Unsichtbare Mauergeschichten

Was von der DDR bleibt? Die Geschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen!

Ein Beitrag von Jona Schapira und Tuba Arıkan

Anwohner*innen der Grenzhäuser an der Sebastianstraße, 10. August 1978
Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski

Den Verlauf der Berliner Mauer kann man heute durch eine Doppelpflastersteinreihe, die in die Berliner Straßen gelassen wurde, nachvollziehen. Schaut man vom Straßenboden wieder nach oben, wird im Westteil der Stadt erkennbar, wie nah die Mauer an den Wohnhäusern stand. Im West-Stadtbezirk Kreuzberg wohnten in diesen Häusern oft die Familien und Nachkommen der sogenannten türkischen Gastarbeiter. Sie etablierten ein spezifisches Lebensgefühl, welches die Berliner West-Bezirke nachhaltig prägen sollte.

Die Geschichte der Berliner Mauer und der Berliner Deutsch-Türk*innen ist, so zeigt bereits das Beispiel, eng miteinander verzahnt. In der deutschen Erinnerungskultur spiegelt sich das jedoch nicht wider.

Am 31.Oktober 1961, nur zwei Monate nach dem Mauerbau, schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Man wollte durch Arbeitsmigration den Verlust der Arbeitskräfte aus Ostdeutschland ausgleichen. Einige der „Gastarbeiter“ gingen nach ihrem Arbeitsaufenthalt zurück in ihre Herkunftsländer, andere blieben in Westdeutschland. Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wurde ein Wendepunkt für die Deutsch-Türk*innen eingeleitet – Grenzen der Zugehörigkeit wurden neu definiert. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre inkludierte Ostdeutsche als „ethnische Deutsche“ und exkludierte Immigrant*innen als das „Andere“. Im kollektiven Gedächtnis der Deutsch-Türk*innen verbreitete sich die Gewissheit, dass sie niemals „dazugehören“ würden. Die Beziehung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Migrant*innen erlebte eine Zäsur, die ihren erschütternden Höhepunkt in den Pogromen der 1990er-Jahre fand.


Der Dokumentarfilm „Paranthesis“

Mehmet Ercan drehte im Zeitraum von 2009 bis 2011 den Dokumentarfilm „Parenthesis“. Der Film entstand im Zusammenhang mit seiner Masterarbeit „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“ im Fach Turkologie an der Freien Universität Berlin. In seiner Dokumentation zeigt Mehmet Ercan die Mauergeschichten von 13 Zeitzeug*innen. Die erzählten Geschichten sind so verschieden, wie die Zeitzeug*innen selbst. Was sie alle eint, sind ihre deutsch-türkischen Biografien.

Exemplarisch werden hier die Geschichten von Kadriye Taşcı, Hasan Toğrulca, Emine Koçyiğit und Bekir Kılıç gezeigt. Die Filmausschnitte sollen dazu beitragen, die Mauergeschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen innerhalb der deutschen Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Was von der DDR bleibt? Die Geschichte der Berliner Deutsch-Türk*innen!

Vier unsichtbare Mauergeschichten -- Filmausschnitte

„Ich war Mitglied der kommunistischen Partei in der Türkei. […] Es ist nicht nur der Fall einer Mauer, sondern eines ganzen Regimes. Viele Fragen befanden sich in der Schwebe. Was wird mit uns passieren, mit der Partei, mit dem sozialistischen Regime?“ Kadriye Taşcı

„Die Berliner Mauer habe ich 1979 kennengelernt. […] Ich landete am Flughafen Schönefeld (Ostberlin). Ich wartete stundenlang. […] Nach zwei Stunden haben sie mich in einen Bus gesteckt. Als wir an der Grenze ankamen, dachte ich, sie bringen mich ins Gefängnis. […]“ Hasan Toğrulca

„Wir wohnten an der Köpenicker Straße in Kreuzberg. […] Meine Eltern warnten uns vor dem Kanal. Sie sagten, wenn wir reinfallen sollten, könne uns niemand retten. […] Tatsächlich patrouillierten Grenzboote im Wasser mit Grenzsoldaten, die schossen, sodass keiner helfen konnte.“ Emine Koçyiğit

„»Warum darf Peter in der ersten Mannschaft spielen und ich nicht«, fragte ich. Weißt du, was der Mann antwortete? Er sagte: »Du bist Türke, er ist Deutscher. Eines Tages wirst du vielleicht gehen. Er ist hingegen Deutscher. Er gehört zu uns. Er wird hier bleiben.«“ Bekir Kılıç


Interview mit dem Filmemacher Mehmet Ercan

Bitte stell dich kurz vor!

