Was ist geblieben? http://was-ist-geblieben.de Geschichten von Menschen und Dingen drei Jahrzehnte nach dem Ende der DDR Mon, 04 Nov 2019 21:15:22 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.4 Ein kleines Dorf in Nordfriesland erinnert sich http://was-ist-geblieben.de/ein-kleines-dorf-in-nordfriesland/ Fri, 08 Feb 2019 11:37:01 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=382 Ein Beitrag von Berit Pohns

Rantrum ist ein kleiner, beschaulicher Ort in Nordfriesland. Die meisten Leute sagen sich hier beim Spazieren gehen noch „Guten Tag“ oder man grüßt durch ein knappes „Moin“. Dieses Dorf ist nicht nur der Ort, an dem ich groß geworden bin, auch meine Eltern sind hier geboren und aufgewachsen. Ebenso sind ihre Eltern „waschechte Nordfriesen“. Nur mein Opa, der Vater meiner Mutter, ist kein Urgestein aus Rantrum und damit fast schon so etwas wie ein Exot. Mein Opa ist in Blankenfelde großgeworden und somit in einem Teil Deutschlands, der später die DDR geworden ist. Er verließ Blankenfelde vor dem Mauerfall und ging nach Nordfriesland, wo er meine Oma kennenlernte und blieb. In der DDR zurück blieben Erinnerungen und ein Stück Heimat.

Nachdem ich im letzten Jahr für das Studium nach Berlin gezogen bin, ist mir schnell aufgefallen, wie wenig ich über die Geschichte von Ost- und Westberlin weiß. Ich kannte zwar einige wichtige Daten, genauer beschäftigt habe ich mich mit dem Thema aber weder in der Schule, noch privat. Hin und wieder gab es Dokumentationen im Fernsehen, aber eine richtige Vorstellung von einem Leben in der DDR hatte ich nicht. Ich begründete es damit, dass ich erst nach der Wende geboren wurde und nicht nah genug an Berlin aufgewachsen bin. Bei einem Besuch meiner Eltern erzählte ich beiden von meiner These. Schnell kamen wir in eine Diskussion darüber, inwieweit das Thema DDR in Rantrum überhaupt eine Rolle gespielt hat. Ging es nur mir so, dass ich zu wenig wusste und nie sonderlich viel Interesse an der Thematik hatte? Oder war Rantrum einfach zu weit weg, zu klein, zu sehr auf dem Land, als dass es das große Geschehen im Blick hatte?

Interessierte es jemanden in diesem kleinen Dorf, was da am anderen Ende Deutschlands vor sich ging? Wurde es in der Schule besprochen, vielleicht sogar kritisiert? Hat es privat Menschen in Rantrum beeinflusst? Und wenn ja, welche Assoziationen haben sie zu diesem Teil der Geschichte Deutschlands, die irgendwie auch ihre Geschichte ist? Und irgendwie auch nicht…. Ich begann mich auf die Suche und wollte wissen:

Wenn du an die DDR denkst, an was erinnerst du dich?

Hans Jürgen Dau-Schmidt

Unmittelbar in der Nachbarschaft wohnt Hans Jürgen Dau-Schmidt. Meine Eltern kennen ihn schon lange. Ich solle ihn fragen, wenn ich genaueres wissen möchte, er würde bestimmt gern Auskunft geben.

Hans Jürgen, Jahrgang 1934, ist gut auf das Gespräch über die DDR vorbereitet. Bereits im Vorfeld hat er um die Fragen gebeten, auf dem Tisch in der Küche liegen Stapelweise Bücher zur DDR Geschichte.
„Um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, ich weiß ja auch nicht mehr alles aus dem Kopf.“, sagt er. Es gibt Plätzchen und Cappuchino und unmittelbar beginnt er zu erzählen: „Die DDR wurde uns durch die Presse als nicht gerade menschenfreundlich dargestellt. Es waren nicht die Menschen oder das Land, die wir damals ablehnten. Es war das kommunistische System. Das wahre Gesicht zeigte die DDR-Regierung ja schon 1953, als die Bevölkerung auf die Straße ging. Der Aufstand wurde mit russischer Hilfe blutig niedergeschlagen.“

Es dauert ein bisschen, bis wir über meine eigentlichen Fragen sprechen. Was genau ist seine persönliche DDR-Geschichte? Ich wusste bereits, dass sein Sohn seinen Meister als Tischler gemacht hatte. Direkt nach der Wende ging er in die ehemalige DDR, genauer gesagt nach Waren in Mecklenburg-Vorpommern, weil es dort als Tischler wohl gute Möglichkeiten für ihn gab.

Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, seine Notizen für unser Gespräch
Privatbesitz Karl-Heinz Schüttpelz, Tischlerei des Sohns in der DDR
Privatbesitz Karl Heinz Schüttpelz, linkes Bild: das erste Bauprojekt in der DDR, rechtes Bild: Sein Sohn arbeitet als Tischler in der DDR, Jahr 1990


„Arbeit gab es da für ihn genug“, erzählt Hans Jürgen, „Er hat dann da mit seiner Familie ein Haus gekauft und eine eigene Firma aufgebaut. 20 Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR hat er dort beschäftigt. Es bestand ja ein großer Bedarf.“
„Und was hast du damals gedacht, als dein Sohn in den Osten gezogen ist?“, möchte ich wissen. „Ich hatte ein bisschen Sorge, dass er dort nicht gut aufgenommen wird. Aber die Sorge war unbegründet. Er wurde sofort akzeptiert.“ Hans Jürgen und seine Frau haben ihren Sohn 1990 direkt das erste Mal besucht. Aus vielen Gesprächen mit den damaligen Mitarbeiter*innen, mit Nachbar*innen und Freund*Innen seines Sohnes berichtet er: „Die größte Lüge der DDR war die Aussage ‚Gleiches Recht für alle‘. Das galt nur für die Oberschicht, die kleinen Leute, die Tischler zum Beispiel oder die Verkäufer, die hatten es schwer.“

Und wenn er, aus heutiger Sicht, beurteilen sollte, ob die Wiedervereinigung für ihn Schaden oder Nutzen gebracht hat?
„Meinem Sohn hat es genutzt.“

Marlene Schüttpelz

Privatbesitz Marlene Schüttpelz, Reisepass ihrer Mutter mit Stempeln aus der damaligen DDR

Marlene Schüttpelz ist meine Tante. Sie ist gerade 70 Jahre alt geworden. Demnach erinnert sie sich noch an die Zeit, als es zwei deutsche Staaten gab. Durch meine Mama kannte ich die Geschichte meines Opas bereits in groben Zügen. Aber da Marlene einige Jahre älter als meine Mutter ist, erinnert sie sich noch ein wenig klarer an die Zeit.

„Ich erinnere mich, dass Mama und Papa immer Carepakete zusammengestellt haben. Mit Kaffee und all solchen Sachen. Da musste immer ganz exakt aufgelistet werden, was in den Paketen enthalten war.“ Nachdem Marlene ihre Tochter Bettina zur Welt gebracht hatte, bekam sie auch mal Post aus der DDR. Eine Freundin ihrer Eltern wollte der Kleinen etwas zur Geburt schenken. Das Problem dabei, so beschreibt sie die Lage, sei gewesen, dass sie zurzeit keine Kinderkleidung in den Geschäften gefunden habe. Also musste Gratulationspost genügen. Mein Opa und meine Oma sind sogar in die DDR gereist um sich die ehemalige Heimat meines Opas anzusehen. Marlene hat den Reisepass ihrer Mutter aufgehoben. Die Stempel dokumentieren die Ein- und Ausreise.

Darauf angesprochen, ob Marlene sich damals viel mit der DDR auseinandergesetzt hat, da ihre Familie ja direkt von der Trennung betroffen gewesen sei, schüttelt sie den Kopf und formuliert es schmunzelnd so: „Berlin, das war damals ganz weit weg für uns. Hamburg war ja schon so weit weg. Für uns war es gar nicht richtig interessant, was noch weiter weg passierte. Natürlich hab ich mitbekommen, dass Papa mal über das eine oder andere gesprochen hat. Aber wir waren mit uns beschäftigt. Mit unserem Leben hier.“

Sönke Pohns

Das Gespräch mit meinem Vater Sönke über die DDR war eigentlich nicht geplant und findet ganz spontan in unserer Küche beim Frühstück statt. Ich erzähle ihm von meinen bereits geführten Gesprächen, von den Projekten der Kommilitonen und von meinem Eindruck, dass hier, im hohen Norden, die DDR trotz einiger persönlicher Verbindungen, gar nicht so eine bedeutende Rolle gespielt hat.
„Was ist denn von der DDR für dich geblieben, Papa?“
„Für uns hier oben ist nur der Soli geblieben, mehr nicht.“ Über seine Antwort muss ich schmunzeln, will es aber dennoch genauer wissen:
„Was wusstest du im Allgemeinen denn von der DDR?“, frage ich ihn und er berichtet, dass alle im Dorf von der ‚Mauer da irgendwo im Osten wussten‘, aber so richtig interessiert hatte man sich in seinem Freundeskreis nicht dafür.

„Als ich zur Handelsschule gegangen bin, sind wir auf Klassenfahrt in Berlin gewesen und haben auch Ostberlin besucht. Wir mussten durch den Checkpoint Charlie. Ich erinnere mich noch gut an die Passkontrolle. Die Passabfertigung erschien uns unheimlich lang. Wir mussten den sogenannten Zwangsumtausch von damals so 20 DM machen, damit sollte man dann einkaufen. Man konnte das Geld aber gar nicht ausgeben. Das Restgeld durfte man aber nicht wieder mit zurück nehmen. Und der Geruch war von den ganzen Trabbis sehr schlecht. Es war irgendwie beklemmend und man war schon froh, als man dann wieder zurück in Westberlin war.“

Er erzählt noch ein bisschen mehr von seinen Eindrücken der DDR, die sich im Wesentlichen nicht von denen von Hans-Jürgen unterscheiden: Graue Häuser, Plattenbauten.

Und was ist nun von der DDR geblieben? In Nordfriesland, in Rantrum?

Nach den Gesprächen versuche ich, das Gehörte zu ordnen. Rantrum, knapp 260 Kilometer von der ehemaligen Grenze der DDR entfernt. 570 Kilometer zur innerberliner Grenze. Ein großer Abstand zur Geschichte, aber nicht groß genug, als dass nicht alle drei Interviewten irgendwie mit der DDR in Berührung gekommen sind. Dennoch bleibt zusammenfassend der Eindruck, dass das Thema DDR, Wende und Wiedervereinigung kaum Einfluss auf das Leben der Menschen in Rantrum genommen hat.

