DDR in drei Stunden

Ein Beitrag von Lucas Frings, Malte Grünkorn, Emanuel Weitmann

Plötzlich Touri! An einem sonnigen Wintertag treffen wir uns am Brandenburger Tor, drei Stunden „Communist Berlin and Berlin Wall Tour“ stehen uns bevor. Wir buchten vorab, in der Kurzbeschreibung wurde eine akkurate Darstellung des Lebens in der DDR versprochen – „the good as well as the bad“. Schon bei der Buchung hatten wir gemerkt, dass das Angebot von kommerziellen Touren zur DDR-Geschichte – zumal im Winter – überschaubar ist. Radtouren, bei denen deutlich mehr Orte angesteuert werden, beginnen erst im April. Eigentlich wollen wir verschiedene Touren buchen, merken dabei aber rechtzeitig, dass unterschiedliche Unternehmen dieselben Führungen der gleichen Guides rebranded verkaufen.

Geschichte und Tourismus, it’s a match – and a business! Das fand auch Valentin Groebner, in seinem Buch „Retroland“. Er fragt sich darin, wie das aussieht, „wenn Monumente und Ereignisse aus der Vergangenheit als Zeugen lokaler ‘Identität’ und Echtheit vermarktet werden“. Es geht um das Banale, das was einfach da ist, aber aufregend gemacht wird. Um Monumentalisierung, die bei Groebner ein Verfügbarmachen der Stories und Deutungen von Orten in konsumierbaren Portionen ist. Da wollen wir dabei sein, das wollen wir erleben. Denn was bleibt von der DDR, ist das, was gekauft wird und das was performt wird, so unser Gedanke. Als Touristen wollen wir Geschichten über Spies und deren Gadgets (Giftspitzen-Regenschirme), herzzerreißende Familienschicksale und tragische Todesfälle an der Mauer erfahren, wie uns der Flyer zur Führung verspricht. Wir wollen dabei sein während Berlin zum stadtgewordenen Symbol der Freiheit und Unfreiheit wird.

Und wer wird das wem erzählen? Wie wird unser Guide (historische) Orte in die Erzählung einbinden? Welches DDR-Narrativ wird vermittelt? Häufig wird die DDR entweder als reine Unterdrückungsgeschichte durch ein zynisches und totalitäres Regime, oder in einer Art ostalgischer Verharmlosung erzählt. DDR-Geschichte bleibt unter einer “Käseglocke”, losgelöst von deutsch-deutschen oder globalen Entwicklungen, wie die Kulturwissenschaftlerin Carola Rudnick im März bei einer Podiumsdiskussion zu dem Thema “DDR neu erzählen!” anmerkte.  

Und das alles in drei Stunden?


Unser Tourguide Sam am Spreeufer.
Unser Tourguide Sam am Spreeufer © Malte Grünkorn

Unseren Guide Sam schüchtern wir direkt ein bisschen ein. Er ist Student, wie wir, lebt ungefähr zwei Jahre in Berlin. Wir werden die nächsten Stunden mit ihm verbringen und ihn einige Wochen später erneut treffen, um mit ihm über die DDR, Tourguiding und was ihn als Brite an deutscher Geschichte fasziniert zu sprechen. Warum gehen drei in Deutschland aufgewachsene Geschichtsstudierende auf eine Tour über deutsche Geschichte? Ob wir ihn nun prüfen und korrigieren werden? Wir beteuern anfangs, nur wenig über DDR-Geschichte zu wissen, was – na klar – geflunkert ist.

Nach einem Abriss der Nachkriegsgeschichte bis in die 50er Jahre mit Blick aufs Brandenburger Tor begeben wir uns zur einst sowjetischen, heute russischen Botschaft. Um seine Ausführungen verständlich zu machen, bricht er komplexe Zusammenhänge herunter, spricht von “East and West” anstelle der Besatzungszonen. Die meisten Besucher*innen, sagt Sam, hätten eine „background info“, nicht unbedingt richtiges Wissen, aber eine Idee oder eine Imagination, ein „inherited knowledge“, dass aber bei den allermeisten Besucher*innen deutlich geringer sei, als das Wissen über den Nationalsozialismus. Während es für jüngere Besucher*innen vor allem ein Entdecken vergangener Geschichte ist, bildet für ältere Menschen aus Mittel- und Osteuropa die Tour einen starken Kontrast zu dem Bild des modernen Idealstaats DDR mit dem sie aufgewachsen sind.

