„Ich glaube immer noch daran“

Oder: Wie mein westdeutscher Vater die DDR sah

Eine Spurensuche anhand von Oral History Interviews mit meinem Vater Siegfried Nagel

Ein Beitrag von Luise Fakler

Über das Projekt

Mein Vater hat mir schon immer sehr viel aus seinem Leben erzählt. Über seine Kindheit im Teutoburger Wald und die abenteuerlichen Reisen nach Schweden. Über seinen Großvater, den Künstler, der mit seiner Frau und sieben Kindern in der kleinen Hütte im Wald lebte, in die wir heute noch in den Urlaub fahren. Über Namibia, das Land, in dem er nach seiner Bäckerlehre fünf Jahre verbrachte und von dem er immer noch schwärmt. Als ich ihm Anfang des Semesters von unserem Workshop zum Thema „Was ist geblieben – 30 Jahre nach dem Ende der DDR“ erzählte, war er richtig begeistert. Er begann mir ein bisschen von einem Kapitel seines Lebens zu erzählen, das bis dahin ganz neu für mich war: von den 1970er Jahren in Westberlin, der Zeit, in der er am Berlin-Kolleg sein Abitur nachholte und sich viel in linken, sozialistischen Kreisen bewegte. Mit der Gruppe Aktionsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten (ADS) nahm er unter anderem an Delegationen in die damalige DDR teil, in deren Rahmen man den Teilnehmer*innen bestimmte Aspekte des Systems zeigte, um Unterstützer*innen für den sozialistischen Staat zu gewinnen. Ich habe meinen Vater immer als Linken erlebt, aber über seine Sympathien zur DDR bzw. über seine Politisierung und die Zeit als junger Mann in Berlin wusste ich bis dahin noch so gut wie gar nichts. Ein paar Wochen später kam mir die Idee, ihn näher zu seinen Erinnerungen aus dieser Zeit zu befragen und daraus meinen Beitrag zu unserer Website zu entwickeln.

Diese Seite enthält verschiedene kurze Audio-Dateien mit Ausschnitten aus unseren Interviews, die man sich individuell anhören kann. Da mein Vater immer wieder betont hat, wie sehr seine frühen Lebensjahre und seine Zeit als junger Mann in Namibia ihn im Hinblick auf seine politische Einstellung geprägt haben, geht es im ersten Teil um diese frühen Jahre seines Lebens. Die anschließenden Ausschnitte behandeln die 1970er Jahre, die mein Vater in Westberlin verbrachte und in denen er sich politisch engagierte. Den größten Raum nehmen dabei die Erzählungen über die DDR-Delegationen ein, da es hier um das Kernthema des Projekts geht – die DDR und darum, wie mein Vater sie erlebt und gezeigt bekommen hat. Abschließend stehen zwei Audios, in denen für mich auch Antworten auf die Frage „Was ist geblieben?“ stecken.

Hinweis: Sofern nicht anders angegeben, stammen die verwendeten Bilder aus dem Privatbesitz meines Vaters.

Inhaltsverzeichnis

Wo die Geschichte anfängt…
Namibia in den 1960er Jahren
Westberlin, Anfang der 1970er Jahre
Delegationen in die DDR
Was ist geblieben?
Glossar

Wo die Geschichte anfängt…

Bei einer Tasse Tee für mich und einer Zigarette für ihn machten wir es uns in der Küche meines Vaters bequem, während ich begann, ihn näher zu seinem politischen Engagement und seinen Erlebnissen in Bezug auf die DDR zu befragen. Gleich zu Beginn unserer ersten Sitzung machte mein Vater deutlich, dass seine Beziehung zur DDR nur anhand seiner persönlichen Geschichte und der frühen sozialen und politischen Prägung durch seine Mitmenschen zu begreifen ist.

Jungen in Pfadfinder-Uniform
Mein Vater (ganz links) als Pfadfinder im Jahr 1959, die Organisation trennte sich später, die Gruppe trat dem Wandervogel bei

Einfluss der Wandervögel auf die politische Einstellung

Mein Vater als junger Mann liest in einem Buch
Mein Vater im Alter von 17 Jahren, 1963

Namibia in den 1960er Jahren

Mein Vater blieb bei den Wandervögeln aktiv, auch als er nicht mehr zur Schule ging und stattdessen eine Bäckerlehre begann. Nachdem er seine Lehre abgeschlossen hatte, wanderte er 1965 auf Einladung seines dort lebenden Onkels nach Namibia – das damalige Südwestafrika – aus. Der Grund für seine Reise war vor allem die Abenteuerlust, wie er sagt. In Namibia arbeitete er sowohl als Bäcker, als auch als Kolonnenführer beim Bau einer Kanalisation für Ondongwa, die Hauptstadt des Ovambolandes.

Erfahrungen mit der Apartheid

Da Namibia damals unter südafrikanischer Verwaltung stand, galten dort die Gesetze der Apartheid, mit denen mein Vater konfrontiert wurde. Es war ein tief verwurzelter Rassismus, auf dem das Gesellschaftssystem basierte – auch wenn laut meinem Vater nicht alle hinter diesem System standen.