Ich stelle am Ende der Interviews allen drei Interviewpartner*innen die gleiche Frage: „Denkst du, dass es dich in deinem Leben beeinflussen würde, wenn es die DDR noch geben würde?“ und bekomme von allen die gleiche Antwort: „Nein. Letztendlich nicht wirklich.“

Sie sind zwar alle froh, dass der Zusammenschluss friedlich verlief. Sie reisen gerne mal nach Dresden, nach Berlin oder Leipzig. Aber geblieben ist hier nur eine leise Erinnerung an eine Mauer, die Deutschland in zwei Seiten trennte, dass es „damals dort drüben nicht viel gab.“

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„Ketchup und Pflaumenmus für eine Schallplatte“ http://was-ist-geblieben.de/ketchup-und-pflaumenmus/ Tue, 05 Feb 2019 08:50:30 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=58

Geschichten über den Konsumalltag in der DDR

Ein Beitrag von Laura Zimmermann und Vivien Püschel

Das Projekt

Knapp 30 Jahre sind vergangen und doch ist die Geschichte der DDR noch lange nicht erzählt. Zu häufig wird das Leben hier auf das innerhalb einer Diktatur reduziert. Ein Leben, in welchem kaum Individualität möglich gewesen sein soll, ein Leben ganz dem Staat und seiner regierenden Partei verschrieben. Im öffentlichen Diskurs häufig als unterdrückte Masse etikettiert, wurde mit der Zeit vergessen, den Menschen selbst zuzuhören. Es wurde vergessen, ihren ganz eigenen Geschichten zu lauschen, die uns noch viel mehr über das Leben in der DDR preisgeben können, als es uns vielleicht bisher bewusst war. Gefangen zwischen den öffentlichen Meinungen über das Leben in der DDR und den verschiedenen Eindrücken, welche uns unsere Familien unterschwellig innerhalb unserer Erziehung oder auch in direkten Erzählungen vermittelten, stellte sich uns „Nachwendekindern“ immer drängender die Frage: Welche Erinnerungen bleiben wirklich 30 Jahre nach dem Mauerfall? Welche Erzählungen sollen unser Bild von einem Leben innerhalb der realsozialistischen Diktatur bestimmen?

Berlin, neues HO-Kaufhaus, Foto: Bundesarchiv (4. April 1949) Bild 183-S84361 / CC BY-SA 3.0

Das Konsumieren stand im Mittelpunkt des Lebens

Als wir uns auf die Suche nach Antworten machten, erinnerten wir uns an vergangene Gespräche mit unseren Familien. Die Familie der einen lebt seit Generationen in den alten Bundesländern, die der anderen im Osten Berlins. Trotz unseres unterschiedlichen Aufwachsens und den verschiedenen Narrativen, welche uns über das Leben in der DDR von unseren Familien mitgegeben wurden, erschien uns beiden ziemlich schnell die vage Idee einer Erzählung, welcher wir nachgehen wollten.

Frauen stehen vor einem Laden Schlange, Foto: Bundesarchiv (April 1948), Bild 183-2005-0813-520 / Blunck / CC-BY-SA 3.0

Denn bei den Gesprächen mit einzelnen Mitgliedern unserer Familien stachen trotz der verschiedenen Perspektiven immer wieder Äußerungen darüber hervor, was die ehemaligen Bürger*innen der DDR hatten und was sie haben wollten. Das Konsumieren stand scheinbar im Mittelpunkt des Lebens.

Normale Gebrauchsgegenstände werden zu echten Luxusgütern

Diese Aussage mag zunächst nicht weiter verwunderlich sein, leben wir doch in einer ganz ähnlichen Zeit, in welcher uns durch den Fortschritt des Internets und der Werbeindustrie nichts anderes signalisiert wird, als ständig kaufen und konsumieren zu können. Doch nähere Bemerkungen über das unterschiedliche Konsumverhalten von ehemaligen “Ossis” und “Wessis” ließen uns aufhorchen. Dass Dinge, welche in der BRD normale Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens waren, in der DDR echte Luxusgüter verkörperten, war für uns ein unvorstellbarer Gedanke. Doch das Narrativ, welchem wir auf den Grund gehen wollten, nahm Gestalt an. Dachten wir bis dato über das Konsumverhalten in der ehemaligen DDR nach, verbanden wir dieses sofort mit klischeebehafteten Bildern, wie langen Schlangen vor einem Supermarkt, Lebensmittelknappheit und leeren Regalen. Noch heute werden Witze über den “Ossi” gemacht, der keine Bananen und keine Orangen kannte. Waren Farbfernseher, Jeans, Schallplatten und parfümierte Seife wirklich Produkte, die sich im Osten nur wenige leisten konnten und den vermeintlich wohlhabenderen Westbürger*innen geneidet wurden?

East Berlin supermarket 1989, Foto: Vaizey, Hester: Born in the GDR. Living in the Shadow of the Wall, London 2006.

Auf der Suche nach Antworten

Wie sollten wir nun erfahren, wie das Konsumverhalten beziehungsweise der Konsumalltag in der DDR wirklich aussah? Bei jedem Treffen fragten wir fortan, was den Eltern, Großeltern und anderen Bekannten zum Konsumieren in der DDR einfällt. Herauskamen hierbei wirklich interessante und unterschiedliche Betrachtungen des Themas. Schnell war uns klar, dass wir viele potentielle Interviewpartner*innen vor uns hatten. Gleichzeitig stand eine große Frage im Raum: Wie viele ehemalige “Ossis” und wie viele ehemalige “Wessis” sollten wir interviewen?

Blick auf den Eingang des HO Warenhauses I (Nebenstelle), Foto: Deutsche Fotothek‎ / CC-BY-SA 3.0

Ein häufiger Kritikpunkt von ehemaligen DDR-Bürger*innen bei der Auseinandersetzung mit dem Leben in der DDR ist es, dass die Bürger*innen der alten Bundesländer ihre Meinung hierzu öffentlich kundtun, ohne zu wissen, wie die Wirklichkeit in der DDR aussah. Dürfen die “Wessis” unsere Erzählung über den Konsumalltag in der DDR ebenfalls mitprägen?

Der Westen im Osten

Bei unserer Suche nach Zeitzeug*innen haben wir uns weniger die Frage gestellt, von wo eine Person kommt, sondern vielmehr die Erzählung selbst in den Mittelpunkt gestellt. Denn wenn die “Ossis” sich wirklich nach den Produkten aus dem Westen verzehrten, warum sollte dann nicht auch ein “Wessi” eine spannende Perspektive darüber aufmachen können? Mit diesen Gedanken im Hinterkopf, führten wir in den letzten Wochen Interviews mit Verwandten und Bekannten. Herausgekommen sind sechs ganz eigene Geschichten über das Konsumieren in der DDR und Antworten auf die Fragen, wie viel Einfluss der Westen auf den Konsumalltag im Osten hatte, ob ihnen wirklich etwas gefehlt hat und auf welche “Ostprodukte” sie noch heute bewusst zurückgreifen.

Doch lest selbst!

Blick in die Konsum-Kaufhalle am Röderplatz in Berlin-Lichtenberg (1974), Foto: Bundesarchiv, Bild 183-N0220-0004 / CC BY-SA 3.0

Die Interviews

Geschichten einer Verkäuferin
Interview mit Birgit Liese

„Verhungert oder verdurstet ist niemand in der DDR. Aber der Geschmack ließ einfach zu wünschen übrig.“

Wir treffen uns mit der im Jahr 1966 geborenen Birgit Liese in ihrem Wohnzimmer. Sie ist ehemalige Bürgerin der DDR, aufgewachsen in Berlin-Pankow. Es ist sehr modern und gemütlich eingerichtet. Spuren aus ihrem früheren Leben in der DDR sind hier auf dem ersten Blick nicht zu sehen. Doch das macht nichts, schließlich möchten wir ihr heute Erinnerungen an ihren Konsumalltag in der DDR entlocken und keinen sozialistischen Einrichtungscheck vornehmen. Sie macht für uns drei Tee und wir starten direkt in das Interview.

Deine Mutter war Verkäuferin. Welchen Einfluss hatte das auf deine Kindheit und Jugend?

Wir mussten dank der Arbeit unserer Mutter im HO-Geschäft auf nichts verzichten. Sie arbeitete ja direkt an der Quelle. Doch auch ich war an den Besorgungen der Familie beteiligt, da ich die Einkaufsbeauftragte der Familie war.

Das bedeutete, dass ich mich regelmäßig in die langen Schlangen vor dem Fleischer und dem Bäcker bei uns um die Ecke einreihte. Hier fing wirklich der frühe Vogel den Wurm. Die Bäckerei backte täglich eine bestimmte Anzahl von einer Sorte Brötchen und wenn ich endlich an der Reihe war und diese Sorte alle war, dann hatte ich auch keine Chance, dass die Bäckerei noch in ihrer Backstube etwas davon auf Lager hatte. Und in den Ferien durfte ich schon als Jugendliche in der Kaufhalle aushelfen. Das hat mir richtig Spaß gemacht.

Hat das deinen Wunsch gefestigt, ebenfalls Verkäuferin zu werden?

Ja, auf jeden Fall. Seit den positiven Erfahrungen als Aushilfe in der Kaufhalle hatte ich den Wunsch, selber irgendwann Verkäuferin zu werden. Das war in vielerlei Hinsicht ein klasse Job – direkt an der Quelle und immer unter Menschen.

Erinnerst du dich trotzdem an irgendwelche Engpässe in der DDR?

An einen direkten Engpass nicht, aber es gab von viel zu vielen Dingen einfach immer nur eine geringe Anzahl. Deshalb hat man auch an einigen Tagen so viele Schlangen vor den Kaufhallen und Läden gesehen. Bananen, Orangen, Melonen und sogar Gurken wurden zum Beispiel vom Osten nur über Devisen eingekauft. Das Obst wurde extra immer vor der Kaufhalle verkauft, weil die Schlangen sonst durch den ganzen Laden gegangen wären. Das wäre in einem totalen Chaos geendet.

An dieser Stelle fallen mir noch die Feinfrosterdbeeren als Mangelware ein. Die gab es nur zweimal im Jahr zu kaufen, weshalb sich riesige Schlangen in den Kaufhallen bildeten. Ich kann mich noch sehr gut an die Lautsprecherdurchsagen erinnern, dass bitte jeder nur zwei Tüten von den Feinfrosterdbeeren nehmen darf. Oder die Wochenpost, eine Zeitung, die nur alle 14 Tage in die Kaufhallen kam. Wenn es einer dieser Mittwoche war, habe ich mich fast gar nicht getraut, den Laden aufzuschließen. Die Leute haben sich um diese Zeitung im wahrsten Sinne des Wortes geprügelt. Es war einfach eine viel zu kleine Auflage. Ich bin mir sehr sicher, dass die Regierung das genau wusste. Aber manipuliert wurde eh ständig. Der Konsum-Laden, in welchem ich gearbeitet habe, war ganz in der Nähe des Schlosses Niederschönhausen. Hier empfing Erich Honecker auch seinen Besuch. Fuhr er mit diesem auf dem Weg zum Schloss an der Kaufhalle vorbei, mussten sich Schlangen schnell auflösen, damit es für seinen Besuch nicht so aussah, als wenn es Engpässe in der DDR gibt.

Da hast du ja so Einiges mitbekommen in deinen Jahren als Verkäuferin.

Ja, das stimmt. Ich habe mit der Zeit die ein oder andere merkwürdige Geschichte erlebt. Ein totales Mysterium in meiner Zeit als Verkäuferin war zum Beispiel das Berliner Bier. Das gab es nicht immer zu kaufen. Doch wenn wir es im Laden hatten, kam es in braunen und grünen Flaschen. Abgesehen von der Flaschenfarbe gab es keinen Unterschied bei dem Bier. Doch trotzdem kauften die Leute immer erst die braunen Flaschen und danach die grünen Flaschen, weil sie gedacht haben, dass durch die hellere Flaschenfarbe und dem erhöhten Lichteinfall das Bier anders schmeckt. Was natürlich Blödsinn war, aber das Gerücht hielt sich das ganze DDR-Regime durch.

Warst du trotzdem auch in einem Intershop einkaufen?

