Wir bleiben alle!

Ein Beitrag von Julia Meier

Der Slogan Wir bleiben alle lässt sich kaum noch trennen von Kämpfen um Wohnraum und bedrohte Kollektive in Berlin. Fast vergessen ist, dass es sich dabei um ein Relikt aus der DDR handelt. WBA war die Abkürzung für den Wohnbezirksausschuss, der Arbeitseinsätze im Kiez organisierte oder bei Problemen mit der Wohnungsverwaltung (KWV) unterstützte. Nach der Wende wurde das Kürzel kurzerhand als Slogan Wir bleiben alle für Verdrängungs-Proteste in Ost-Berlin und später in der gesamten Republik verwendet.

Wir bleiben alle stand auch auf den weißen Bettlaken, die ich Anfang November in der Karl-Marx-Allee aus einem Fenster hängen sah. Ich wunderte mich, dass diese Gebäude, die sich wie Denkmäler in mein Stadtbild eingebrannt hatten, von Verdrängungsprozessen betroffen sein konnten.

Ein paar Wochen später sitze ich im Café Sybille, welches zu DDR-Zeiten als Milchtrinkhalle bekannt und beliebt war. Auf dem Podest am Ende des Raums diskutieren eine Anwältin aus dem Mieterbeirat der Karl-Marx-Allee, die ehemalige Baustadträtin für Mitte und ein LINKE-Abgeordneter für Friedrichshain-Kreuzberg. Der Raum ist gefüllt mit vielen wütenden Menschen. Es sind die Mieter*innen der Karl-Marx-Allee, die soeben erfahren haben, dass vor drei Jahren hinter ihrem Rücken 700 Wohnungen der Straße an das börsennotierte Unternehmen Deutsche Wohnen verkauft wurden.

Bundesarchiv, Bild 183-16144-0006 / Krueger / CC-BY-SA 3.0
Aufbauzeit 1952
Quelle: Wikimedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Den ganzen Abend wird lautstark diskutiert. Es fallen Begriffe wie „Mietpreisbremse“ oder „Enteignung“ und es wird von einer unverschämten „Restitution vor Entschädigung“ gesprochen sowie von den Erfahrungen der „Aufbauschichten in Trümmern“. Die Karl-Marx-Allee heißt an diesem Abend „Magistrale“, „Stalinallee“, „sozialistische Prachtstraße“ oder „Kommerzallee“. Nach der Veranstaltung laufe ich die Straße entlang und frage mich, was von all den Mythen und Legenden um diese Straße geblieben ist und wer hier wohl wohnt(e)?

Am gleichen Abend lerne ich Dr. Gisela Bessler kennen, eine Anwohnerin, die mir ihre Antworten auf einige meiner Fragen in einem Interview gibt. Nach dem Aufbau bewohnten tatsächlich viele Arbeiter*innen die Straße, manche von ihnen schlugen eine akademische Laufbahn ein und später wohnten in der Karl-Marx-Allee viele staatstragende Menschen. Stimmen aus der Zeit berichten von Hausgemeinschaften mit nachbarschaftlichen Netzwerken. In einer Zeit zunehmender Individualisierung begebe ich mich auf Spurensuche nach solchen solidarischen Nachbarschaften.

Stalin Denkmal
Quelle: Wikimedia, Lizenz:
CC BY-SA 3.0 DE

Nach dem Krieg war die Hälfte aller Häuser Berlins zerstört. In mühsamen Arbeitseinsätzen schufen die Bürger*innen der DDR die Gebäude der einstigen Stalinallee. „Arbeiterpaläste“ wurden sie genannt und spiegelten in ihrer Architektur das sowjetische Vorbild wider. Die Karl-Marx-Allee war eine Verheißung auf eine neue Gesellschaft. Unter dem Motto „Neu bauen ist besser als sanieren“ wollte die Regierung die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 lösen. Ein einheitlicher Mietpreis, identische Wohnungsausstattungen und eine soziale Mischung in den Neubaugebieten sollten dazu beitragen. Die Utopie versprach luxuriöses Wohnen für Arbeiter*innen: Zentralheizung, fließendes Wasser und Kinderläden um die Ecke.

Was heute noch von früheren Hausgemeinschaften oder solidarischen Netzwerken in der Karl-Marx-Allee geblieben ist, ist schwer zu sagen. Noch schwerer ist es zu beantworten, ob diese in der sozialistischen DDR stärker verbreitet waren. Fakt ist, dass die protestierenden Mieter*innen in der Karl-Marx-Allee innerhalb kürzester Zeit einen ersten Erfolg erzielten. Die geforderte Rekommunalisierung der Straße schien Anfang Januar möglich. Heute, zwei Monate später, werden die Karten neu gemischt. Wie es um die Zukunft der Straße steht, bleibt ungewiss. Welche Bedeutung das (Zusammen)-Wohnen für ihre Bewohner*innen zu DDR-Zeiten hatte, erzählen einige von ihnen hier…

Dr. Gisela Bessler erzählt (wohnt seit 1963 in Block C-Süd)
Uni oder Produktion?

