Ein kleines Dorf in Nordfriesland erinnert sich

Ein Beitrag von Berit Pohns

Rantrum ist ein kleiner, beschaulicher Ort in Nordfriesland. Die meisten Leute sagen sich hier beim Spazieren gehen noch „Guten Tag“ oder man grüßt durch ein knappes „Moin“. Dieses Dorf ist nicht nur der Ort, an dem ich groß geworden bin, auch meine Eltern sind hier geboren und aufgewachsen. Ebenso sind ihre Eltern „waschechte Nordfriesen“. Nur mein Opa, der Vater meiner Mutter, ist kein Urgestein aus Rantrum und damit fast schon so etwas wie ein Exot. Mein Opa ist in Blankenfelde großgeworden und somit in einem Teil Deutschlands, der später die DDR geworden ist. Er verließ Blankenfelde vor dem Mauerfall und ging nach Nordfriesland, wo er meine Oma kennenlernte und blieb. In der DDR zurück blieben Erinnerungen und ein Stück Heimat.

Nachdem ich im letzten Jahr für das Studium nach Berlin gezogen bin, ist mir schnell aufgefallen, wie wenig ich über die Geschichte von Ost- und Westberlin weiß. Ich kannte zwar einige wichtige Daten, genauer beschäftigt habe ich mich mit dem Thema aber weder in der Schule, noch privat. Hin und wieder gab es Dokumentationen im Fernsehen, aber eine richtige Vorstellung von einem Leben in der DDR hatte ich nicht. Ich begründete es damit, dass ich erst nach der Wende geboren wurde und nicht nah genug an Berlin aufgewachsen bin. Bei einem Besuch meiner Eltern erzählte ich beiden von meiner These. Schnell kamen wir in eine Diskussion darüber, inwieweit das Thema DDR in Rantrum überhaupt eine Rolle gespielt hat. Ging es nur mir so, dass ich zu wenig wusste und nie sonderlich viel Interesse an der Thematik hatte? Oder war Rantrum einfach zu weit weg, zu klein, zu sehr auf dem Land, als dass es das große Geschehen im Blick hatte?

Interessierte es jemanden in diesem kleinen Dorf, was da am anderen Ende Deutschlands vor sich ging? Wurde es in der Schule besprochen, vielleicht sogar kritisiert? Hat es privat Menschen in Rantrum beeinflusst? Und wenn ja, welche Assoziationen haben sie zu diesem Teil der Geschichte Deutschlands, die irgendwie auch ihre Geschichte ist? Und irgendwie auch nicht…. Ich begann mich auf die Suche und wollte wissen:

Wenn du an die DDR denkst, an was erinnerst du dich?

Hans Jürgen Dau-Schmidt

Unmittelbar in der Nachbarschaft wohnt Hans Jürgen Dau-Schmidt. Meine Eltern kennen ihn schon lange. Ich solle ihn fragen, wenn ich genaueres wissen möchte, er würde bestimmt gern Auskunft geben.

Hans Jürgen, Jahrgang 1934, ist gut auf das Gespräch über die DDR vorbereitet. Bereits im Vorfeld hat er um die Fragen gebeten, auf dem Tisch in der Küche liegen Stapelweise Bücher zur DDR Geschichte.
„Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ich weiß ja auch nicht mehr alles aus dem Kopf.“, sagt er. Es gibt Plätzchen und Cappuchino und unmittelbar beginnt er zu erzählen: „Die DDR wurde uns durch die Presse als nicht gerade menschenfreundlich dargestellt. Es waren nicht die Menschen oder das Land, die wir damals ablehnten. Es war das kommunistische System. Das wahre Gesicht zeigte die DDR-Regierung ja schon 1953, als die Bevölkerung auf die Straße ging. Der Aufstand wurde mit russischer Hilfe blutig niedergeschlagen.“

Es dauert ein bisschen, bis wir über meine eigentlichen Fragen sprechen. Was genau ist seine persönliche DDR-Geschichte? Ich wusste bereits, dass sein Sohn seinen Meister als Tischler gemacht hatte. Direkt nach der Wende ging er in die ehemalige DDR, genauer gesagt nach Waren in Mecklenburg-Vorpommern, weil es dort als Tischler wohl gute Möglichkeiten für ihn gab.

Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, seine Notizen für unser Gespräch
Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, Tischlerei des Sohns in der DDR
Privatbesitz Karl Heinz Schüttpelz, linkes Bild: das erste Bauprojekt in der DDR, rechtes Bild: Sein Sohn arbeitet als Tischler in der DDR, Jahr 1990


„Arbeit gab es da für ihn genug“, erzählt Hans Jürgen, „Er hat dann da mit seiner Familie ein Haus gekauft und eine eigene Firma aufgebaut. 20 Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR hat er dort beschäftigt. Es bestand ja ein großer Bedarf.“
„Und was hast du damals gedacht, als dein Sohn in den Osten gezogen ist?“, möchte ich wissen. „Ich hatte ein bisschen Sorge, dass er dort nicht gut aufgenommen wird. Aber die Sorge war unbegründet. Er wurde sofort akzeptiert.“ Hans Jürgen und seine Frau haben ihren Sohn 1990 direkt das erste Mal besucht. Aus vielen Gesprächen mit den damaligen Mitarbeiter*innen, mit Nachbar*innen und Freund*Innen seines Sohnes berichtet er: „Die größte Lüge der DDR war die Aussage ‚Gleiches Recht für alle‘. Das galt nur für die Oberschicht, die kleinen Leute, die Tischler zum Beispiel oder die Verkäufer, die hatten es schwer.“