So richtig erst als ich meinen Lebensgefährten kennengelernt habe. Er hatte häufig Westgeld, sodass wir viel im Intershop einkaufen gehen konnten. Teuer war es trotzdem. So teuer, dass man es heutzutage kaum mehr nachvollziehen kann. Für alles musste man eine Ewigkeit sparen. Oder Beziehungen haben. Ohne Beziehungen ging sowieso nichts in der DDR.

Denkst du, dass Diebstahl ein Problem in der DDR war?

Was meinst du, was die untereinander geklaut haben in den Läden? Ich kann nur sagen, dass Honeckers Leitspruch, dass aus den Betrieben noch viel mehr rauszuholen ist, von vielen Leuten sehr wörtlich genommen wurde.

Auf welchen Konsumgegenstand greifst du heute noch ganz bewusst zurück?

Auf den Werder Tomatenketchup. Sonst kaufe ich schon eher Produkte aus dem Westen ein. Die schmecken mir einfach in den meisten Fällen besser. Das klingt jetzt so, als wären die Lebensmittel im Osten der totale Müll gewesen. Verhungert oder verdurstet ist niemand in der DDR. Aber der Geschmack ließ einfach zu wünschen übrig. Das hat man vor allem dann mitbekommen, wenn man mal ein Produkt aus dem Westen probiert hat.

Und was ist der Konsumgegenstand, welcher dich noch heute besonders stark an die DDR erinnert?

An die DDR erinnern mich eher einzelne Gerichte als direkte Waren. Außer vielleicht noch Rotkäppchen Sekt. Den verbinde ich schon sehr mit der DDR.

Haste wat, biste wat - Geschichten aus einem vermögenden Hause
Interview mit Marcel Püschel
„War irgendwo eine Schlange, haben sich viele Ossis immer gleich mit angestellt. Ich wette, die wussten nicht einmal für was.“

Wir treffen den 1971 geborenen Marcel Püschel an einem Sonntagabend in einem Café in Berlin-Prenzlauer Berg. Es ist einer meiner Lieblingsorte; Ein Café, das sich ab 20 Uhr in eine Bar verwandelt und die Menschen mit seinem Interior aus der BRD und DDR bis in die frühen Morgenstunden für einen oder mehrere Drinks in eine andere Zeit zurückreisen lässt. Wir können bereits beim Betreten des Ladens sehen, wie sich unser Zeitzeuge beim Anblick des Innenraums anfängt wohlzufühlen. Während wir unsere Drinks bestellen, erzählt er uns schon ein wenig von seiner Kindheit in Ostberlin. Wir setzen uns in eine gemütliche Ecke und starten direkt in das Interview.

Was ist der Konsumgegenstand, welcher dich bis heute an die DDR erinnert?

Spontan würde ich jetzt auf jeden Fall die Schlager-Süsstafel nennen.

Wie schmeckt die?

Die schmeckt eben, wie eine Ost-Schokolade so schmeckt. Und Bambina, die mit der blau-weißen Verpackung. Die esse ich auch heute noch gern.

War der Geschmack dieser Schokoladen ähnlich wie der von Schokolade aus dem Westen?

Nein. Der Unterschied zum Geschmack der West-Schokolade war früher extrem. Die Schokolade in der DDR war nicht so süß. Deshalb waren die überzuckerten West-Süßigkeiten eine wahre Geschmacksexplosion. Club-Cola erinnert mich übrigens ebenfalls sehr an die DDR. Und komischerweise Pepsi. Früher wollte ich immer nur Pepsi trinken, die hat einfach so gut und einmalig geschmeckt. Wenn ich heutzutage nach einigen Monaten des Verzichts eine Pepsi trinke, fühle ich mich zurück in meine Kindheit im Osten katapultiert. Auch wenn sie ein West-Produkt war. So wie das mit Geschmäckern funktioniert, ist das aber auch mit den Gerüchen. Wenn man früher in einen Intershop gegangen ist, was heute ein ganz normaler Supermarkt ist, hat alles total gut gerochen. Heute riecht man das gar nicht mehr, weil die Nase einfach verwöhnt ist.

Erzähl uns bitte von deiner Kindheit und Jugend bei deinen Eltern. Wie viel hattet ihr Kinder mit dem Einkauf zu tun?

Einkaufen ist immer unsere Mutter gegangen. Wir Kinder sind so gut wie nie alleine einkaufen gegangen, denn wir haben dann eh immer das Falsche mitgebracht. Früher gab es nur Konsum und HO-Geschäft. Dort hat unsere Mutter immer die Grundnahrungsmittel eingekauft. Weil wir aber mehr Geld hatten als viele andere von unseren Bekannten und Freunden, haben wir auch einiges immer in den Delis eingekauft. Somit waren wir ziemlich verwöhnt als Kinder. Unser Vater hat bei der MITROPA sehr gut verdient. Unsere Mutter ist später auch wieder arbeiten gegangen. Aber eher aus Langeweile, nicht weil sie es aus finanziellen Gründen gemusst hätte.

Hattet ihr abgesehen von dem sehr guten Verdienst weitere Vorteile durch die Arbeit deines Vaters bei der MITROPA?

Ja, durch seine Arbeit hatten wir immer viel Westgeld zuhause. Allein dadurch hatten wir Vorteile gegenüber manch anderen. Wir sind durch das Westgeld an Sachen herangekommen, da haben andere nur von träumen können.

Was wolltest du immer haben, konntest es aber nie oder nur sehr schwer bekommen?

(Überlegt.) Das Schlimme an der Sache ist, dass mir gerade nicht nur nichts einfällt, sondern mir auch bewusst wird, dass wir wirklich immer alles bekommen haben. Nehmen wir einmal meine Jugendweihe. Ich habe neben der Feier und den schicken Anziehsachen an sich, was ja schon ein kleines Vermögen gekostet hat, auch noch um die 1000 Ostmark und 250 Westmark geschenkt bekommen. Oder als ich ein Moped fahren wollte, habe ich mit 15 gleich den Mopedführerschein machen können und auch noch ein Moped geschenkt bekommen. Jaja, wir wurden schon verwöhnt. Mein Bruder und ich hatten eine sehr gute Kindheit.

Denkst du, du hattest auch einen Vorteil durch dein Leben in der Großstadt Berlin?

Auf jeden Fall. Wir Berliner sind häufiger an verschiedenes Obst herangekommen. Meine Familie hatte jedoch sogar immer Bananen und Orangen im Haus. Mein Onkel war nämlich Fernfahrer beim Obst- und Gemüsehandel. Früher waren Beziehungen sehr viel wert. Trotz des klassenlosen Gehabe warst du in der DDR nur wer, wenn du auch was zu bieten hattest.

Erinnerst du dich an einen Produktengpass?

Nein. Wir sind ja häufig im Deli einkaufen gegangen. Da hat zwar ’ne Dose Pfirsiche um die 7 DDR-Mark gekostet, aber wir hatten es ja. An was es der DDR wohl nie gemangelt hatte, war auf jeden Fall Fleisch. Das gab es meiner Erinnerung nach immer im Angebot.

Glaubst du, dass es dir besser ging als einigen deiner Klassenkameraden?

Auf alle Fälle. Da fällt mir eine Weihnachtsfeier in meiner Klasse ein. Wir haben gewichtelt. Ich habe eine Klassenkameradin gezogen. Typisch Junge wie ich war, habe ich das meiner Mutter einen Abend vorher mitgeteilt.

Meine Mutter machte daraufhin unseren Schrank auf um zu gucken, was wir denn für ein Mädel im Angebot hatten. Sie packte ihr ein „kleines“ Geschenk zusammen aus West-Schokolade, Kaugummis, einer guten Strumpfhose und einer Seife aus dem Westen, Fa war das. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Wichtelgeschenke in einen Sack gepackt. Der Sack roch wegen der Seife einfach himmlisch für alle. Für mich war der Geruch ja nichts Neues. Als das Mädel ihr Geschenk geöffnet hatte, ist sie fast umgekippt vor Freude. Für mich war das Alltag, ein paar Kleinigkeiten. Hört sich jetzt vielleicht im Nachhinein traurig an, aber das steigerte natürlich auch ein wenig deinen Beliebtheitsgrad. Frei nach dem Motto „Haste wat, biste wat“.

Hattest du auch Verwandte oder Bekannte im Westen?

Ja. Das kam auch noch dazu. Opa Lothar und Oma Gerda haben in Neukölln und Britz gewohnt und sind zweimal im Jahr zu uns herübergekommen. Natürlich haben sie dann riesige Pakete mitgebracht, auf welche wir Kinder uns natürlich trotz allem, was wir normalerweise auch häufiger zuhause hatten, wie die Geier gestürzt haben. Denn auch wenn wir vieles hatten, war es eben doch immer aufregend zu sehen, was es Neues drüben im Westen gab.

Was war in den Paketen aus dem Westen unter anderem immer so drin?

Puh, was war typischerweise drin – Auf jeden Fall tonnenweise Süßigkeiten wie Toffifee, Raider, Vaters gute Pulle Whiskey und Westgeld. Seife haben sie uns zum Beispiel nur selten mitgebracht, die kauften wir ja immer selbst in den Delis oder in den Intershops.

Was war das Schönste, das du dir je selbst gekauft hast?

Da fällt mir jetzt nichts ein. Außer vielleicht, dass ich mir ab und zu nach meiner Arbeit mal gegönnt hab, etwas essen zu gehen. Wie zum Beispiel beim Ketwurst Laden in der Schönhauser Allee oder im Burgerladen Grillietta. Da gab es die typischen Ostburger, mit Ananas oder Champignons drauf. Sich vom eigenen Gehalt etwas Leckeres hier und da leisten zu können, war auch schon etwas Besonderes.

Standest du auch mal Schlange?

Nein. Aber dass das Schlange stehen im Osten ein typisches Bild vom Leben in der DDR vermittelt, das stimmt wirklich. War irgendwo eine Schlange, haben sich viele Ossis immer gleich mit angestellt. Ich wette, die wussten nicht einmal für was. Wir brauchten das nicht zu tun. 

Und seid ihr auch mal im Westen gewesen?

Man durfte nur in den Westen, wenn man Verwandte ersten Grades drüben hatte. Oder besondere Anlässe anstanden wie Hochzeiten und Beerdigungen. Da meine Eltern beide im Osten lebten, hatte ich kein Anrecht darauf, zum Beispiel meine Großeltern drüben zu besuchen.

Meine Eltern hatten zwar beide ihre Eltern im Westen, doch nur meine Mutter durfte ihre Verwandten dort besuchen fahren. Da mein Vater bei der MITROPA gearbeitet hat und Verwandte im Westen hatte, durfte er nicht rüberfahren, wegen der Gefahr, dass er aus der DDR flüchtet. Diejenigen, die bei der MITROPA arbeiteten und keine Verwandten im Westen hatten, durften zum Beispiel ab und zu rüber. Aber wir waren eh Leute, die gar nicht abhauen wollten. Uns ging es doch sehr gut. Wir hatten alles, warum also abhauen oder es durch viele Besuchsanträge riskieren, dass der Staat ein Auge auf uns hat?

Also kannst du die aktuelle Ostalgie gut nachvollziehen?

Durchaus. Die Menschen sehnen sich doch häufiger nach dem Vergangenem.

Und heute? Auf welche Produkte aus der DDR greifst du bewusst zurück?

Oh, das ist eine Menge. Ich erinnere mich ja auch gerne an diese Zeit zurück. Das wären zum einen Malzbier Sternburger Doppelkaramel aus Leipzig, die Club Cola natürlich, und Süßigkeiten wie Bambina, Schlager Süsstafel und Krokant Spitzen aus Wernigerode. Und klassisch Bautzener Senf mittelscharf und Werder Ketchup. Auch im Osten sind so einige gute Produkte zusammengekommen. Denn nicht alles Gute kam aus dem Westen. Das ist mir heute auf jeden Fall bewusst.

