Geschichte in der Hand

Ein Beitrag von Jahn Benesch

Wenn es Quellen gibt, die objektiv sind, dann sind es Objekte. Sie sind die erste und einfachste Antwort auf die Frage „Was ist geblieben?“. Doch einmal ganz ehrlich: Mit der Objektivität ist es eigentlich nicht weit her, wenn nun jemand kommt und sagt: Dieses Ding vor mir erzählt mir etwas über die Geschichte. Was passiert eigentlich genau, wenn Objekte als Quellen genutzt werden? Es folgen einige Überlegungen, ausgehend von einem Objekt, das mich schon einige Jahre begleitet, bei näherer Betrachtung aber Bedeutungsschicht um Bedeutungsschicht erlangt und immer signifikanter zu werden scheint.

Kamera Exakta VX1000
Exakta VX 1000. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

Brücken in die Vergangenheit

Ich habe viel darüber nachgedacht, was mich mit der Vergangenheit verbindet. Wie schaffe ich es, von meinem „Jetzt“ und „Hier“ die Brücke zu schlagen, in eine Zeit und einen Raum, der nicht jetzt und nicht hier ist? Dieser Vorgang geschieht in meinem Kopf, ist also zunächst allein eine Vorstellung. Doch entspringen diese Vorstellungen über andere Zeiten – auch wenn ich der Meinung bin, dass diese doch immer eine Rolle spielt – natürlich nicht allein der Phantasie. Das erste „Früher“, das ich als Mensch erfahre, ist das meiner eigenen Erinnerungen.

Doch: Erinnerungen können trügen. Und jede Form von Erzählung hat ihre Auslassungen, ihren Fokus, ist bereits in einen narrativen Rahmen gefasst. Dies ist per se nicht schlimm. Nur auf diese Weise können wir überhaupt erzählen und geschehene Abläufe mitteilen, auch ohne selbst zugegen gewesen zu sein. Aber als Historiker*innen bleibt es dennoch ein Anspruch und Ansporn, überprüfbare Aussagen zu machen, und in unseren Erzählungen der vergangenen Realität auf die Spur zu kommen.

Ehemaliger Grenzwachturm im Schlesischen Busch, Berlin
Ehemaliger Grenzwachturm im Schlesischen Busch, Berlin. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

Es stellt sich die zentrale Frage: Gibt es Quellen der Vergangenheit, die nicht von vornherein perspektiviert, subjektiv, verzerrt oder fokussiert sind? Die einfach und ungestellt aus ihrer Zeit heraus erhalten sind, an denen man den Lauf der Zeit ablesen kann? Ein „Überrest“ im ganz klassischen Sinne, der keine bewusst narrative Funktion hatte und erst jetzt, durch den gegenwärtigen, an Geschichte interessierten Menschen seine Funktion als Quelle bekommt? Eine Quellenkategorie, die diese Voraussetzung vielleicht erfüllen kann sind Objekte und insbesondere Gebrauchsobjekte. Diese wurden in einer Zeit für einen Zweck hergestellt, befriedigten ein Bedürfnis, wurden bei einer Arbeit benutzt. Und irgendwann gerieten sie außer Gebrauch, wurden einfach alt, oder zumindest unüblich, ungewöhnlich – und damit historisch? Und damit komme ich nun auch beim übergreifenden Thema diese Website an: „Was ist von der DDR geblieben?“

An dieser Stelle fällt die Formulierung „alt, ungewöhnlich, historisch“ auf, denn das ist ja schon wieder eine „moderne“ Sicht auf das Ding, eine von mir auf das Objekt projizierte Bedeutung, die das Objekt aus der Jetztzeit anders bewertet, als es zum Zeitpunkt seiner Entstehung der Fall gewesen wäre. Alte Gegenstände haben einen Nimbus, eine Aura, die ja gerne beschworen wird. In den Berliner Flohmarkthallen ist das sehr schön zu sehen: Alte Dinge faszinieren. Schreibmaschinen, alte Backformen, Tintenfässer, Schnurtelefone, Musikinstrumente, Apothekergläser, Lampen oder auch Kameras. Dieser Zugang zu den Dingen ist stark assoziativ, aber ich möchte mich genauer damit auseinandersetzen, auf welche Art diese Assoziationen wirken, wie sie dazu dienen, eine Vergangenheit greifbar und vorstellbar zu machen und auf welch vielfältige Weise ein Objekt betrachtet werden kann, wenn man es als Quelle, als Überrest versteht. Und nicht zuletzt geht es um die Frage, ob diese Objekte am Ende tatsächlich einen wortwörtlich objektiven Aussagewert haben, oder nicht doch das Individuum immer wieder von neuem Zeichen und Bedeutungen in das Objekt hineinlegt. Also einmal ganz von vorn.