Und wenn er, aus heutiger Sicht, beurteilen sollte, ob die Wiedervereinigung für ihn Schaden oder Nutzen gebracht hat?
„Meinem Sohn hat es genutzt.“

Marlene Schüttpelz

Privatbesitz Marlene Schüttpelz, Reisepass ihrer Mutter mit Stempeln aus der damaligen DDR

Marlene Schüttpelz ist meine Tante. Sie ist gerade 70 Jahre alt geworden. Demnach erinnert sie sich noch an die Zeit, als es zwei deutsche Staaten gab. Durch meine Mama kannte ich die Geschichte meines Opas bereits in groben Zügen. Aber da Marlene einige Jahre älter als meine Mutter ist, erinnert sie sich noch ein wenig klarer an die Zeit.

„Ich erinnere mich, dass Mama und Papa immer Carepakete zusammengestellt haben. Mit Kaffee und all solchen Sachen. Da musste immer ganz exakt aufgelistet werden, was in den Paketen enthalten war.“ Nachdem Marlene ihre Tochter Bettina zur Welt gebracht hatte, bekam sie auch mal Post aus der DDR. Eine Freundin ihrer Eltern wollte der Kleinen etwas zur Geburt schenken. Das Problem dabei, so beschreibt sie die Lage, sei gewesen, dass sie zurzeit keine Kinderkleidung in den Geschäften gefunden habe. Also musste Gratulationspost genügen. Mein Opa und meine Oma sind sogar in die DDR gereist um sich die ehemalige Heimat meines Opas anzusehen. Marlene hat den Reisepass ihrer Mutter aufgehoben. Die Stempel dokumentieren die Ein- und Ausreise.

Darauf angesprochen, ob Marlene sich damals viel mit der DDR auseinandergesetzt hat, da ihre Familie ja direkt von der Trennung betroffen gewesen sei, schüttelt sie den Kopf und formuliert es schmunzelnd so: „Berlin, das war damals ganz weit weg für uns. Hamburg war ja schon so weit weg. Für uns war es gar nicht richtig interessant, was noch weiter weg passierte. Natürlich hab ich mitbekommen, dass Papa mal über das eine oder andere gesprochen hat. Aber wir waren mit uns beschäftigt. Mit unserem Leben hier.“

Sönke Pohns

Das Gespräch mit meinem Vater Sönke über die DDR war eigentlich nicht geplant und findet ganz spontan in unserer Küche beim Frühstück statt. Ich erzähle ihm von meinen bereits geführten Gesprächen, von den Projekten der Kommilitonen und von meinem Eindruck, dass hier, im hohen Norden, die DDR trotz einiger persönlicher Verbindungen, gar nicht so eine bedeutende Rolle gespielt hat.
„Was ist denn von der DDR für dich geblieben, Papa?“
„Für uns hier oben ist nur der Soli geblieben, mehr nicht.“ Über seine Antwort muss ich schmunzeln, will es aber dennoch genauer wissen:
„Was wusstest du im Allgemeinen denn von der DDR?“, frage ich ihn und er berichtet, dass alle im Dorf von der ‚Mauer da irgendwo im Osten wussten‘, aber so richtig interessiert hatte man sich in seinem Freundeskreis nicht dafür.

„Als ich zur Handelsschule gegangen bin, sind wir auf Klassenfahrt in Berlin gewesen und haben auch Ostberlin besucht. Wir mussten durch den Checkpoint Charlie. Ich erinnere mich noch gut an die Passkontrolle. Die Passabfertigung erschien uns unheimlich lang. Wir mussten den sogenannten Zwangsumtausch von damals so 20 DM machen, damit sollte man dann einkaufen. Man konnte das Geld aber gar nicht ausgeben. Das Restgeld durfte man aber nicht wieder mit zurück nehmen. Und der Geruch war von den ganzen Trabbis sehr schlecht. Es war irgendwie beklemmend und man war schon froh, als man dann wieder zurück in Westberlin war.“

Er erzählt noch ein bisschen mehr von seinen Eindrücken der DDR, die sich im Wesentlichen nicht von denen von Hans-Jürgen unterscheiden: Graue Häuser, Plattenbauten.

Und was ist nun von der DDR geblieben? In Nordfriesland, in Rantrum?

Nach den Gesprächen versuche ich, das Gehörte zu ordnen. Rantrum, knapp 260 Kilometer von der ehemaligen Grenze der DDR entfernt. 570 Kilometer zur innerberliner Grenze. Ein großer Abstand zur Geschichte, aber nicht groß genug, als dass nicht alle drei Interviewten irgendwie mit der DDR in Berührung gekommen sind. Dennoch bleibt zusammenfassend der Eindruck, dass das Thema DDR, Wende und Wiedervereinigung kaum Einfluss auf das Leben der Menschen in Rantrum genommen hat.

Ich stelle am Ende der Interviews allen drei Interviewpartner*innen die gleiche Frage: „Denkst du, dass es dich in deinem Leben beeinflussen würde, wenn es die DDR noch geben würde?“ und bekomme von allen die gleiche Antwort: „Nein. Letztendlich nicht wirklich.“

Sie sind zwar alle froh, dass der Zusammenschluss friedlich verlief. Sie reisen gerne mal nach Dresden, nach Berlin oder Leipzig. Aber geblieben ist hier nur eine leise Erinnerung an eine Mauer, die Deutschland in zwei Seiten trennte, dass es „damals dort drüben nicht viel gab.“