Erzählungen von einer Kindheit auf dem Lande
Interview mit Doreen Gidde
„Ketchup und Pflaumenmus für eine Schallplatte. Das klingt jetzt so verrückt, aber damals waren diese Dinge wertgleich.“

Heute verschlägt es uns in den Berliner Bezirk Pankow, wo wir unsere nächste Zeitzeugin treffen. Doreen Gidde wurde 1967 als Tochter einer Buchhalterin und eines Pfarrers in dem Dorf Kleinjena geboren. Hier verbrachte sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend. Heute erzählt sie uns ihre ganz persönliche Geschichte vom Konsumieren in der DDR.

Hattet ihr direkt in eurem Dorf die Möglichkeit, einkaufen zu gehen?

Ja, in unserem Dorf gab es einen Konsum, in dem meine Familie häufig einkaufen gegangen ist. Die Auswahl war nicht riesig, deshalb musste man einfach jeden Tag einmal gucken gehen, was es so gab. Gab es aber mal etwas Besonderes, wie Bananen oder Orangen aus Kuba, wussten mithilfe des Dorffunks ziemlich schnell alle Leute Bescheid. Der Vorteil an einem Konsum in einem Dorf war, dass man sogar anschreiben konnte. Das haben einige Leute genutzt. Hatte ich selber als Kind mal 20 Pfennig zusammen oder noch von etwas anderem übrig, bin ich gerne zu dem Konsum gegangen und habe mir eine Rolle mit Dropsen oder auch die kleinen Lutscher, die auch als Pfeifen fungierten, gekauft. Das war immer etwas Besonderes für uns Kinder. Da kam man sich ganz groß vor. Häufig hat die Mutti aber auch mal etwas aus Naumburg mitgebracht. Da gab es natürlich mehrere Einkaufsmöglichkeiten.

Hattest du das Gefühl, dass euch Konsumgüter auf dem Dorf immer erst später, in einer kleineren Anzahl oder gar nicht erreichten?

(überlegt.) Eigentlich hatten wir alles, was man so gebraucht hat. Zu der Zeit war man aber auch nicht so anspruchsvoll. Es gab immer mal besondere Dinge, wie zum Beispiel Karlsbader Oblaten, Ketchup und weiteres. Da musste man schnell sein. Oder wenn es Schaumküsse gab, dann bist du auch sofort zum Laden gerannt. Aber wir hatten auch Glück mit der Frau, die unseren Dorfkonsum geführt hat. Die war echt auf Zack. Und viele Sachen gab es auf dem Dorf eben einfach auch. Wie zum Beispiel Obst und Gemüse.

Also hattet ihr die Möglichkeit, selber Gemüse anzubauen oder Vieh großzuziehen?

Ja, wir hatten einen Garten, wo wir vor allem Salat und Tomaten angebaut haben. Also frisches Gemüse hatten wir schon immer zuhause. Irgendeiner im Dorf hatte auch immer ein Schwein, dem viele Dorfbewohner ihre Essensreste gebracht haben, damit sie bei der Schlachtung beteiligt wurden. Das war immer ein richtiges Fest, denn so eine Schlachtung dauerte den ganzen Tag. Einfach alles an dem Schwein wurde zu Würsten verarbeitet und aus den Resten wurde dann noch eine große Schlachtsuppe gemacht.

Hattet ihr auch Zugang zu Westgeld?

Mein Vater wurde als Pfarrer teils von der Westkirche bezahlt. Jeden Monat erhielt er zu seinem Ostgehalt von 500-600 Mark noch eine ähnliche Summe an Westgeld. Dieses Geld hat mein Onkel im Westen verwaltet. Brauchten wir dann etwas, haben wir meinem Onkel Bescheid gegeben und der hat das mit dem Westgeld meines Vaters dann besorgt und bezahlt und entweder als Paket zu uns geschickt oder bei seinem nächsten Besuch mitgebracht.

Wie häufig habt ihr Pakete aus dem Westen bekommen?

So ungefähr alle ein bis zwei Monate kam ein Westpaket bei uns zuhause an. Trotz der Häufigkeit freuten wir uns jedes Mal sehr darüber. Wie diese Pakete immer gerochen haben, einfach wunderbar. Durch das Westgeld unseres Vaters hatten wir eigentlich immer Nutella zuhause, Zutaten für Stollen zu Weihnachten und das im Osten so heißbegehrte Zitronat. Die Schokolade aus den Paketen hortete Mutti allerdings immer für Geburtstage und Weihnachten.

Wie häufig besuchten euch eure Westverwandten im Jahr?

Das war immer einmal im Jahr. Da kamen mein Onkel und meine Tante mit ihren fünf Kindern. Mein Vater ging vorher los in die Brauerei, um ein Fass Bier und ein Fass Brause zu kaufen. Unser Haus war von oben bis unten voll mit Menschen in diesen Tagen. Diese Besuche waren immer mit tollen Unternehmungen verbunden. So sind wir zum Beispiel manchmal auch in ein Restaurant essen gegangen, das war etwas ganz Besonderes für uns. Für unsere Westverwandten war das jedes Mal etwas merkwürdig, da man erst einmal vor dem Restaurant in einer Schlange stand, bis man dran war und einen Platz zugewiesen bekam. Häufig aßen wir aber doch zuhause. Wenn sie dann wieder abgefahren sind, hat unser ganzes Haus noch wochenlang wunderbar gerochen – Nach allem Guten, nach Westen eben. Genauso hat es auch in den Intershops immer gerochen, diesen intensiven Geruch kann man sich heute kaum mehr vorstellen.

Was haben euch eure Westverwandten dann immer so mitgebracht?

Ach, alles Mögliche. Einige Anziehsachen und neuwertige Strumpfhosen, vor allem aber Seife und Weichspüler. Die Seifen wanderten immer sofort in unsere Kleiderschränke, damit die Anziehsachen schön frisch dufteten. Die Seifen aus dem Westen haben einfach so viel besser gerochen, wunderbar parfümiert. Es ist allerdings leider auch nicht immer alles bei ihren Besuchen mit angekommen, denn unser Onkel und seine Familie wurden bei der Grenze immer unglaublich gefilzt. Auch die Pakete an uns wurden immer vorab geöffnet und einige Dinge entnommen. Manchmal wurde ein Zettel reingelegt, auf welchem stand, was bei der Kontrolle entnommen wurde, manchmal aber auch nicht.

Kannst du dich an etwas erinnern, was bei der Kontrolle einbehalten wurde?

Ja, häufig wurden die Matchbox Autos einbehalten. Da gab es ja zum Beispiel auch so kleine Panzer von. Die sind nicht durchgekommen. Das war sehr schade, denn die Matchbox Autos waren immer eine große Sache für uns Kinder.

Gab es für deine Verwandten aus der BRD auch etwas in der DDR, was sie gerne gekauft haben?

Oh ja. Sie wollten jedes Mal in Buchläden und Schallplattengeschäfte gehen, da wissenschaftliche Bücher und Klassiknoten für das Klavier hier viel günstiger waren als drüben im Westen.

Wieder zurück zu dir: Gab es in deiner Kindheit und Jugend etwas, was du unbedingt wolltest, dir aber leider nicht leisten konntest?

Da erinnere ich mich vor allem an ein Fahrrad. Ich wollte wirklich gern eins haben, das war ja auch sehr sinnvoll in meinem Alltag und meiner Umgebung. Aber Fahrräder waren wirklich teuer. Da hieß es kreativ zu werden. Also baute ich mir über Monate hinweg selbst eins aus vielen Einzelteilen zusammen. So war es bei vielen Dingen. Statt sich Schallplatten oder Kassetten teuer neu zu kaufen, habe ich mir Leerkassetten besorgt, auf welche ich selber die Lieder, die ich haben wollte, drauf spielte. Da saß ich stundenlang vor dem Kassettenrekorder und habe die Songs aus dem Radio selbst aufgenommen. Manchmal war dann leider auch die Stimme des Moderators mit drauf. Diese Kassetten haben wir dann alle untereinander getauscht. So wie die Groschenromane aus dem Westen. Die wurden so viel hin und her getauscht, dass man irgendwann gar nicht mehr wusste, welches man schon gelesen hatte. Deshalb schrieb jede von uns vorne immer ihr Kürzel in die Hefte rein, die man ausgelesen hatte. Die Hefte sahen irgendwann aus – zerlesen und vollgekritzelt. Gelesen habe ich schon immer viel. Besonders gern natürlich Romane aus dem Westen. So habe ich auch Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“ oder „das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde gelesen. Die Klassiker aus dem Westen hat man in der DDR schon bekommen. Außer die Systemkritischen natürlich. Und die durch die Regierung unterdrückte Literatur aus dem Osten war auch schwer zu bekommen. 

Was war das eine besondere Teil, welches du dir selber in deiner Jugend gegönnt hast?

Ich war damals unglaublich stolz, als ich mir einen Walkman gekauft habe. Und einmal leistete ich mir rote Pumps, die sahen so gut aus. Oh, und ich war immer total stolz, wenn ich mir eine neue Jeanshose gekauft habe. Die waren am Anfang immer noch so wunderbar blau. Aber ich habe mir auch viel selbst genäht, um Geld zu sparen und weil die guten Klamotten nun einmal wirklich unglaublich teuer waren. Von T-Shirts aus Baumwollwindeln, bis zu einem Bleistiftlederrock aus einem Stück Leder, welches niemand mehr wollte. Das war auch noch in meiner Lehrzeit so, da man nicht so viel Lehrgeld bekam und ich auch Wohngeld in dieser Zeit an meine Eltern zahlte.

Was für eine Lehre hast du absolviert?

1983 habe ich eine Lehre als Facharbeiterin für Lagerwirtschaft im Großhandel WTB angefangen. Das hat mir zuerst so gar kein Spaß gemacht, denn es war auch nicht das, was ich werden wollte. Alles war so dreckig immer in den riesigen Hallen. Wir haben Paletten voll mit Waren des täglichen Bedarfs für die einzelnen Einkaufsläden gepackt. Mit der Zeit wurde es aber angenehmer, man gewöhnte sich ja auch an die Arbeit. Und sie brachte mir auch einen großen Vorteil, denn ich saß direkt an der Quelle. Wir hatten innerhalb des Betriebes sogar einen eigenen Laden nur für die Mitarbeiter. Konsummäßig hatte ich ab da an gar kein Problem mehr.

Kannst du dich an Produkte erinnern, die als Mangelware in der DDR gehandelt wurden?

Oh ja. Ketchup zum Beispiel. Und Pflaumenmus. Und natürlich Obst, aber das ist ja nicht gerade ein Geheimnis über die DDR. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, haben wir echt die ulkigsten Sachen als Tauschware eingesetzt. Ketchup und Pflaumenmus für eine Schallplatte. Das klingt jetzt so verrückt, aber damals waren diese Dinge wertgleich.

Und heute? Auf welche Produkte aus der DDR greifst du bewusst zurück?

In den 90er Jahren habe ich erst einmal wirklich vermehrt nur West-Produkte gekauft, doch mit den Jahren kehrt man dann doch wieder zu einigen Ost-Produkten zurück. Wie zum Beispiel Kati Mehl und der leckere Aufstrich Naschi mit Kokos. Oh und Nudossi, weil das einfach viel nussiger schmeckt als Nutella. Und natürlich auch den Bautzener Senf und den leckeren Born Ketchup aus Thüringen. Einige besonders leckere Dinge gab es offensichtlich wohl doch.