Zwischen Hausgemeinschaft und Studientag

Hausgemeinschaft vor…

…und nach der Wende

Restitution vor Entschädigung

Erstbewohnerinnen erzählen
Waldtraut Lenz (zog 1953 in den Block F-Süd)
„Wenn ich jetzt durch die Straße gehe, fühle ich, dass es nicht mehr mein Kiez ist – das Heimatgefühl fehlt. Es ist schwer zu beschreiben, warum es jetzt anders ist, es ist einfach ein Gefühl. Damals waren hier immer viele Leute unterwegs. Wenn man jetzt aus dem Fenster guckt, ist nichts los auf der Straße.“1
Sabine Stanislawski (wohnte von 1953-1976 in Block E-Süd)
„Damals wusste ich nicht, dass andere zu der Straße kritisch standen. ‚Na, fallen bei euch die Kacheln von den Wänden‘, waren Sprüche, die man hörte. Wir, die hier wohnten, reflektierten nicht, sondern nahmen das lustig. Als 18jährige traf ich im Oktoberclub – das war ein offener Jugendclub von der FDJ – öfter Westdeutsche von der DKP. Sie meinten, unsere Straße sei wunderschön und so eine Allee gäbe es in keinem anderen Land. In den kapitalistischen Ländern würden sie so eng wie möglich bauen, damit aus jedem Quadratmeter was rauszuholen war. So großzügig zu bauen wie in der Stalinallee, das war später leider auch in der DDR nicht zu verwirklichen. Irgendwann war der neue Baustil auch für uns das Schönere. Hier war das Historische, die Plattenbauten waren das Moderne. Wir konnten das nicht begreifen, dass die Platten im Westen so negativ gesehen wurden.“2
Edith Gläser (zog 1954 in den Block C-Nord)
„Ich war kein Genosse und deswegen hatte ich es nicht immer leicht. Mein Mann dagegen war ein großer Genosse. Er meinte, ich bin nicht wert, in der Stalinallee zu wohnen. Viele denken, dass hier nur Bonzen wohnten. Das kommt darauf an, was man unter Bonzen versteht. Die Hohen in der Partei hatten Wandlitz. Hier in der Stalinallee haben wirklich Arbeiter gewohnt. Viele waren in der Partei, aber nicht alle. Wer nicht in der Partei war, wurde ein bisschen geächtet. Verschiedene Leute, die Carepakete bekamen, mussten aus der Wohnung heraus. Daran kann ich mich erinnern. Bei Mieterversammlungen wurde auch manch einer gerügt. Zum Beispiel, wenn er nicht die richtige Zeitung gehalten hat.“3
Charitas Urbanski (zog 1953 in den Block C-Süd)
„In unserem Haus standen nie Wohnungen leer. Es war immer bewohnt, und die meisten wurden hier alt, so wie ich. Viele sind jetzt gestorben, und so langsam ziehen jüngere Leute ein. Zu denen habe ich wenig Kontakt, obwohl sie sehr nett sind und mich im Treppenhaus mit Namen begrüßen. Früher trafen wir uns Silvester immer mit einem Glas Sekt auf dem Flur. Das ist heute nicht mehr so. Bei den Paraden hingen wir Nachbarn in den Fenstern und haben zugeguckt. An dem Tag im Jahre 1961, als das Stalindenkmal verschwand, hörte ich von Leuten auf der Straße, dass sie ihn umhauen. Erst trauten wir uns nicht, das anzuschauen, weil die Polizei da war. Dann sind wir aus dem Haus zusammen auf den Dachgarten hoch und haben von dort zugesehen. Sie legten ihm eine Schnur um den Hals und schmissen ihn um. Da lag er erst mal. Ich dachte nur, jetzt ist eine Ära vorbei. Seitdem heißt unsere Straße Karl-Marx-Allee.“4

Protest gegen Deutsche Wohnen
Fotograf und Rechteinhaber: Christian Mang
(Verwendung wurde vom Rechteinhaber genehmigt)

Einzelnachweise:

  • 1. Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003, S.87.
  • 2. ebd. S. 67.
  • 3. ebd. S. 48.
  • 4. ebd. 36.

Bildnachweise:

Beitragsbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_karlmarxallee_kl.jpg
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.en

Literatur:

  • Jörg Haspel, Karl-Marx-Allee und Interbau 1957. Konfrontation, Konkurrenz und Koevolution der Moderne in Berlin (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin), Berlin 2018.
  • Herbert Nicolaus, Alexander Obeth, Die Stalinallee. Geschichte einer Deutschen Straße. Verlag für Bauwesen, Berlin 1997.
  • Nico Grunze, Ostdeutsche Großwohnsiedlungen. Springer VS, Berlin 2016.
  • Norbert Podewin, Stalinallee und Hansaviertel: Berliner Baugeschehen im Kalten Krieg. Verlag am Park / Edition Ost, Berlin 2014.
  • Philipp Mattern (Hg.), Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin. Bertz + Fischer GbR, Berlin 2018.
  • Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003.

Ausstellungen:

  • Tränen – Trümmer – Träume, Dauerausstellung im Café Sybille

Dokumentationen:

  • DFF Dokumentation „Stalin-Allee – Doku über den DDR- Städtebau in Berlin“ aus der DFF-Reihe „Das Fenster“ (1991).
  • RBB Dokumentation Berlin Karl-Marx-Allee aus der Heimatjournal-Reihe (2015).

Weiterführende Links: