt er sich in seiner neuen Heimat, der DDR, in die seine Familie Mitte der 1950er Jahre noch vor dem Mauerbau umsiedelte, nie wirklich wohl. Früh beginnt er aufzubegehren und gegen jegliche Form von politischer Bevormundung und Entmündigung Einspruch zu erheben. Nach der achten Klasse bricht er die Schule ab und beginnt eine Lehre als Maurer. Die Zustände im Ausbildungsbetrieb desillusionieren ihn zunehmend und verstärken den Gedanken, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Im jugendlichen Alter von sechzehn Jahren entscheidet er sich endgültig für die Flucht in den Westen. Dort lebt die Familie der Mutter mit seinem älteren Bruder. 

Der Besuch Ost-Berlins im Sommer 1969 ist ein wesentlicher Teil seiner Fluchtvorbereitungen. Zurück in Jena wertet Peuker die Fotos, die er mit einer einfachen Schwarz-Weiß-Kamera der Marke „Werra“ aufgenommen hat, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für die Überwindung der Grenze aus. Er muss die Fotos mithilfe eines kleinen Bausatzes aus Entwicklungsdose, Wannen und Chemikalien in dem zur Dunkelkammer umgebauten Dachboden des Familienhauses selbst entwickeln, da die Abgabe seiner brisanten Bilder an ein Fotolabor viel zu gefährlich wäre. 

Text: Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer [1]

Das Bild, das auf der Fotomontage zu sehen ist, zeigt die Sicht auf die Berliner Mauer 1969. Das Titelbild dieses Beitrages zeigt die Sicht über die Strelitzerstraße in die andere Richtung, ins „Innere“ Ostberlins. Die Strelitzerstraße verläuft quer zur Bernauerstraße.

Die in der Bildbeschreibung erwähnte Umbenennung ist an ein größeres, vom MfS später politisch-mystifiziertes Narrativ gebunden. Die Strelitzerstraße 55 wurde später durch den „Tunnel 57“ bekannt – ein Fluchttunnel, mit Hilfe dessen 57 Flüchtlinge aus Ostberlin fliehen konnten. Von westdeutschen Studenten in elf Meter Tiefe gegraben, verlief der 145 Meter lange Fluchttunnel von einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße zum Hof der Strelitzerstraße 55, wo er in einem Toilettenhäuschen endete. An der Mauer oder im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grenzregime starben zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen. Zuzüglich dieser Zahl lag unter Reisenden die Anzahl der Todesopfer an den Berliner Grenzübergängen bei 251. Mindestens 5.075 DDR-Bürgern*innen gelang die Flucht zwischen Mauerbau und Mauerfall. [2]

 Auf dem Bild ist der Springbrunnen am Strausbergerplatz zu sehen.

 

Bildmontage; Originalbild: Bundesarchiv, Bild 183-H1002-0001-001 / Foto: Peter Heinz Junge /
CC-BY-SA 3.0


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Architektur
Mitten am Strausberger Platz angekommen, erschlägt einen die Architektur der langen Alleen beinahe: Ich muss aufpassen, als ich die Straße überquere, um näher an den Springbrunnen zu kommen. Schnell stellt sich heraus, dass der Fotograf des Bildes in der Bildmontage wusste, was er tat: Die Perspektive, die er gewählt hatte – nahezu unmöglich in das äußere Gesamtbild einzuordnen.

Der Strausberger Platz, vor allem aber die ehemalige Stalinallee – Anfang 1960 in Karl-Marx-Allee umbenannt, sollte mit ihrer Außenarchitektur den Sozialistischen Realismus symbolisieren und gleichzeitig für mehr Wohnraum sorgen. Die Gestaltung der Magistrale, die imposanten mehrstöckigen Hochhäuser am Strausberger Platz sowie die auf dem Bild in der Bildmontage zu sehenden Hochhäuser am ehemaligen Leninplatz (heute Platz der Vereinten Nationen) entstanden in einem Kontext mehrerer architektonischer Umbrüche in der Nachkriegszeit. Insbesondere der ehemalige Leninplatz sollte als politisches Vorzeigeobjekt dienen und zeigt die von der Sowjetunion auch in der SBZ angeordnete architektonisch-künstlerische Richtlinie. In der Mitte des Platzes stand eine monumentale Leninfigur, welche vom Präsidenten der Akademie der Künste der Sowjetunion – Nikolai Tomski, gestaltet wurde.[3]
Die (originale) Bildunterschrift des Bildes in meiner Bildmontage zeigt den propagandistischen Ton und die Bedeutung dieses Fotos für den Vorzeigeeffekt dieser Neubauten.