Kaffee, Seife, Schokolade: Westpakete für die Ostverwandtschaft
Interview mit Dirk Kolter
„Wir haben Dinge in die Pakete gelegt, die für uns total normale Gebrauchsgegenstände waren. Für unsere Verwandten in der Zone waren es jedoch echte Luxusgüter.“

Wir treffen uns mit meinem Arbeitskollegen Dirk Kolter zum Mittagessen. Geboren im Jahr 1970, lebte er bis zur Wende 1989 in der BRD, der Großteil seiner engsten Verwandten jedoch in der DDR. Es ist eine Situation, in welcher sich viele deutsche Familien durch den Ausbau der innerdeutschen Grenze und der Errichtung der Berliner Mauer befinden. Dass der Eiserne Vorhang jedoch nicht unbedingt eine Trennung auf Lebzeiten bedeutete, zeigen die Erzählungen des Zeitzeugen Dirk Kolters.

Wo sind Sie aufgewachsen? In einer ländlichen Gegend oder in einer Stadt?

Ich bin vor allem in einer ländlichen Gegend aufgewachsen.

Wann wurde Ihnen das erste Mal vom geteilten Deutschland erzählt beziehungsweise wann wurde Ihnen diese Situation bewusst?

Das muss so um 1972 bis 1973 gewesen sein. Meine Eltern telefonierten viel mit ihrer Familie drüben und schickten ihnen Pakete. Außerdem hatten wir ab und zu auch mal Besuch aus der Zone. Das habe ich natürlich schon früh mitbekommen.

Bei ihren Besuchen in der BRD haben Ihre Ost-Verwandten doch sicherlich etwas aus ihrer Heimat mitgebracht oder?

Ja, eine Menge sogar. Es war wirklich nicht nur so, dass die Westverwandten der Familie und den Bekannten bei ihren Besuchen in der Zone viel mitgebracht hatten. Meine Verwandten hatten einen ganzen Kofferraum voller Dinge dabei. Darunter viele aus Holz gedrechselte Gegenstände und Kerzen, aber auch echte Leckereien für uns Kinder, wie Katzenzungen und Puffreis. Davon konnte ich gar nicht genug bekommen als Kind. Und sie haben immer eine Menge selbst Geschlachtetes mitgebracht.

Wie häufig hatten Sie Besuch von Ihrer Ost-Verwandtschaft?

Sie kamen so ungefähr zwei bis drei Mal im Jahr zu Besuch. Nicht jeder hatte natürlich immer Zeit, deshalb verteilten wir unsere Ost-Verwandten auf unseren West-Verwandten jedes Mal sehr geschickt, damit jeder mal von jedem etwas hat, jeder mal jeden wiedersieht.

Haben Sie selber Westpakete gepackt?

Ja, das habe ich, sehr häufig sogar. Das Wohnzimmer meiner Oma war die Sammelstelle für die Pakete. Da saßen wir dann immer stundenlang und haben die Pakete gepackt. Durchaus mal zehn Stück gleichzeitig.

Und was haben Sie da dann immer so reingepackt?

Also was wir wirklich immer mitgeschickt haben war die Lux-Seife. Danach haben die Verwandten immer gefragt, sowie nach Kaffee und Süßwaren. Die Pakete wurden dann individualisiert durch Kleidung. Junge Frauen bekamen zum Beispiel ältere Kleidung von meiner Mutter, Kinder natürlich unsere alte Kinderkleidung. Und Strumpfhosen waren immer sehr gefragt. Die haben wir dann natürlich gekauft und ebenso dazugelegt.

Häufig legten wir auch noch geschorene Schafswolle dazu. Der Markt hierfür war in der BRD total zusammengebrochen, im Osten konnten scheinbar mehr Menschen etwas damit anfangen. Manchmal gab es auch Sonderbestellungen bei uns. Wenn zum Beispiel jemand ein Haus drüben gebaut hat, haben sie Sachen, wie Klamotten, bei uns bestellt, um diese dann gegen Steine und Co. unter der Ladentheke zu tauschen.

War Ihnen schon früh bewusst, dass es im Osten so einige Engpässe und Sortimentslücken gab?

Vor allem durch das Packen der Pakete wurde mir das bewusst. Wir haben Dinge in die Pakete gelegt, die für uns total normale Gebrauchsgegenstände waren. Für unsere Verwandten in der Zone waren es jedoch echte Luxusgüter. Das war schon schwer nachvollziehbar.

Und sind Sie auch in den Genuss gekommen, Pakete aus dem Osten geschickt zu bekommen?

Ja, so wie unseren Verwandten uns besuchen kommen durften, haben sie uns auch Pakete zu kommen lassen. Das waren dann die gleichen Dinge, die sie auch bei ihren Besuchen bei uns mitbrachten. Außer es gab mal wieder irgendeinen Engpass drüben. Und von den Fleischwaren wurde natürlich abgesehen. Für mich waren das Beste sowieso immer die Katzenzungen.

Gab es auch einen Markt für DDR-Produkte in der BRD?

Nein, nicht dass ich wüsste. Um zum Beispiel an Katzenzungen zu kommen, musste man schon jemanden im Osten haben, von dem man Pakete bekommen konnte. Oder man fuhr in die Zone.

Haben Sie Ihre Verwandten auch einmal in der DDR besucht?

Ja, häufiger sogar.

Erzählen Sie bitte ein wenig von Ihren Besuchen bei den Ost-Verwandten.

Das erste Mal bin ich 1977 in die Zone gefahren. Wir haben das Elternhaus meiner Mutter kurz vor dem Abriss besucht. Für mich war hier drüben damals alles immer so grau. Hier sah es original wie in den sechziger Jahre Reklamen der DDR aus. Als würde alles einem strikten Designkodex folgen. Alles sah so altmodisch aus. Da war kein Raum für Individualität. Außerdem hatte ich Angst in der DDR, weil sich meine Eltern jeden Tag auf der Polizeiwache melden mussten. Meine Mutter war nämlich eine Republikflüchtige. Dass meine Ost-Verwandten genauso wie meine West-Verwandten von der DDR immer nur als Zone gesprochen hatten, verringerte meine Furcht nicht gerade. Auch viele meiner Ost-Verwandten hielten nicht viel von der DDR. Sie waren eben nicht angepasste Menschen, die leider in der Zone lebten.

Sind Sie in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Sie vielleicht in dem deutschen Staat gelebt haben, welchen viele Menschen angeblich mit „besseren Konditionen und Lebensbedingungen“ verbanden?

Ja das bin ich. Das hat sich durch die Familie bemerkbar gemacht und dadurch, dass man wirklich freier reden konnte. Man hatte nirgends mit Zensuren zu kämpfen. Vor allem nicht mit der in den Köpfen der Menschen.

Was benutzen Sie heute bewusst aus dem ehemaligen Osten?

Eigentlich nichts. Nicht einmal Spee-Waschmittel, auch wenn das gut riecht. Ich lege viel Wert auf umweltbewusste und gesunde Produkte. Und ich bin wohl einfach nicht so markenorientiert, weshalb ich jetzt beim Kauf eines Produktes nicht darauf achte, ob es früher ein Ost- oder West-Produkt gewesen sein könnte. Ich betrachte Sachen heute von einem anderen Gesichtspunkt. So versuche ich Produkte zu kaufen, die von einem kleinen Händler sind, egal, ob aus Ost- oder Westdeutschland.

Eine Mutter erinnert sich
Interview mit Anneliese Heinrich
„Heute alltägliche Dinge wie eine gut riechende Seife waren in der DDR echte Sortimentslücken. Wollte man diese damals besonderen Dinge haben, ging das nur über Beziehungen.“

An einem Samstagnachmittag im Januar treffen wir Anneliese Heinrich in ihrem gemütlichen Wohnzimmer. Während sie noch den Kaffee kocht, erzählt sie uns schon einmal ein wenig über sich. Sie ist Jahrgang 1943, weshalb sie die DDR nicht nur als Kind und Jugendliche, sondern auch als Erwachsene und Mutter miterlebt hat.

Zu Beginn erst einmal eine allgemeine Frage: Was ist der Konsumgegenstand, der dich noch immer an die DDR erinnert?

Bei Obst und Gemüse denke ich immer an die DDR zurück. Das liegt daran, dass es davon einfach nicht so viel gab, alles war nur begrenzt vorrätig. Extrem war es immer mit Bananen und Orangen. Das hört sich jetzt so typisch für die DDR an, aber entspricht eben auch der Wahrheit. Orangen gab es zum Beispiel immer nur in der Weihnachtszeit und dann nur auf Zuteilung.

Du hast uns ja vorhin erzählt, dass du Verkäuferin warst. War das immer dein Traumberuf?

Es war schon zu meiner Zeit so, dass man sich die Berufe nicht immer aussuchen konnte. Man musste sich sehr bemühen, überhaupt eine Ausbildungsstelle zu finden. Jedenfalls eine, die wenigstens annähernd zu einem passt. Mein ursprünglicher Traum war es eigentlich, Kindergärtnerin zu werden. Da hätte ich aber immer bis nach Schwerin fahren müssen und die haben zu der Zeit, als ich eine Ausbildung gesucht habe, nicht gesucht.

Und wie ist es dann dazu gekommen?

Ich habe mich bemüht, eine Lehrstelle zu finden, welche sich nicht so weit entfernt von meinem Elternhaus befand und da hieß es bei mir in der Kleinstadt Brüssow bei Pasewalk, dass da eine Auszubildende im Konsum-Laden gesucht wird. Also habe ich mich auf gut Glück beworben und hatte auch ziemlich schnell ein Bewerbungsgespräch – und wurde zum Glück genommen.

Wie lang ging deine Ausbildung?

3 Jahre.

Und wurdest du danach übernommen?

Ja, ich wurde zum Glück übernommen.

Du sprichst häufig von Glück.

Ja, das liegt wohl daran, dass man einfach zu häufig von Personen gehört hatte, die eine Ausbildung machen mussten, die ihnen so gar nicht gefiel. Oder von Leuten, die in Jobs fest saßen, die sie nicht glücklich machten. Meine Arbeit in der Kaufhalle machte mich, nach einer kurzen Eingewöhnungsphase, schon ziemlich glücklich.

Welche Vorteile hattest du durch deine Arbeit in der Kaufhalle?

Ich saß direkt an der Quelle. So hatten wir zum Beispiel verschiedenes Obst und Gemüse immer daheim.

Du warst ab deinem 22. Lebensjahr Mutter. Gab es irgendwelche Produkte, auf die sich deine Töchter besonders gefreut haben, wenn du sie von der Arbeit mit nach Hause gebracht hast?

Da fällt mir gerade nicht wirklich etwas ein. Ich habe leider nicht so viel verdient, so wie gefühlt jeder, den man kannte, weshalb auch kein Geld für Besonderheiten da war.

Was wolltest du immer haben, konntest es jedoch nie oder nur sehr schwer bekommen?

Zu meiner Zeit kamen die ersten Farbfernseher auf. So einen wollte ich schon sehr gerne haben. Man musste jedoch wirklich viele Groschen sparen, jede Mark dreimal umdrehen, um sich jemals so einen leisten zu können. So war es mit vielen Gegenständen. Nicht nur mit den Luxusgütern, sondern auch mit einfachen Alltagsgegenständen. Man musste zum Beispiel Möbel auf Kredit kaufen, so wie heute, doch damals ging es gar nicht anders, weil alles so unendlich teuer war, man gleichzeitig jedoch so einen geringen Verdienst hatte. Was ich damit sagen möchte, ist, dass man so einiges haben wollte, aber die Beschaffung einfach in sehr vielen Fällen so gut wie unmöglich war.