Ladenschild des "Ost-West Späti"
Ost-West Späti, direkt auf dem ehemaligen Mauerverlauf zwischen Neukölln und Alt-Treptow gelegen. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

Die Exakta

Ich besitze einen Gegenstand, der mich schon lange fasziniert und der aus der ehemaligen DDR stammt. Eine Spiegelreflexkamera der Marke Exakta Varex, vom Dresdner Hersteller Ihagee. Ich kaufte die Kamera, zusammen mit einem Koffer und Zubehör vor Jahren gebraucht im Internet. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich einfach nur eine analoge Spiegelreflexkamera besitzen und diese war günstig zu haben. Als ich die Kamera in den Händen hielt, machte sie einen stabilen, schweren Eindruck. Es war ein robustes Gerät, das ich auf Reisen mitnehmen konnte, ohne dass ich Angst darum haben musste. Und: Es funktionierte einwandfrei. Jeder Knopf, jedes Rädchen, jeder Hebel dieses vollständig mechanisch funktionierenden Apparates konnte flüssig bedient werden. Metall und schwarzes Kunstleder, Glas und Schmieröl. Einfach als materieller Gegenstand, als Maschine zum Herstellen von Bildern ist sie ein eindrücklicher Gegenstand. Zusammengesetzt aus hunderten Einzelteilen zu einem fest gefügten Ganzen, das dann in der Lage ist, Bilder auszunehmen, Momente einzufangen, das fasziniert mich bis heute und bereitet mir Freude. Ganz abgesehen von der Funktionalität – ich brauche zum Beispiel nie auf den Akkustand zu achten – empfinde ich das Design als schön, als ästhetisch. Und hier beginnen nun auch meine Überlegungen, die den Gegenstand in eine Geschichte einbetten.

Erste Assoziationen, die ich zur Dingwelt der DDR habe, sind das Industriedesign und die Formensprache der 60er Jahre, in denen der Wettlauf der Systeme noch nicht entschieden war und die neu entwickelten Produkte des Ostblocks technisch mit denen des Westens mindestens mithalten konnten. Ein Gebiet, in dem dies sicher der Fall war, war die Kameratechnik. Mit Dresden verfügte die DDR über einen traditionsreichen Standort optischer Technik: Die Zeiss Ikon AG und die Ihagee Dresden waren vor dem Zweiten Weltkrieg Kamerahersteller von Weltrang, die die Entwicklung der Fotografie wesentlich beeinflusst hatten. Insbesondere die Ihagee, deren Kine-Exakta von 1936 die erste einäugigen Spiegelreflexkamera im Kleinbildformat darstellte, prägt die Bauformen von Kameras im Prinzip bis heute. Ausgehend von dieser Tradition erfolgte in den 50er und 60er Jahren eine Fortentwicklung der Kine-Exakta zu Exakta Varex – einer Kamera, die international in professionellem Umfeld benutzt wurde. Insbesondere in der wissenschaftlichen Fotografie dienten die Kameras aus Dresden zum Erstellen von makro- und mikroskopischen Bildern[1]. Zahlreiches Zubehör wurde speziell für diese technisch schwierigen Aufnahmen angeboten. Für die DDR war die Exakta ein Exportprodukt, das der Devisenschaffung diente[2]. Preislisten des Jahres 1963 zeigen, dass das Gehäuse einer Exakta IIa in der DDR 569 Mark[3] kostete, während es in der Bundesrepublik für 396 DM[4] erhältlich war. Das Modell VX1000, das ich besitze, wurde von 1966 bis 1970 gefertigt und stellte den Endpunkt der klassischen Exakta Varex-Entwicklung dar. Der bis dahin unabhängige VEB Ihagee Kamerawerk wurde in den größeren VEB Pentacon eingegliedert und die Firma und ihre Tradition so de facto aufgelöst. Spätere Kameras mit dem Markennamen Exakta hatten eine andere (und auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähige) Bauweise.