„Zentralbild-Junge-2.10.69-sze-Berlin: 20.Jahrestag DDR-Höher als das Hochhausensemble am Leninplatz scheinen hier die Fontänen des Springbrunnens am Strausberger Platz zu sein. Unser Bildreporter verkürzte mit dem Teleobjektiv die mehrere 100 Meter weite Entfernung zwischen beiden Objektiven. Bis zum 7.Oktober 1969 werden die 17-, 21-und 25geschossigen Hochhausabschnitte am Leninplatz rohbaufertig sein.“

Das Gebäude auf der Bildmontage auf dem folgenden Bild ist das ehemalige „Haus des Kindes“ am Strausbergerplatz 19.[4] Vielleicht ist das Bild ebenfalls aus diesem Grund nicht zufällig an diesem Ort zu dem in der Bildunterschrift genannten Anlass entstanden … Beide genannten Bilder sind in Auftrag und für den ADN aufgenommen.

 

Auf dem Bild sind Kinder, die Bocksprünge machen zu sehen. 4. Volkssporttag DDR

 


Bildmontage; Originalbild: Bundesarchiv, Bild 183-72771-0001 / Foto: Ulrich Kohls


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Sport
„Breiten“- und Spitzensport spielten in der DDR eine große Rolle: Kinder und Jugendliche wurden bereits im Kindergartenalter von Ärzt*innen und Trainern danach begutachtet, wer später einmal als Leistungssportler*in ein(e) Turner*in, Ruder*in oder vielleicht doch Schwimmer*in (usw.) geeignet sein könnte. Wurde ein Talent entdeckt, so konnte der Weg über die Trainingszentren, Jugendsportschulen (KJS) bis hin zur Olympiade reichen. Neben den Volkssporttagen gab es ab 1965 die Spartakiaden, auf die sich die Sportclubs wegen des Schau-Charakters oft im Wettbewerb vorzubereiten versuchten. Hier nahmen insbesondere Kinder und Jugendliche teil, deren Leistung nicht ganz zum geförderten Leistungssport gereicht hatte und sie Sport eher aus Freude betrieben. Es gab Spartakiaden für Kindergartenkinder bis zu Senioren. [5] Die Motivation der breiten Gesellschaft zur regelmäßigen sportlichen Betätigung – selbst während des Urlaubes oder in Betrieben und betrieblich organisierten Sportfesten, wurde zur flächendeckender Aufforderung, die die DTSB bis in die kleinsten Fitnessaktionen dörflicher oder städtischer Natur förderte. Massensport in der DDR war wichtig und wurde in den verschiedenen Veranstaltungen immer mit politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen verknüpft, in der auch Olympiasieger gerne mal zu Wort kamen und diesen organisierten Sportveranstaltungen nach außen hin Glanz verleihen sollten. Die Sportveranstaltungen sollten zur Motivation der Menschen zu mehr sportlicher Betätigung dienen; die starke Verbindung der SED mit dem Alltagssport demonstrierte allerdings Walter Ulbricht in einer seiner berühmten Aussagen im Stadion des „Treffpunkt Olympia“ 1959: „Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport“. Diese Losung sei fortan als programmatische Orientierung für den Sportalltag der DDR betrachtet worden sein. [6]

Das in der Bildmontage verwendete Bild trägt folgende (original) Bildunterschrift: Zentralbild Kohls Ks-Noa 2.5.1960 4. Volkssporttage auch in der Stalinallee. Wie überall in der DDR so finden auch in Berlin vom 30.4. – 8.5.1960 die 4. Volkssporttage statt. Kleinfeldhandball-Turniere, Fußballkurzspiele, Volleyball, Kegeln, Gymnastik und viele andere Disziplinen stehen dabei auf dem Programm für den „Sport für jedermann“. UBz: Große Sprünge machen hier Schulkinder am Strausberger Platz.