Erinnerst du dich an einen Produktengpass?

Ich erinnere mich sogar an so einige Engpässe. Ich kann euch keine genauen Daten sagen, aber eine Zeit lang war zum Beispiel die Butter so knapp. Butter wurde zu einem seltenen Lebensmittel. Sowohl die Tafelbutter als auch die Markenbutter. Mich hat der Engpass natürlich nicht getroffen, da ich ja direkt an der Quelle arbeitete. Aber ich erinnere mich noch, dass wir nur zweimal am Tag in der Kaufhalle Butter in Kartons in die Kühlung gestellt haben. Und die war ratzfatz weg, wir hatten gar keine Zeit, sie aus den Kartons auszuräumen und ordentlich ins Kühlregal einzusortieren. Es waren ja eh nur so wenige. 

Aber auch an Überplanbestände erinnere ich mich. Zum Beispiel gab es mal viel zu viele Eier. Die haben dann pro Stück nur noch einen Groschen gekostet. Also gab es wochenlang zu jeder Mahlzeit Eier bei uns. Diesen günstigen Preis mussten wir ja ausnutzen. Das Gleiche passierte auch mit Tomaten. Es gab so viele Tomaten, dass ein Korb mit 5 kg Tomaten nur noch eine Mark gekostet hat. Also gab es zu dieser Zeit sehr viele Tomaten und selbstgemachtes Tomatenmark bei uns.

Glaubst du, dass es dir besser ging als einige deiner engeren Freunde? Und wenn ja, war dir das bewusst?

Ja auf jeden Fall, weil ich ja an sämtliche Waren herangekommen bin. Das war kein Thema für mich.

Was war das Schönste, was du dir je selber gekauft hast?

Ich erinnere mich jetzt nicht an ein einzelnes, bestimmtes Teil. Aber dann und wann hat man sich mal ein schönes Kleid gekauft. Es nicht wieder selbst nähen zu müssen, sondern sich auch einmal ein modisches Teil kaufen zu können, war schon etwas Besonderes. Mehr fällt mir jetzt nicht ein, denn an sich selbst hat man ja immer erst zuletzt gedacht. Meine Kinder kamen immer an vorderster Stelle.

Hast du dich auch einmal an einer Schlange auf der Straße angestellt, ohne eigentlich zu wissen für was?

Ich glaube nicht. Zum einen arbeitete ich ja direkt an der Quelle, zum anderen haben wir vieles unter dem Tisch getauscht, wenn wir mal etwas gebraucht haben. Das war die sogenannte Bückware. Heute alltägliche Dinge wie eine gut riechende Seife waren in der DDR echte Sortimentslücken. Wollte man diese damals besonderen Dinge haben, ging das nur über Beziehungen. Von den Sortimentslücken gab es jede Menge in der DDR. Kein Wunder, dass so viele Leute immer sofort auf Warteschlangen vor den Geschäften ansprangen.

Hattest du Westkontakte?

Nein. Von Bekannten im Osten, die Kontakte im Westen hatten, haben wir aber auch mal was bekommen. Wie ein Stück Seife oder ein Stück Schokolade. Auch von der eigenen Friseurin. Denn viele Leute kamen aus dem Westen rüber zum Friseur, weil es bei uns wohl viel günstiger war. Die Kundinnen aus der BRD haben dann auch mal Kaffee, Schokolade und Seife mitgebracht.

Kannst du dich noch daran erinnern, was du dir als Erstes gekauft hast, als die Berliner Mauer am 09. November 1989 fiel und du das erste Mal in deinem Leben die BRD besuchen konntest?

Ja, daran kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wir haben einfach den Laden zugemacht und sind bei der Bornholmer Brücke rüber in den Westen gegangen. Einfach so. Die Menschen standen bis zur Schönhauser Allee runter, es war was los, das kann ich euch sagen. Im Westen warteten Busse, die uns an verschiedene Orte in Westberlin brachten.

Die Straßen waren vollgestopft mit Menschen, sodass wir kaum in einen Laden hinein gehen konnten. Es gab keine Körbe mehr und da man ohne Korb nicht abkassiert wurde, habe ich von den 100 Mark Begrüßungsgeld kaum etwas gekauft. Ich hab lediglich eine Kosmetikpalette für meine jüngste Tochter gekauft. Oh, und Mandarinen. Es war alles schon sehr überfordernd. Wo sollte man zuerst rein und was unbedingt kaufen?

Und heute? Auf welche Produkte aus der DDR greifst du bewusst zurück?

Ich kaufe nach wie vor Fit. Und Rotkäppchen Sekt, der kam früher so um die 10 Mark, heute 3,99 Euro. Ansonsten eigentlich nichts – ich finde die Qualität der West-Produkte nach wie vor besser.

Heiße Ware - Schwarzmärkte in der DDR
Interview mit André Gidde
„Die Regierung konnte die Bedürfnisse der Menschen nicht stillen, also mussten sie diese Art von Handel eben akzeptieren.“

Heute sprechen wir mit André Gidde. Der 1964 geborene Thüringer wächst in einem behüteten Umfeld in Jena auf. Mit 17 Jahren beginnt er eine Lehre als Elektronikfacharbeiter. Wie viele Jugendliche und Erwachsene nutzt er den Handel mit West-Produkten innerhalb der DDR, um an Anziehsachen und Musik aus der BRD zu gelangen, ohne ein Vermögen in den Intershops ausgeben zu müssen. Kurz nach dem Abschluss seiner Lehre besucht er das erste Mal einen Schwarzmarkt.

Kannst du dich daran erinnern, wann du das erste Mal auf einen Schwarzmarkt gegangen bist?

Ich war um die 19 Jahre alt. Ich hatte damals einen guten Kumpel, der ziemlich viel Geld besaß. Der wollte sich ein neues Auto kaufen. Also fuhren wir los nach Erfurt zu einem Autoschwarzmarkt. Das war schon ganz spannend, auch wenn ich selber nur als Begleitung und nicht als Käufer mitgefahren bin.

Und hat dein Freund sich ein Auto gekauft?

Da hat das Geld dann doch nicht gereicht, auch für meinen Kumpel nicht.

Hattest du Angst, erwischt zu werden?

Nein, gar nicht. Auf so einem Autoschwarzmarkt standen ja nicht immer nur illegale Fahrzeuge rum. Da wurden häufig auch Autos aus dem Osten zu völlig überhöhten Preisen verkauft, da man ja leider aufgrund der begrenzten Stückzahl ewig auf ein Fahrzeug in der DDR warten musste. Auch konnte man legale Autos hier einfach in anderen Währungen bezahlen.

Bist du auf weiteren Schwarzmärkten gewesen?

Schwarzmärkte weniger, aber man kannte ja Leute, die Dinge besorgen konnten und an die hat man sich dann gehalten. Da hat man einfach unter vier Augen gesprochen und gehandelt. Jeder kannte ja irgendwie jeden, weshalb auch jeder mal einen Tipp hatte, wo man zum Beispiel gut Westgeld tauschen konnte oder die besten Schallplatten aus dem Westen herbekommt. Man hat sich mit der Zeit ein Beziehungsgeflecht aufgebaut. Am besten war es eh, wenn man Westgeld hatte.

Ein besonderes Teil, was du über Beziehungen ergattert hast?

Ja und zwar eine Anorak Jacke aus dem Westen. 600 Mark hat die gekostet. Das war schon ein Ding. Lange Zeit mein liebstes Teil.

Waren die Preise vertretbar?

Nein, die waren schamlos. Wirklich schamlose Preise. Nach heutigen Maßstäben kannst du das gar nicht mehr berechnen. Aber abgezockt wurde man eh überall. Ob in den Läden, auf den Schwarzmärkten oder unter vier Augen.

Kanntest du jemanden, der seine Waren regelmäßig auf einem Schwarzmarkt vertickt hat?

Ja natürlich, ein paar Leute kannte ich schon. Aber wie gesagt, ich habe lieber unter vier Augen mit den Leuten gehandelt. Da hatte man schon das Gefühl, auch einen besseren Deal bei herauszuschlagen.

Hattest du das Gefühl, der Schwarzmarkt war wirklich illegal oder eigentlich im Sinne der Führung?

Offiziell illegal, aber er wurde geduldet. Weil es ja viele Dinge, die du da kaufen konntest, sonst nicht gab. Ich denke, dass das alles mit der Zeit so gewollt war.

Wie machte sich das für dich bemerkbar beziehungsweise wie kommst du darauf?

Dir hat niemand auf die Finger geklopft, Schwarzmarkt und Handel mit West-Produkten waren offene Geheimnisse. Den Händlern und Käufern ist nie etwas passiert soweit ich weiß.

Also denkst du, der Schwarzmarkt war unabdingbar für die Stillung des Bedarfs an Konsumgütern der DDR-Bevölkerung?

Ja, das war schon wichtig. Ein wichtiger Bestandteil des Konsumalltags in der DDR. Die Regierung konnte die Bedürfnisse der Menschen nicht stillen, also mussten sie diese Art von Handel eben akzeptieren.

Wäre die Situation in der DDR mit den Engpässen ohne den Schwarzmarkt und dem Handel mit West-Produkten deiner Meinung nach vielleicht früher eskaliert?

Ob es früher eskaliert wäre ist zu bezweifeln, aber der Schwarzmarkt hat auf jeden Fall den Druck herausgenommen. Man konnte die Leute besser ruhigstellen.

Hast du mal gesehen wie eine Razzia von statten ging?

Nein, gar nicht. Davon habe ich wirklich nie gehört.

Zum Schluss

Nachdem wir die Zeitzeug*innen getroffen und ihren ganz eigenen Geschichten über das Konsumieren in der DDR gelauscht haben, hat sich unser Bild vom Leben innerhalb der kommunistischen Diktatur verändert. Jede der sechs Personen, egal ob sie sich mit eher positiven oder negativen Gefühlen an das Konsumieren in der DDR erinnerte, hat uns gezeigt, wie unterschiedlich das Leben trotz der vielen Einschränkungen war. Ihre Erzählungen bezeugen uns, dass das Leben und die Konsumkultur nicht so eintönig und fremdbestimmt waren, wie sie so häufig im öffentlichen Dialog dargestellt werden.

Durch unser Projekt ist uns bewusst geworden, wie wichtig es ist, Erinnerungen von jedem einzelnen Menschen zu bewahren, um  vielseitige Beiträge für unser kollektives Gedächtnis schaffen zu können. Denn nur durch die Wiedergabe der Erfahrungen jedes einzelnen Menschen kann Geschichte für nachfolgende Generationen greifbar gemacht werden. 

 

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Weiterführende Literatur

Böhme, Katja/ Ludwig, Andreas (Hg.): Alles aus Plaste. Versprechen und Gebrauch in der DDR, Köln/Weimar/Wien 2012.

Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999.

Salheiser, Axel: Konsum, Bundeszentrale für politische Bildung, online unter: http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47299/konsum?p=all, veröffentlicht: 30.03.2010 [Stand: 21.03.2019].

Vaizey, Hester: Born in the GDR. Living in the Shadow of the Wall, London 2006.

Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR. 1971-1989, 3. Aufl., Berlin 2009.