Ercan: Mein Name ist Mehmet Ercan. Ich beschäftige mich mit Film und Anthropologie und bin immer noch Doktorand an der Freien Universität Berlin.

Erzähl uns von deinem deutschen Abenteuer! [Diese Frage stellte Mehmet Ercan bei seinen Dreharbeiten zu „Paranthesis“ immer als Eingangsfrage.]

Ercan: Ich bin seit ungefähr 14 Jahren in Deutschland. Ich war am Anfang nur für einen einjährigen Sprachkurs gekommen und genau wie die im Ausländerbüro erteilten Jahresgenehmigungen, wurde mein Abenteuer auch Jahr für Jahr fortgesetzt.

Wieso war das Thema deines Films für dich wichtig?

Ercan: Um ehrlich zu sein erinnere ich mich nicht wirklich, warum ich mich für das Thema entschieden habe. Wie du sagst, es sind schon 10 Jahre her. Wir sind ja in 2019. Also es war ja im Jahr 2009, 20. Jahrestag der Fall der Berliner Mauer. Damals musste ich wohl ein Thema für die Master-Thesis finden, hatte aber kein Budget für ein anderes Filmprojekt. Deshalb habe ich das gewählt, nehme ich an.

Welche Bedeutung hatte es für dich als Türke in Deutschland, Deutsch-Türk*innen zu interviewen?

Ercan: Das Befragen von Türk*innen in Deutschland für einen Film ist nicht sehr unterschiedlich im Vergleich zu meinem alltäglichen Leben. Normalerweise führe ich immer ähnliche Befragungen von Menschen um mich herum durch, einfach aus Neugierde heraus. Fast alle Protagonisten in dem Film waren ja schon Bekannte oder Freunde von mir. Es war aber deswegen interessant, weil es sich diesmal um ein konkretes und einheitliches Thema handelte. 

Welche Mauergeschichten waren für dich am einprägsamsten?

Ercan: Ich fand ja alle Mauergeschichten, die im Film zu sehen sind, sehr einprägsam. Deswegen habe ich mir es erlaubt, dass sie beim Endschnitt alle noch zu sehen sind. Zuschauer*innen sollten wissen, dass der endgültige Film stark geschnitten und editiert wurde, fast wie ein „Fiction-Film“. Nur weil das Genre „Dokumentarfilm“ heißt, bedeutet es nicht, dass keine „Redaktion“ dahinter steht. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass die einprägsamsten Geschichten „off-the-record“ erzählt wurden und deswegen entweder rausgelassen werden mussten oder nicht einmal aufgenommen werden konnten.

Es sind 10 Jahre vergangen seitdem du den Film gedreht hast. Was hat sich seitdem deiner Meinung nach geändert?

Ercan: Es gibt immer noch keine Recherche, Filme und Bücher darüber, was ich damals „zufälligerweise“ zum Teil recherchiert habe. Ich wollte ja, wie gesagt, bloß mein Magisterstudium endlich zu Ende bringen und bin deswegen auf das Thema gestoßen. Und zehn Jahre später befindet sich dieses Mal Tuba in einer ähnlichen Situation und so geht der Staffellauf irgendwie weiter. Sonst sehe ich aber kein ernsthaftes Interesse, weder auf der Seite der Türkei / Deutschlands, noch auf der Seite der türkischen Community, dieses Kapitel der Geschichte weiter zu recherchieren und zu dokumentieren. Es sind immer ein paar „amateure“ Individuen.

Was bleibt für dich von der DDR?

Ercan: Auf der einer Seite nur die Geschichten, die ich von meinen Protagonisten und anderen Leute gehört habe und auf der anderen Seite die krassen Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern, die man merkt, wenn man irgendeine „Infografik-Map“ zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Gender usw. sieht.

Der Filmemacher Mehmet Ercan, Foto: Privatbesitz Mehmet Ercan

Grenzen der Zugehörigkeit -- Essay

Feuerwerk, Jubel, Deutschlandfahnen, Menschen reichen sich die Hände. Eine erste Online-Bildrecherche fasst das Narrativ der deutschen Erinnerungskultur zur Wiedervereinigung zusammen: Die Geschichte eines Erfolges. Schaue ich mir die deutschen Erfolgsbilder genauer an, dann suche ich vergeblich die Geschichten meiner jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihrer Familien. Ich suche die Geschichten der Minderheiten in den 1990er-Jahren in Deutschland – und finde sie nicht. Nicht in den Ausstellungen, die ich besuche. Kaum in den Büchern, die ich lese.