Wusstest du vorher, was Apartheid bedeutet?

Namibier*innen in der DDR

Überrascht war ich, als mir mein Vater erzählte, dass einige Menschen, die aus Namibia stammten, in der DDR ausgebildet wurden.

1967 heiratete mein Vater und bekam im Jahr darauf einen Sohn. 1970 ließ er sich scheiden. Ein Jahr später fuhr er mit seiner neuen Partnerin ein Jahr lang durch Afrika und kehrte anschließend mit ihr nach Deutschland zurück.

Mein Vater mit seiner damaligen Partnerin
Mein Vater mit seiner Partnerin Christine in Namibia, damals Südwestafrika

Westberlin, Anfang der 1970er Jahre

Nachdem er sechs Jahre in Afrika verbracht hatte, kam mein Vater mit seiner damaligen Partnerin Christine 1972 nach Westberlin. Er arbeitete zunächst als Postbote bei der Bundespost.

Wie war es in den 70er Jahren in Westberlin?

Die 70er Jahre in Westberlin erlebte mein Vater als geprägt durch die Ostpolitik der Regierung Willy Brandts (SPD) und die vorausgegangenen Studierendenproteste der 68er-Generation. Viele seiner Freund*innen engagierten sich damals in politischen Gruppierungen wie der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) oder Studierendengruppen wie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).

Abitur am Berlin-Kolleg

Unter dem Einfluss seiner linken Freund*innen begann mein Vater, sein Abitur am Berlin-Kolleg nachzuholen. Dort trafen sich die Schüler*innen unter anderem in Arbeitskreisen, in denen sie sich intensiv mit den Karl-Marx-Bänden auseinandersetzten. Außerdem wirkte mein Vater bei der Herausgabe einer Zeitung mit.

Widmung für meinen Vater im Buch "Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution"
Widmung im Buch „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, das mein Vater von den Verwandten seiner Freundin Christine 1975 zum Geburtstag bekam

Karl-Marx-Arbeitskreise

Schüler*innenzeitung

Delegationen in die DDR

Mein Vater (Mitte, mit Hut) mit weiteren Leuten auf einer Delegation bei Halle
Mein Vater (Mitte, mit Hut) auf einer Delegation bei Halle, 1974

Besonders interessierte mich, mehr über die Delegationen in die damalige DDR zu erfahren, an denen mein Vater teilnahm. Schließlich besuchte er in diesem Rahmen nicht nur ein anderes Land, sondern setzte sich dezidiert mit dem politischen System dieses Staates auseinander. Da ich die DDR und die deutsche Teilung nie selbst erlebt, sondern nur medial vermittelt bekommen habe, war ich neugierig, wie er – zumal als westdeutscher Besucher – sich an seine Erfahrungen in der DDR erinnert.

Auch wenn unsere Gespräche lang und ermüdend waren, fand mein Vater doch immer wieder Gefallen daran, weiter zu erzählen.

An wie vielen Delegationen hast du teilgenommen?

Wie muss man sich so eine Delegation vorstellen?

Von der Friedrichstraße aus fuhren die Delegationen mit einem Bus über Ostberlin in verschiedene Städte in der DDR, wo ihnen z.B. Universitäten oder Wohnungsbauprojekte gezeigt wurden und sie oft sehr komfortabel untergebracht waren. Neben Diskussionen über die gezeigten Aspekte des Systems, wurde den Delegierten außerdem ein Kulturprogramm angeboten.

Schwarz-Weiß-Panorama von Halle-Neustadt im Jahr 1969
Wohnungsbau in Halle-Neustadt, 1969
Bundesarchiv, Bild 183-H0909-0009-001-T1 / Siegfried Voigt / 09.09.1969
CC BY-SA 3.0

Freizeit- und Kulturprogramm

Wie wart ihr untergebracht?

Interhotel Panorama vor blauem Himmel
Interhotel „Panorama“ in Oberhof, 1977
DDR-Postkarten-Museum; Fotograf: Burghard (Auslese-Bild-Verlag)

Wie hat man euch die DDR gezeigt?

Die Delegationen beeindruckten meinen Vater stark und in vielen Aspekten auf positive Weise. Gleichzeitig war er sich der einseitigen Präsentation und den Schwächen des Systems sowie der Unzufriedenheit vieler DDR-Bürger*innen bewusst.

Was ist geblieben?

In Orientierung am übergeordneten Titel unseres Website-Projekts habe ich in den folgenden Ausschnitten Antworten auf die Frage „Was ist geblieben?“ gefunden.