Museen und Dokumentationszentren

Homepage des DDR Museums Berlin – Daueraustellung: „Geschichte zum Anfassen. Eine Zeitreise in die DDR“

Homepage des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt – Dauerausstellung: „Alltag: DDR. Geschichten / Fotos / Objekte“

Homepage des Museums in der Kulturbrauerei, Berlin – Dauerausstellung: „Alltag in der DDR“

 

Quellennachweise

[1] Vgl. Kleinhardt, Jörn: Läden und Kaufhäuser in der DDR – HO, Konsum, Centrum Warenhaus und Co. Teil 2, online unter: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/einkaufsvielfalt-der-ddr-ho-konsum-centrum-warenhaus-und-co warenhaus-und-co-teil-2 [Stand: 22.03.2019].

[2] Vgl. Kleinhardt, Jörn: Läden und Kaufhäuser in der DDR – HO, Konsum, Centrum Warenhaus und Co., online unter: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/einkaufsvielfalt-der-ddr-ho-konsum-centrum-warenhaus-und-co warenhaus-und-co [Stand: 22.03.2019].

[3] Vgl. Haunhorst, Regina/ Zündorf, Irmgard: Biografie Erich Honecker, online unter: https://www.hdg.de/lemo/biografie/erich-honecker.html [Stand: 22.03.2019].

[4] Vgl. Grau, Andreas: Intershop, online unter: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/reformversuche-im-osten/intershop.html [Stand: 22.03.2019].

[5] Vgl. Zeitreise MDR: Mehr als Essen auf Rädern. Die Geschichte der Mitropa, online unter: https://www.mdr.de/zeitreise/ddr/mitropa-was-ist-das100.html [Stand: 22.03.2019].

[6] Vgl. Mohrmann, Ute: Lust auf Feste. Zur Festkultur in der DDR, in: Häußer, Ulrike/ Merkel, Marcus (Hrsg.): Vergnügen in der DDR, Berlin 2009, S. 32-51.

[7] Vgl. Kleinhardt, Jörn: Läden und Kaufhäuser in der DDR – HO, Konsum, Centrum Warenhaus und Co. Teil 5, online unter: https://www.ddr-museum.de/de/blog/archive/laeden-und-kaufhaeuser-der-ddr-ho-konsum-centrum-warenhaus-und-co-teil-5 [Stand: 22.03.2019].

[8] Vgl. Zeitklicks: West- und Ostzone?, online unter: http://www.zeitklicks.de/brd/zeitklicks/zeit/politik/frag-doch-mal-1/west-und-ostzone/ [Stand: 25.03.2019].

[9] Vgl. Lebensmittel-Lexikon Dr. Oetker: Artikel: Katzenzunge, online unter: https://www.oetker.de/lebensmittel-lexikon/ld/katzenzungen.html [Stand: 25.03.2019].

[10] Vgl. Zeitklicks: Flucht. Weg! Nur wie?, online unter: http://www.zeitklicks.de/ddr/zeitklicks/zeit/das-system/weg-nur-wie/flucht/ [Stand: 25.03.2019].

[11] Vgl. Tippach-Schneider, Sabine: Artikel: Überplanbestände, in: Das große Lexikon der DDR-Werbung, Berlin 2002, S. 310.

[12] Vgl. Schneider, Gerd/ Toyka-Seid, Christine: Eiserner Vorhang. Trennung von Ost und West im Kalten Krieg, online unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/161031/eiserner-vorhang [Stand: 22.03.2019].

[13] Titelbild, Quelle: „Delikatessen“, Geschäftsauslage DDR (vermutlich in Leipzig), Florian Schäffer [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)]

Falls nicht anders angegeben: Bilder mit freundlicher Genehmigung des DDR Museums Berlin

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DDR in drei Stunden http://was-ist-geblieben.de/drei-stunden-ddr-tourismus/ Tue, 05 Feb 2019 08:08:05 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=128 Ein Beitrag von Lucas Frings, Malte Grünkorn, Emanuel Weitmann

Plötzlich Touri! An einem sonnigen Wintertag treffen wir uns am Brandenburger Tor, drei Stunden „Communist Berlin and Berlin Wall Tour“ stehen uns bevor. Wir buchten vorab, in der Kurzbeschreibung wurde eine akkurate Darstellung des Lebens in der DDR versprochen – „the good as well as the bad“. Schon bei der Buchung hatten wir gemerkt, dass das Angebot von kommerziellen Touren zur DDR-Geschichte – zumal im Winter – überschaubar ist. Radtouren, bei denen deutlich mehr Orte angesteuert werden, beginnen erst im April. Eigentlich wollen wir verschiedene Touren buchen, merken dabei aber rechtzeitig, dass unterschiedliche Unternehmen dieselben Führungen der gleichen Guides rebranded verkaufen.

Geschichte und Tourismus, it’s a match – and a business! Das fand auch Valentin Groebner, in seinem Buch „Retroland“. Er fragt sich darin, wie das aussieht, „wenn Monumente und Ereignisse aus der Vergangenheit als Zeugen lokaler ‘Identität’ und Echtheit vermarktet werden“. Es geht um das Banale, das was einfach da ist, aber aufregend gemacht wird. Um Monumentalisierung, die bei Groebner ein Verfügbarmachen der Stories und Deutungen von Orten in konsumierbaren Portionen ist. Da wollen wir dabei sein, das wollen wir erleben. Denn was bleibt von der DDR, ist das, was gekauft wird und das was performt wird, so unser Gedanke. Als Touristen wollen wir Geschichten über Spies und deren Gadgets (Giftspitzen-Regenschirme), herzzerreißende Familienschicksale und tragische Todesfälle an der Mauer erfahren, wie uns der Flyer zur Führung verspricht. Wir wollen dabei sein während Berlin zum stadtgewordenen Symbol der Freiheit und Unfreiheit wird.

Und wer wird das wem erzählen? Wie wird unser Guide (historische) Orte in die Erzählung einbinden? Welches DDR-Narrativ wird vermittelt? Häufig wird die DDR entweder als reine Unterdrückungsgeschichte durch ein zynisches und totalitäres Regime, oder in einer Art ostalgischer Verharmlosung erzählt. DDR-Geschichte bleibt unter einer “Käseglocke”, losgelöst von deutsch-deutschen oder globalen Entwicklungen, wie die Kulturwissenschaftlerin Carola Rudnick im März bei einer Podiumsdiskussion zu dem Thema “DDR neu erzählen!” anmerkte.  

Und das alles in drei Stunden?


Unser Tourguide Sam am Spreeufer.
Unser Tourguide Sam am Spreeufer © Malte Grünkorn

Unseren Guide Sam schüchtern wir direkt ein bisschen ein. Er ist Student, wie wir, lebt ungefähr zwei Jahre in Berlin. Wir werden die nächsten Stunden mit ihm verbringen und ihn einige Wochen später erneut treffen, um mit ihm über die DDR, Tourguiding und was ihn als Brite an deutscher Geschichte fasziniert zu sprechen. Warum gehen drei in Deutschland aufgewachsene Geschichtsstudierende auf eine Tour über deutsche Geschichte? Ob wir ihn nun prüfen und korrigieren werden? Wir beteuern anfangs, nur wenig über DDR-Geschichte zu wissen, was – na klar – geflunkert ist.

Nach einem Abriss der Nachkriegsgeschichte bis in die 50er Jahre mit Blick aufs Brandenburger Tor begeben wir uns zur einst sowjetischen, heute russischen Botschaft. Um seine Ausführungen verständlich zu machen, bricht er komplexe Zusammenhänge herunter, spricht von “East and West” anstelle der Besatzungszonen. Die meisten Besucher*innen, sagt Sam, hätten eine „background info“, nicht unbedingt richtiges Wissen, aber eine Idee oder eine Imagination, ein „inherited knowledge“, dass aber bei den allermeisten Besucher*innen deutlich geringer sei, als das Wissen über den Nationalsozialismus. Während es für jüngere Besucher*innen vor allem ein Entdecken vergangener Geschichte ist, bildet für ältere Menschen aus Mittel- und Osteuropa die Tour einen starken Kontrast zu dem Bild des modernen Idealstaats DDR mit dem sie aufgewachsen sind.

Aus dem baufälligen Gebäude der ehemaligen amerikanischen Botschaft wird durch Sams Erzählung ein Spionagestützpunkt. Von hier aus ist auch der Fernsehturm zu sehen. Auf dem weithin sichtbaren Symbol einer modernen DDR ist im Sonnenschein ein Kreuz auszumachen. It cannot be unseen, laut Sam einer der Lieblings-Fun-Facts von Tourguides. Das Kreuz am Turm stehe auch für die Widersprüchlichkeit der DDR, für Grenzen der Planbarkeit und Herrschaft. In einem Staat, in dem abweichende Gruppen wie beispielsweise die Kirchen gewaltvoll unterdrückt worden sind, wurde das markante Kreuz auf dem Ersatzkirchenturm zur “Rache des Papstes”. Dabei sollte die Kugel eigentlich an den Erfolg des Sputnik-Satelliten erinnern

Die „Rache des Papstes“ auf dem Berliner Fernsehturm © Malte Grünkorn

Wir gehen weiter zur Friedrichsstraße. Am Spreeufer sprechen wir über den Mauerbau, und Fluchtmöglichkeiten in die BRD. Sam erzählt von Günter Litfin, dem ersten Mauertoten, der beim Versuch die Spree zu durchschwimmen von DDR-Grenzbeamten erschossen wurde. Aus der Spree wird eine Todesort. Unser Guide hat eine systematische Vorgehensweise, er beginnt mit umfangreicheren Themen auf der Makroebene, etwa der geopolitischen Lage, die die UdSSR ermutigte den Mauerbau abzusegnen. Nach und nach bricht er es auf die Mikroebene und persönliche Geschichten herunter – der emotionale Zugang als kleinster gemeinsamer Nenner der Verständnis- und Empfindungsebene seiner Zuhörer*innen.

Kurz danach entlässt uns Sam in die Ausstellung im Tränenpalast. Der anschließende Kaffee schmeckt uns viel besser, mit dem Wissen über die ehemals weite Verbreitung von „Erichs Krönung“, dem DDR Ersatzkaffee. Wir steigen in die S-Bahn zum Nordbahnhof. In dessen Untergeschoss sprechen wir über die Geisterbahnhöfe, die durch die Teilung Berlins entstanden. Im Streckennetz und in den Bahnhöfen sieht man noch viele Überreste der DDR, so Sam.

Die von uns angesteuerten Orte haben einen festen Platz in Sams Erzählungen, sie dienen als Aufhänger für Aspekte, die sich zu seiner differenzierten Gesamtdarstellung formen. Sie sind mehr als schmückendes Beiwerk, auf die Architektur der sowjetischen Botschaft etwa gehen wir kaum ein. Unscheinbare Gebäude werden durch Sams Ausführungen zu geschichtsträchtige Orten. An der Friedrichstraße steigen wir nicht mehr nur von der S1 in die U6 sondern haben Bilder von Grenzkontrollen im Kopf. Durch die Veränderung in unserer Nutzung dieses Ortes, nicht Pendler sondern Tourist, verändert sich auch unsere Wahrnehmung des Ortes. Historische Authentizität – Ein Wahrnehmungsmodus?

  • Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer
    Unsere Tourgruppe an der Gedenkstätte Berliner Mauer © Lucas Frings

An der Gedenkstätte Berliner Mauer sprechen wir über den Aufbau der Sperranlage, Fluchttunnel und Mauertote. Hier sehen wir nun das angekündigte „most historically accurate piece of the Berlin Wall“. Die Formulierung passt, schließlich wurde etwa der Wachturm an der Bernauer Straße der Anschaulichkeit halber 2009 aus Brandenburg hierher versetzt. Durch Schlitze in der Mauer kann hier auch auf die Rekonstruktion des Todesstreifen und in die Vergangenheit geschaut werden.