Während die Berliner Mauer 1989 fiel, blieb eine andere erhalten – sie heißt Rassismus und bekam nun einen neuen Anstrich. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre schuf neue Grenzen der Zugehörigkeit und leitete damit einen Wendepunkt für all diejenigen ein, die nicht zu „ethnischen Deutschen“ gezählt wurden. Während ehemalige Ost- und Westdeutsche zum „Wir“ im entstehenden „Volk“ gehörten, wurden all diejenigen, die als Migrant*innen gelesen wurden, erneut zum „Anderen“.

Ich finde in den Erfolgsbildern der Wiedervereinigung nicht die Geschichten der Minderheiten wieder. Aber ich finde etwas anderes: Es sind die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die Bevölkerung und die Lebensstile in West- und Ostdeutschland erfuhren durch die Anwerbeabkommen beider deutschen Staaten eine Diversifizierung. Die größte Gruppe der „Gastarbeiter“ in West-Deutschland machten Türk*innen aus. In West-Berlin wurden diese häufig in Wohngegenden direkt an der Mauer angesiedelt. Es ist also davon auszugehen, dass viele Deutsch-Türk*innen konkrete Erinnerungen an das Leben mit der Berliner Mauer und den Mauerfall haben müssen. Dennoch sind ihre Geschichten kaum präsent. Sie sind kein Teil der deutschen Erinnerungskultur. Wie ist das in Hinblick auf die Größe der deutsch-türkischen Community möglich? Was sagt es über die deutsche Erinnerungskultur aus, wenn die Geschichten der Minderheiten nicht erzählt werden?

Es bleibt eine Vermutung: Die deutsche Gesellschaft und damit auch ihre Erinnerungs- und Geschichtskultur ist rassistisch. Die Frage, welche Geschichte und Geschichten erforscht, erinnert und erzählt werden und welche nicht, findet eine Antwort auch in den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen. Ich möchte nicht nur die Bilder der Weißen mehrheitsdeutschen erfolgreichen Wiedervereinigungsgeschichte finden. Im Gegenteil: Ich will sehen und Teil davon sein, wie die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur mit Mut, Kraft und Wut und mit antirassistischen Hämmern eingerissen werden. Und dann mit all meinen jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihren Familien auf den Trümmern tanzen.


Grenzhäuser und -mauer an der Sebastianstraße , 10. August 1978
Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski


Materialliste

Fachliteratur

  • Cil, Nevim: Topographie des Außenseiters. Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin 2007.
  • Ercan, Mehmet: „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“, Berlin 2011 [unveröffentlichte Masterarbeit].
  • Huneke, Dorte: Von der Fremde zur Heimat. 50 Jahre deutsch-türkische Anwerbeabkommen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei, 24.10.2011. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/43161/von-der-fremde-zur-heimat, letzter Zugriff 13.03.19.
  • Mandel, Ruth: Cosmopolitan Anxieties. Turkish Challenges to Citizenship and Belonging in Germany, Duke University Press 2008.
  • Tügel, Nelli: Das Land ihrer Träume? Türkeistämmige politische Emigrant_innen in der DDR, Berlin 2014.

Zeitungsartikel

  • Woltersdorf, Adrienne: „Die Mauer fiel uns auf den Kopf“, Interview mit Nevim Cil, in: TAZ, Berlin 2004. http://www.taz.de/!677266/, letzter Zugriff 25.03.19.

Filme

  • Candan, Can: Duvarlar-Mauern-Walls, 2000.
  • Ercan, Mehmet: „Paranthesis“, Berlin 2011.
  • König, Jana/ Steffen, Elisabeth/ Turczyn, Inga: Mauern 2.0. Migrantische und anti-rassistische Perspektiven auf den Mauerfall, Berlin 2013.
  • RBB: 1975. Türken in Kreuzberg, in: Die Berliner Mauer. Geschichte in Bildern, 2014. https://www.berlin-mauer.de/videos/gastarbeiter-aus-der-tuerkei-in-kreuzberg-640/, letzter Zugriff 25.03.19.