Max Lingners Wandbild "Aufbau der Republik" am heutigen Detlev-Rohwedder-Haus
Max Lingners Wandbild „Aufbau der Republik“ am heutigen Detlev-Rohwedder-Haus am Platz des Volksaufstandes von 1953, Berlin. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

Welche Bedeutung hat die Kamera?

Vor ihrem historischen Hintergrund gewinnt die Kamera eine Bedeutung als Zeugnis einer aus dem Vorkriegsdeutschland weitergetragenen Tradition, die sich unter den wirtschaftlichen Bedingungen der DDR jedoch nicht schnell genug weiterentwickeln konnte. In den späten 60ern verlor die Kamera ihren technischen Vorsprung und damit ihre Bedeutung als Vorzeigeprodukt und Devisenbeschaffer. Sie reiht sich ein in das allgemeine Narrativ einer enthusiastisch startenden DDR, die aber innerhalb von 10, 20 Jahren begann, wirtschaftlich und technologisch zu stagnieren. Die Exakta steht als Bindeglied zwischen den Zeiten des Aufschwungs und des Abschwungs.

Die hohe Qualität der Kameras trug zu ihrer Popularität in dieser Zeit bei, auch in den westlichen Ländern, und selbst heute noch ist sie nicht übersehbar. Wenn ein mechanisches Produkt auch 50 Jahre nach seiner Herstellung noch funktioniert, ist das bemerkenswert. Auch die Literatur zur Benutzung der Kamera ist vielseitig und teilweise noch heute in den Universitätsbibliotheken zu finden, aufgereiht in den alten Beständen zur Nutzung analoger Fotografie. So befindet sich etwa das fast 400 Seiten starke Ratgeberwerk „Exakta: Kleinbild-Fotografie“ in seiner siebten Auflage von 1962 in der biologischen Bibliothek der FU im botanischen Museum – ein Überbleibsel und Hinweis auf die Zeit, in der diese Kamera im wissenschaftlichen Umfeld genutzt wurde.

Aus der Archäologie und der Museumskunde stammt der Grundsatz, dass Dinge Semiophoren, also Zeichen- und Bedeutungsträger sind. Dinge, die zunächst einmal nur „lumps of the physical world“ [5] sind werden zu „Artefakten“ und damit Bestandteile der „materiellen Kultur“, wenn der Mensch sie herstellt oder benutzt und mit einer Bedeutung versieht. Diese Bedeutung kann ganz trivial sein. Ein Löffel etwa ist manchmal eben einfach nur ein etwa mundgroßes Schälchen am Stiel, mit dem man Essen in den Mund befördern kann, ohne sich die Finger zu beschmutzen oder zu verbrennen. Der*die Besitzer*in muss nicht unbedingt mehr Bedeutung in diesen Löffel legen. Aber er kann. Ist der Löffel aus Silber, und damit aus teurem oder seltenem Material? Ist er neu, gehört er zu einem Geschenk für den neuen Haushalt oder ist er gar ein Erbstück? Objekte kommen während ihrer Lebensdauer mit ihren Nutzer*innen und ihrer Umwelt in Kontakt und Menschen neigen dazu, sich diese Verbindungen in ihrer Vorstellung als Merkmal des Objektes zu merken, bisweilen sogar bis hin zu einer Personifikation oder Beseelung der Objekte in der Vorstellung eines Individuums[. Das gleiche geschieht mit alten Kameras und mit vielen weiteren alltäglichen Gegenständen.