Die auf dieser Seite präsentierten Ausschnitte aus unseren Gesprächen zeigen, dass die Sympathie meines Vater für die DDR ganz wesentlich auf politisch linken, sozialistischen Überzeugungen beruhte. Auch wenn die DDR nicht mehr existiert und diese für meinen Vater ohnehin nicht umgesetzt hatte, so scheinen ihm diese Überzeugungen doch geblieben zu sein. Was für mich persönlich bleibt, sind vor allem die neuen Eindrücke durch die Gespräche, die sowohl mein Bild von meinem Vater, als auch meine Vorstellungen von der DDR und der Geschichte der deutschen Teilung verändert und erweitert haben. Seine Kindheit und der Lebensabschnitt in Namibia, worüber ich vorher schon viel gehört hatte, kamen für mich nun in einen größeren Zusammenhang mit seiner politischen Einstellung und Aktivität. Aus den Erzählungen von seiner Zeit als junger Mann in Berlin und den Delegationen, an denen er teilgenommen hat, höre ich einerseits heraus, wie ernst er die politische Idee und die Ideale des Sozialismus genommen hat und wie bewusst es ihm andererseits war, dass es der DDR nicht gelang, diese Ideale zu verwirklichen.

Natürlich macht dieses Projekt nur einen kleinen Ausschnitt der Interviews sichtbar, die ich mit meinem Vater für dieses Projekt geführt habe. Seine Geschichten waren voller weiterer spannender Anekdoten und „längerer Betrachtungen der Weltgeschichte“, denen man seine Lust am Erzählen anhört. Ich habe gespürt, dass es für meinen Vater eine große Freude und eine Ehre war, mit seinen Geschichten auf mein Interesse zu stoßen. Meine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte und seinen politischen Idealen scheint ihn sehr berührt und bewegt zu haben: Zu meinem Geburtstag schenkte er mir das Buch „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, das er damals von seinen Freund*innen geschenkt bekommen hatte.

Mein Vater und ich im Sommer 2015
Mein Vater und ich im Sommer 2015

Glossar

Wandervogel:

im 19. Jahrhundert gegründete Jugendbewegung, durch Naturverbundenheit und Ideale der Romantik geprägt.

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Namibia (ehemals Südwestafrika):

1884-1920 deutsche Kolonie Südwestafrika, ab 1920 unter südafrikanischer Verwaltung, seit 1990 unabhängige demokratische Republik unter dem Namen Namibia.

Auch wenn es in diesem Projekt um die Zeit vor 1990 geht, verwende ich hier den Namen Namibia.

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Ovamboland:

Gebiet, in dem die Ovambos – die größte Bevölkerungsgruppe Namibias bzw. Südwestafrikas – lebten und leben. 1968 bis 1990 durch die südafrikanische Regierung als Homeland institutionalisiert. Der Begriff stammt aus der deutschen Kolonialzeit.

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Apartheid

Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte Rassentrennung zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben in Südafrika und somit auch im von Südafrika verwalteten Namibia (damals Südwestafrika). In Namibia endete die Apartheid (zumindest offiziell) mit der Unabhängigkeit 1990, in Südafrika dagegen erst 1994.

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Kraal

traditionelle Siedlungsform v.a. im südlichen Afrika; kreisförmige Siedlung mit einer streng geregelten sozialen Struktur

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68er / Studierendenproteste in den 1960er Jahren


politisch linke, gesellschaftskritische Bewegung in den späten 1960er Jahren. Ihre Proteste richteten sich unter anderem gegen den Autoritarismus ihrer Elterngeneration, ehemalige Nationalsozialist*innen in hohen staatlichen Ämtern und den Krieg in Vietnam. Die Studierenden forderten mehr politische Mitbestimmung, Gleichberechtigung von Frauen* und Männern* und die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen.

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Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW)

kommunistische Partei in Westberlin, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR angeleitet und finanziert wurde. Ihre Wahlergebnisse bei Berliner Abgeordnetenhauswahlen lagen Anfang der 70er Jahre bei ca. 2 %.
Eine mit SEW-Hochschulgruppen kooperierende, jedoch eigenständige linke Hochschulorganisation bildete die Aktionsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten.

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Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)

1946 als Hochschulverband der SPD gegründeter Studierendenbund, wurde 1961 aus der Partei ausgeschlossen und bildete bis zu seiner Auflösung 1970 die einzige parteiunabhängige sozialistische Hochschulorganisation in Deutschland.

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Halle-Neustadt

seit 1964 als eines der größten DDR-Bauprojekte errichtete sozialistische Modellstadt und heute Stadtteil der Stadt Halle (Saale). Die neu entstandenen Plattenbauten waren vor allem für die Unterbringung von Arbeitskräften in der DDR-Chemieindustrie vorgesehen.

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Technische Universität Ilmenau

Ende des 19. Jahrhunderts als Ingenieurschule Ilmenau gegründete Hochschule. In der DDR war sie als Hochschule für Elektrotechnik (seit 1953) und Technische Hochschule (seit 1963) für die Ausbildung von Diplom-Ingenieur*innen bedeutsam und genoss auch international hohe Anerkennung. Seit 1992 ist sie Technische Universität, die zahlreiche Bachelor- und Masterstudiengänge anbietet.

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