Ein Beitrag von Julia Meier
Der Slogan Wir bleiben alle lässt sich kaum noch trennen von Kämpfen um Wohnraum und bedrohte Kollektive in Berlin. Fast vergessen ist, dass es sich dabei um ein Relikt aus der DDR handelt. WBA war die Abkürzung für den Wohnbezirksausschuss, der Arbeitseinsätze im Kiez organisierte oder bei Problemen mit der Wohnungsverwaltung (KWV) unterstützte. Nach der Wende wurde das Kürzel kurzerhand als Slogan Wir bleiben alle für Verdrängungs-Proteste in Ost-Berlin und später in der gesamten Republik verwendet.
Wir bleiben alle stand auch auf den weißen Bettlaken, die ich Anfang November in der Karl-Marx-Allee aus einem Fenster hängen sah. Ich wunderte mich, dass diese Gebäude, die sich wie Denkmäler in mein Stadtbild eingebrannt hatten, von Verdrängungsprozessen betroffen sein konnten.
Ein paar Wochen später sitze ich im Café Sybille, welches zu DDR-Zeiten als Milchtrinkhalle bekannt und beliebt war. Auf dem Podest am Ende des Raums diskutieren eine Anwältin aus dem Mieterbeirat der Karl-Marx-Allee, die ehemalige Baustadträtin für Mitte und ein LINKE-Abgeordneter für Friedrichshain-Kreuzberg. Der Raum ist gefüllt mit vielen wütenden Menschen. Es sind die Mieter*innen der Karl-Marx-Allee, die soeben erfahren haben, dass vor drei Jahren hinter ihrem Rücken 700 Wohnungen der Straße an das börsennotierte Unternehmen Deutsche Wohnen verkauft wurden.
Den ganzen Abend wird lautstark diskutiert. Es fallen Begriffe wie „Mietpreisbremse“ oder „Enteignung“ und es wird von einer unverschämten „Restitution vor Entschädigung“ gesprochen sowie von den Erfahrungen der „Aufbauschichten in Trümmern“. Die Karl-Marx-Allee heißt an diesem Abend „Magistrale“, „Stalinallee“, „sozialistische Prachtstraße“ oder „Kommerzallee“. Nach der Veranstaltung laufe ich die Straße entlang und frage mich, was von all den Mythen und Legenden um diese Straße geblieben ist und wer hier wohl wohnt(e)?
Am gleichen Abend lerne ich Dr. Gisela Bessler kennen, eine Anwohnerin, die mir ihre Antworten auf einige meiner Fragen in einem Interview gibt. Nach dem Aufbau bewohnten tatsächlich viele Arbeiter*innen die Straße, manche von ihnen schlugen eine akademische Laufbahn ein und später wohnten in der Karl-Marx-Allee viele staatstragende Menschen. Stimmen aus der Zeit berichten von Hausgemeinschaften mit nachbarschaftlichen Netzwerken. In einer Zeit zunehmender Individualisierung begebe ich mich auf Spurensuche nach solchen solidarischen Nachbarschaften.
Nach dem Krieg war die Hälfte aller Häuser Berlins zerstört. In mühsamen Arbeitseinsätzen schufen die Bürger*innen der DDR die Gebäude der einstigen Stalinallee. „Arbeiterpaläste“ wurden sie genannt und spiegelten in ihrer Architektur das sowjetische Vorbild wider. Die Karl-Marx-Allee war eine Verheißung auf eine neue Gesellschaft. Unter dem Motto „Neu bauen ist besser als sanieren“ wollte die Regierung die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 lösen. Ein einheitlicher Mietpreis, identische Wohnungsausstattungen und eine soziale Mischung in den Neubaugebieten sollten dazu beitragen. Die Utopie versprach luxuriöses Wohnen für Arbeiter*innen: Zentralheizung, fließendes Wasser und Kinderläden um die Ecke.
Was heute noch von früheren Hausgemeinschaften oder solidarischen Netzwerken in der Karl-Marx-Allee geblieben ist, ist schwer zu sagen. Noch schwerer ist es zu beantworten, ob diese in der sozialistischen DDR stärker verbreitet waren. Fakt ist, dass die protestierenden Mieter*innen in der Karl-Marx-Allee innerhalb kürzester Zeit einen ersten Erfolg erzielten. Die geforderte Rekommunalisierung der Straße schien Anfang Januar möglich. Heute, zwei Monate später, werden die Karten neu gemischt. Wie es um die Zukunft der Straße steht, bleibt ungewiss. Welche Bedeutung das (Zusammen)-Wohnen für ihre Bewohner*innen zu DDR-Zeiten hatte, erzählen einige von ihnen hier…
Fotograf und Rechteinhaber: Christian Mang
(Verwendung wurde vom Rechteinhaber genehmigt)
Einzelnachweise:
- 1. Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003, S.87.
- 2. ebd. S. 67.
- 3. ebd. S. 48.
- 4. ebd. 36.
Bildnachweise:
Beitragsbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_karlmarxallee_kl.jpg
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.en
Literatur:
- Jörg Haspel, Karl-Marx-Allee und Interbau 1957. Konfrontation, Konkurrenz und Koevolution der Moderne in Berlin (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin), Berlin 2018.
- Herbert Nicolaus, Alexander Obeth, Die Stalinallee. Geschichte einer Deutschen Straße. Verlag für Bauwesen, Berlin 1997.
- Nico Grunze, Ostdeutsche Großwohnsiedlungen. Springer VS, Berlin 2016.
- Norbert Podewin, Stalinallee und Hansaviertel: Berliner Baugeschehen im Kalten Krieg. Verlag am Park / Edition Ost, Berlin 2014.
- Philipp Mattern (Hg.), Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin. Bertz + Fischer GbR, Berlin 2018.
- Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003.
Ausstellungen:
- Tränen – Trümmer – Träume, Dauerausstellung im Café Sybille
Dokumentationen:
- DFF Dokumentation „Stalin-Allee – Doku über den DDR- Städtebau in Berlin“ aus der DFF-Reihe „Das Fenster“ (1991).
- RBB Dokumentation Berlin Karl-Marx-Allee aus der Heimatjournal-Reihe (2015).
Weiterführende Links:
- http://www.taz.de/!55 74102/
- https://www.jungewelt.de/artikel/346146.kapitalismus-fast-wie-verrat.html
- https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109778.rekommunalisierung-rot-rot-gruen-will-deutsche-wohnen-rekommunalisieren.html
- https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109498.deutsche-wohnen-enteignen-enteignung-ist-mehrheitsfaehig.html
- https://www.zeit.de/kultur/karl-marx-allee/index.html#prolog