Bedeutungen von Objekten haben sowohl eine materielle oder funktionale Bedeutung, zusätzlich aber auch eine narrative und ideelle Ebene. Und je mehr wir über den Gebrauch eines Gegenstandes erfahren, desto eher wird es möglich, diese zweite, semiotische Ebene zu ergründen[6]. Bei Themen der Zeitgeschichte ist es möglich, über das Objekt hinaus die damalige Nutzung und die verbundenen Vorstellungen von Zeug*innen zu erfahren. Schriftliche oder mündliche Aussagen zum Gebrauch und seiner Funktion sind zu ergründen, die Herstellung der Objekte bis aufs kleinste Detail nachzuvollziehen. Dies sind Voraussetzungen, von denen der*die Archäolog*in sonst nur träumen kann.

Bodenmarkierung auf dem Verlauf der Berliner Mauer
Bodenmarkierung auf dem Verlauf der Berliner Mauer. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

Was ist diese Kamera also alles? Ein mechanisches Objekt, das von der Technologie und der Handwerkskunst seiner Herstellungszeit zeugt. Ein Wertgegenstand und ein Präzisionswerkzeug. Ein Mittel dazu, Bilder, Abbildungen, Medien herzustellen und zu vervielfältigen. In seiner Produktionsgeschichte lassen sich größere wirtschaftliche Abläufe wiedererkennen. Die Beschäftigung mit der Herkunft und der Weiterentwicklung dieses in großer Stückzahl produzierten und verwendeten Gutes ist als Zugang zur Wirtschaftsgeschichte der DDR bestens geeignet. Aber auch – und das heute sicherlich immer noch – ist die Exakta ein Designgegenstand und ein Sammlerstück, das eine ästhetische Dimension besitzt. Diverse Internetseiten, Fanclubs, Tauschbörsen und Internetforen zeugen von einer nach wie vor fortlaufenden Beschäftigung mit den Kameras.

Und nicht zuletzt werden sie immer noch für ihren ursprünglichen Zweck genutzt. Die Schwarzweiß-Bilder in diesem Artikel wurden mit meiner Exakta aufgenommen und anschließend digitalisiert. Ohne die Kamera gäbe es die Bilder in dieser Form nicht. Was bleibt, ist also ein Gegenstand, der alte Kulturtechniken bewahrt, der weiterhin bei der Produktion neuer Medien genutzt wird und der einen mentalen Zugang in die Geschichte bieten kann. Dieser Zugang geschieht unbewusst und emotional, bewusst und rational, aber er geschieht. Ich denke, es ist einer der wichtigsten Prozesse historischen Denkens, seine materielle Umwelt als geworden und mit Geschichte aufgeladen zu betrachten. An vielen Objekten gelingt das recht mühelos. Die Exakta aus dem Dresden der 60er gehört dazu.

Autor beim Gebrauch der Exakta
Autor beim Gebrauch der Exakta. Aufnahme von Malte Grünkorn

[1] In diesem Kontext wurde die Kamera auch auf einer Briefmarke für die Leipziger Messe 1955 (Beitragsbild) verewigt.

[2] Dazu auf der Website des Deutschen Museums in Bonn.

[3] Preisliste mit dem „EVP“ also Einzelhandelsverkaufspreis in der DDR für Ihagee-Produkte aus dem Jahr 1963.

[4] Preisliste für Ihagee-Produkte in D-Mark.

[5] Pearce, Susan: Museum Objects. In: Pearce, Susan (Hrsg.): Interpreting Objects and Collections (London 1994) S. 9.

[6] Hierzu schreibt der Kölner Archäologe Tobias Kienlin: „Gleich ob sie nun – zum Teil – mit explizit formulierter Bedeutsamkeit behaftet sind, oder rein funktional erscheinen, wie so oft in unserer eigenen Kultur, vermitteln die Dinge dabei wichtige Klassifikationsschemata für die gesellschaftliche und kulturelle Realität.“ – Kienlin, Tobias: Die Dinge als Zeichen: Zur Einführung in das Thema. In: Kienlin, Tobias (Hrsg.): Die Dinge als Zeichen: Kulturelles Wissen und materielle Kultur (Bonn 2005), S. 2.