Aus dem baufälligen Gebäude der ehemaligen amerikanischen Botschaft wird durch Sams Erzählung ein Spionagestützpunkt. Von hier aus ist auch der Fernsehturm zu sehen. Auf dem weithin sichtbaren Symbol einer modernen DDR ist im Sonnenschein ein Kreuz auszumachen. It cannot be unseen, laut Sam einer der Lieblings-Fun-Facts von Tourguides. Das Kreuz am Turm stehe auch für die Widersprüchlichkeit der DDR, für Grenzen der Planbarkeit und Herrschaft. In einem Staat, in dem abweichende Gruppen wie beispielsweise die Kirchen gewaltvoll unterdrückt worden sind, wurde das markante Kreuz auf dem Ersatzkirchenturm zur “Rache des Papstes”. Dabei sollte die Kugel eigentlich an den Erfolg des Sputnik-Satelliten erinnern

Die „Rache des Papstes“ auf dem Berliner Fernsehturm © Malte Grünkorn

Wir gehen weiter zur Friedrichsstraße. Am Spreeufer sprechen wir über den Mauerbau, und Fluchtmöglichkeiten in die BRD. Sam erzählt von Günter Litfin, dem ersten Mauertoten, der beim Versuch die Spree zu durchschwimmen von DDR-Grenzbeamten erschossen wurde. Aus der Spree wird eine Todesort. Unser Guide hat eine systematische Vorgehensweise, er beginnt mit umfangreicheren Themen auf der Makroebene, etwa der geopolitischen Lage, die die UdSSR ermutigte den Mauerbau abzusegnen. Nach und nach bricht er es auf die Mikroebene und persönliche Geschichten herunter – der emotionale Zugang als kleinster gemeinsamer Nenner der Verständnis- und Empfindungsebene seiner Zuhörer*innen.

Kurz danach entlässt uns Sam in die Ausstellung im Tränenpalast. Der anschließende Kaffee schmeckt uns viel besser, mit dem Wissen über die ehemals weite Verbreitung von „Erichs Krönung“, dem DDR Ersatzkaffee. Wir steigen in die S-Bahn zum Nordbahnhof. In dessen Untergeschoss sprechen wir über die Geisterbahnhöfe, die durch die Teilung Berlins entstanden. Im Streckennetz und in den Bahnhöfen sieht man noch viele Überreste der DDR, so Sam.

Die von uns angesteuerten Orte haben einen festen Platz in Sams Erzählungen, sie dienen als Aufhänger für Aspekte, die sich zu seiner differenzierten Gesamtdarstellung formen. Sie sind mehr als schmückendes Beiwerk, auf die Architektur der sowjetischen Botschaft etwa gehen wir kaum ein. Unscheinbare Gebäude werden durch Sams Ausführungen zu geschichtsträchtige Orten. An der Friedrichstraße steigen wir nicht mehr nur von der S1 in die U6 sondern haben Bilder von Grenzkontrollen im Kopf. Durch die Veränderung in unserer Nutzung dieses Ortes, nicht Pendler sondern Tourist, verändert sich auch unsere Wahrnehmung des Ortes. Historische Authentizität – Ein Wahrnehmungsmodus?

  • Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer
    Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer © Lucas Frings

An der Gedenkstätte Berliner Mauer sprechen wir über den Aufbau der Sperranlage, Fluchttunnel und Mauertote. Hier sehen wir nun das angekündigte „most historically accurate piece of the Berlin Wall“. Die Formulierung passt, schließlich wurde etwa der Wachturm an der Bernauer Straße der Anschaulichkeit halber 2009 aus Brandenburg hierher versetzt. Durch Schlitze in der Mauer kann hier auch auf die Rekonstruktion des Todesstreifen und in die Vergangenheit geschaut werden.

Als wir Sam ein paar Wochen später in der Kneipe W. Prassnik treffen, kommt auch der Aspekt der Authentizität und der Wunsch nach sichtbaren Objekten zur Sprache. Die DDR-Geschichte in Berlin sei eine der unsichtbarsten Geschichten für Tourist*innen. Durch das Fehlen von Gebäuden und Zeichen im öffentlichen Raum, die als Teil der DDR-Geschichte erkannt werden könnten, projizieren sich alle DDR-Themen auf die Mauer und nehmen deren negative Konnotation auf. So sei es kein Wunder, so Sam, dass vorrangig das Bild einer brutalen Diktatur entsteht. Wenn er könnte, sagt er, würde er auch Orte wie den Platz der Republik, die Karl-Marx-Allee aber auch Berlin-Marzahn in seine Tour einbauen. Dort könnte man etwa die Idee von Plattenbauten vermitteln, auch da „communal housing“ in vielen Ländern abschätzig betrachtet werde.

Die Tour endet an der U-Bahn Station Bernauer Straße, mit der Erzählung des folgenreichen Versehens Günter Schabowskis bei der Pressekonferenz vom 09.11.1989, die schlussendlich zur Öffnung der Grenzen führte. Aus einer missverständlichen Lockerung des Reisegesetzes macht die westdeutsche Tagesschau die Schlagzeile “DDR öffnet Grenzen”.

Am Ende ist für uns klar: Sam hat uns keine Horrorgeschichte der DDR erzählt. Vielmehr hat er die Käseglocke angehoben, Wechselwirkungen aufzeigt, und die komplexe Geschichte der DDR im Berliner Stadtbild für uns sichtbar gemacht. Dass wir – anders als online angekündigt – nichts über Regenschirme mit eingebauter Giftspritze als Geheimdienstwaffe erfahren habe, verzeihen wir ihm gerne.


Wir danken Sam W. für die Gespräche und Publikationsgenehmigung.
Alle Bildrechte liegen bei Lucas Frings und Malte Grünkorn