Auf demBild ist die U-Bahnhaltestelle Berlin Hönow zu sehen

 

Bildmontage; Originalbild: Sludge G / Linie U5 Endstation – Hönow U-Bahnhof, Berlin DDR Jan 1990 / CC BY-SA 2.0


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Reise
Im Zuge zunehmender Wohnungsneubauten in Ostberlin sollte die U-Bahnlinie E (heute die U5) bis nach Hönow erweitert werden. Innerhalb von vier Jahren wurde die Linie zwischen 1985 und 1989 ausgebaut. Eine Fahrt vom Alex nach Hönow kostete 27 Pfennig und dauerte 37 Minuten. Heute ist die U5 immer noch die einzige U-Bahnlinie, die zwischen Alexanderplatz und Hönow und umgekehrt direkt verkehrt. [7] In Hönow angekommen stellte sich mir die Frage, ob und wie die Menschen außerhalb Ostberlins wohl verreist sein könnten.

DDR-Bürger*innen konnten über den in die ČSSR, nach Polen, Ungarn, Bulgarien und die UdSSR reisen. Aufgrund der geringen Anzahl zur Verfügung stehender Plätze konnte allerdings nur ein Drittel der nachgefragten Reisen in diese Hauptreiseländer vermittelt werden[8] Anfangs beschränkten sich die Reisen eher auf Rumänien und Bulgarien, wo die Menschen auf eigener Faust versuchten, die Landschaften zu erkunden. Später kam ein gewisser organisierter „Tourismus“ hinzu, welcher zunächst staatlich subventionierte (aber auch dementsprechend kontrollierte) Gruppen- und Einzelreisen durch Vermittlung ermöglichte. In der DDR selbst boten sich viele Landschaften als Erholung an. Unter diesen Gebieten waren Küstengebiete, die Mittelgebirge sowie Wald-Seen-Gebiete. Am attraktivsten und das am meisten frequentierte Gebiet war die Ostseeküste.[9]

Auf dem Bild unten sehen Sie die Endhaltestelle der U5 Linie „Hönow“.
Schieben Sie den Regler, um sich das volle Bild des Bahnhofes komplett anzuschauen. Im zweiten Bild sehen Sie eine fast komplett leere U-Bahn. Hönow war der östlichste Punkt meiner kleinen Bilderreise. Die DDR endete oder begann hier natürlich nicht. Über die neuen Bundesländer in der DDR-Zeit wurde in diesem Beitrag wenig bis gar nicht gesprochen. Die zunehmende Leere in der U-Bahn vom Strausberger Platz Richtung Hönow verband ich neben dem Staunen, wie eine U-Bahn tatsächlich leer aussehen kann (!) mit dem zunehmenden Unwissen über die heutigen neuen Bundesländer und die Geschichte ihrer Menschen. Schauen Sie sich gerne die Beiträge meiner Kommiliton*innen an, die hierzu andere Geschichten erzählen.

Das obige Bild trägt folgende Bildunterschrift:
The terminus of the newly extended U-Bahn line into the mushrooming suburbs of north east Berlin. It was only opened in July 1989, and I had read about it in the turgid pages of Kraftverkehr, an odd transport magazine sold in Kiosks, full of equations juxtaposed with fuzzy pictures of antediluvian IFA S4000 trucks and Ikarus buses.
This line is now known as the U5.

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Auf dem Bild ist die U-Bahnhaltestelle Berlin Hönow zu sehen

 

 

 Auf demBild ist eine leere Ubahn von innen zu sehen
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[1] Bild/O-Ton/Text: https://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/einblicke-in-die-sammlungen-1059.html 

[2] http://www.chronik-der-mauer.de/fluchten/
http://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/
https://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/grenzsoldaten-456,462,2.html

[3] Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): Die Karl-Marx-Allee zwischen Straußberger Platz und Alex, mit Beträgen von Peter Brandt u.a., Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd.6, Berlin 2005, S. 5 f., 95 f..

[4] Adam-Tkalec, Maritta: Stadtgeschichte. Als der Strausberger Platz 19 noch ein Paradies für Kinder war, in: Berliner Morgenpost, 09.01.17, URL:  https://bit.ly/2FnOjiq

[5] mdr.de/damals/archiv/artikel75384.html#sprung0

[6] Hinsching, Jochen (Hrsg.): Alltagssport in der DDR, Aachen 1998, S. 87-90.

[7] Adam-Tkalec, Maritta: Berlin und das U-Bahn-Netzwerk. Wie die U5 in der DDR den Nordosten erschloss, in: Berliner Zeitung, 19.03.18, URL: https://bit.ly/2FN9mNk

[8] Wolter, Heike: Reisen in der DDR, Erfurt 2011. S. 35

[9] Wolter, Heike: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR. S. 124-128, 130.

 

Bildrechte Beitragsbild: Ayse Kizilkulak