Als wir Sam ein paar Wochen später in der Kneipe W. Prassnik treffen, kommt auch der Aspekt der Authentizität und der Wunsch nach sichtbaren Objekten zur Sprache. Die DDR-Geschichte in Berlin sei eine der unsichtbarsten Geschichten für Tourist*innen. Durch das Fehlen von Gebäuden und Zeichen im öffentlichen Raum, die als Teil der DDR-Geschichte erkannt werden könnten, projizieren sich alle DDR-Themen auf die Mauer und nehmen deren negative Konnotation auf. So sei es kein Wunder, so Sam, dass vorrangig das Bild einer brutalen Diktatur entsteht. Wenn er könnte, sagt er, würde er auch Orte wie den Platz der Republik, die Karl-Marx-Allee aber auch Berlin-Marzahn in seine Tour einbauen. Dort könnte man etwa die Idee von Plattenbauten vermitteln, auch da „communal housing“ in vielen Ländern abschätzig betrachtet werde.

Die Tour endet an der U-Bahn Station Bernauer Straße, mit der Erzählung des folgenreichen Versehens Günter Schabowskis bei der Pressekonferenz vom 09.11.1989, die schlussendlich zur Öffnung der Grenzen führte. Aus einer missverständlichen Lockerung des Reisegesetzes macht die westdeutsche Tagesschau die Schlagzeile “DDR öffnet Grenzen”.

Am Ende ist für uns klar: Sam hat uns keine Horrorgeschichte der DDR erzählt. Vielmehr hat er die Käseglocke angehoben, Wechselwirkungen aufzeigt, und die komplexe Geschichte der DDR im Berliner Stadtbild für uns sichtbar gemacht. Dass wir – anders als online angekündigt – nichts über Regenschirme mit eingebauter Giftspritze als Geheimdienstwaffe erfahren habe, verzeihen wir ihm gerne.


Wir danken Sam W. für die Gespräche und Publikationsgenehmigung.
Alle Bildrechte liegen bei Lucas Frings und Malte Grünkorn


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“…die machen ja auch nur Fußball, ge?” http://was-ist-geblieben.de/die-machen-auch-nur-fussball/ Tue, 05 Feb 2019 07:59:06 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=172 Lothar Kurbjuweit im Gespräch über DDR-Fußball, die Probleme im heutigen Osten und wie es damals wirklich war

Ein Beitrag von Charlie Perris

Im echten amerikanischen Stil des Denkens, dass sich die Welt um uns dreht, beginnt mein Projekt selbstverständlich damit, dass ich über mein eignes Land spreche. Eine Art Erklärung soll das sein. Aber danach geht es weiter mit der DDR und einer Antwort auf die Frage, was von diesem Land geblieben ist. Versprochen.

Schaut man über den großen Teich – und spezifisch in das Land, das sich zwischen Kanada und Mexiko befindet – wäre es dort nicht außergewöhnlich, Fußball als ein Spiel nur für Kinder zu betrachten. Man kickt ja ein wenig in der Grundschule oder vielleicht etwas länger, wenn die Leidenschaft dafür vorhanden sein sollte. Uns interessiert aber vor allem der knochenbrechende American-Football oder der traditionelle, todlangweilige Baseball, nicht diese Sportart, wo die Spieler komische Namen tragen und die Verwendung von Händen unerwünscht ist.

Selbstverständlich bin ich also während meiner Zeit in Deutschland komplett überrumpelt gewesen, mitzuerleben, wie Herz und Seele eines Volkes für den Fußball schlägt. Ein Jahr in Jena, Thüringen zeigte mir eine immer noch leidenschaftliche Fankultur, eine mit Wurzeln, die tief in der Region und in der Geschichte der ehemaligen DDR eingepflanzt sind. Auf die Frage zu antworten, was von der DDR bleibt, musste ich an die Meistersterne auf dem FC Carl-Zeiss-Jena Trikot denken, Meistersterne aus einem Land, das es nicht mehr gibt.

Durch Kontakte aus meiner Jenaer Zeit ist es mir gelungen, ein Interview mit Lothar Kurbjuweit zu bekommen. Kurbjuweit zählt zu den berühmtesten und wichtigsten Fußballspielern der DDR, sogar wenn sein Name heute nicht mehr breit bekannt ist. Als Jena-Spieler war er für den bisher größten Erfolg der Mannschaft mit verantwortlich: der 4-0 Sieg gegen AS Roma und den darauf folgenden Aufstieg ins Finale des Europa-Cup 1980. Als Spieler der Nationalmannschaft ist er nicht nur Olympiasieger 1976 geworden, sondern auch beim legendären Sieg der Nationalelf der DDR gegen die BRD während der WM 1974 dabei gewesen.

Als ich Kurbjuweit im Rathaus-Center Pankow traf, war ich schon eine gute Stunde mit der U-Bahn und Tram dahin unterwegs gewesen. Über den weit weg gelegenen Kreuzberg lächelte Kurbjuweit schlau und gab zu: „Da bin ich nur, wenn mein Navi mich irgendwie dadurch schickt“. Sein ehemaliges Leben als DDR-Bürger und Fußballspieler fand im Osten statt, sein heutiges Leben orientiert sich immer noch um den Osten Berlins herum.

Im Laufe einer guten Stunde tranken wir Kaffee und quatschten über seine Zeit in einem Land, das es nicht mehr gibt, die Freundlichkeit von Fremden sowie die Natur der Feigheit.

Inhaltsverzeichnis:

  1. FC Carl-Zeiss-Jena und die Nationalmannschaft
  2. Das Weitertragen der DDR-Meistersterne
  3. Erfolg und Erinnerung
  4. Das Länderspiel 1974
  5. Die heutige Nationalmannschaft
  6. Grenzen im Kopf
  7. Fußballerische Ostalgie und die Pleite des Ostens
  8. Die Wende und danach
  9. Was bleibt

1. FC Carl-Zeiss-Jena und die Nationalmannschaft

Interessierst du dich immer noch für Fußball, Herr Kurbjuweit?

Ja. Das ist zu hundert Prozent geblieben, auch nach dem Umzug hier nach Berlin. Ich mache nur ein wenig Scouting für den DFB im Nachwuchsbereich und da hast du in Berlin mit Herta und auch Union zwei richtig gute Vereine, die auch – vor allem Hertha – im Nachwuchsbereich eine dominierende Rolle spielen. Jena ist natürlich immer eine Adresse aber ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich seit meinem Umzug, also vor zweieinhalb Jahren, nie wieder in Jena zum Fußball war. Ich sehe mir das ab und an im Fernsehen, aber war nie wieder in Jena zum Fußball.

Du fingst zum Beginn der Saison 1970/71 beim FC Carl-Zeiss-Jena an. Was kannst du mir generell über den Fußball in der ehemaligen DDR erzählen?

Der Fußball war in der DDR ein Gradmesser für Stimmungen. Wie ist das Volk zufrieden – nicht nur mit seiner Mannschaft, sondern auch mit der Politik? Insofern war der Fußball natürlich ein interessantes Medium.

Ich denke mal, dass der Sport in der DDR im Allgemeinen zu einem Politikum geworden ist. Das heißt, dieser Staat, der ja wirtschaftlich große Probleme von Beginn an hatte, hat versucht sich internationale Anerkennung zu verschaffen über den Sport, und das ist ja gut gelungen.

Der Fußball spielte natürlich auch eine Rolle, die war allerdings nicht sehr groß. Es ist natürlich vom Aufwand her, ein ganz anderes Volumen, wenn ich eine Fußballmannschaft nach oben bringen will oder einen einzelnen Sportler. Das ist ein Riesenunterschied und die Medaille zählt genauso viel bei dem Einzelsportler wie bei der Mannschaft.

Und aus deiner Zeit in Jena?

In Jena hat man sehr früh erkannt – [Jenaer und Nationaltrainer Georg] Buschner hat schon in den 60ern viel dafür getan – das, was man sich in der DDR kaum vorstellen konnte, Spieler-Transfers zum Beispiel. Das hat alles Buschner in den 60er gemacht, und ich gehörte 1970 auch mit dazu.

„…die Qualität der Mannschaft, die war da“

Wir hatten eine Mannschaft, die wenigstens zweimal Meister hätte werden müssen. Ich bin fünfmal Vizemeister geworden, das waren immer knappe Entscheidungen. Ich habe aber nie die Meisterschale in der Hand gehabt, bin aber dreimal Pokalsieger geworden. Ich will damit sagen, die Qualität der Mannschaft, die war da.

2. Das Weitertragen der DDR-Meistersterne

Jena ist aber vor deiner Zeit schon dreimal DDR-Meister geworden. Hast du was von der Debatte in den letzten Jahren über das heutige Weitertragen von DDR-Meistersternen mitbekommen? Hast du eine Meinung dazu?

In der DDR war es mit solchen Dingen zu arbeiten, sich in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Nach der Wiedervereinigung kam dieses Thema wieder auf. Möglicherweise beim Aufdrängen der Ostvereine auf die DFB. Das kann ich aber nur vermuten.

„…ich denke mal, dass es eine Goodwill-Aktion des DFB gewesen ist“

Möglicherweise gesagt, wir wollen auch die Meisterschaften der DDR insofern anerkennen, dass sich die Vereine, wenn sie wollen, [Meistersterne tragen dürfen]. Ich denke, das war so eine Art Knäckebrot, „Ihr seid ja auch da gewesen“. Ich werde bei dem Thema dann sehr kritisch, was diese Fußballvereinigung anbelangt. Das ist ein sehr, sehr schwieriges Thema. Also ich denke mal, dass es eigentlich eine Goodwill-Aktion des DFB gewesen ist.

Meinst du, aus deiner Sicht, dass die Sterne eigentlich nicht so wichtig sind?

Wir hatten nicht die ganz großen Erfolge im Fußball. Ich sage, ich halte das für unwichtig. Das ist aus meiner Sicht ein Stück Traditionspflege, hat aber mit der aktuellen Leistung nichts zu tun. Der HSV ist auch mal Meister geworden, und jetzt dribbeln sie in der zweiten Liga herum, und tragen trotzdem die Sterne. Ich bräuchte es nicht, ich lege da überhaupt keinen Wert drauf. Ob da vier Sterne bei Bayern zu sehen sind oder nur einer ist mir völlig wurst

3. Erfolg und Erinnerung

Was bedeuten dir generell deine Erfolge noch? Denkst du immer noch daran?

Natürlich, natürlich. Mein Leben war letztendlich von dieser Fußball-Karriere geprägt. Ich bin mit 19 Jahren nach Jena gekommen, da hat das richtig Klick gemacht. Als junger Spieler lernst du natürlich. Wenn du in so einer Mannschaft mit trainierst, lernst du täglich, wenn du die Augen aufmachst.

„…der Fußball prägt dich, durch und durch“

Das waren natürlich die großen Nummern, die wir hatten. Wir hatten jedes Jahr mit dem FC Carl-Zeiss-Jena Europacupspiele. Wir haben uns eigentlich über zehn Jahre lang jedes Jahr für irgendeinen Wettbewerb qualifiziert. Das hat natürlich auch die Entwicklung geprägt, wenn du dich mit den besten Fußballern Europas misst. Wir haben auch zu der Zeit schon mit vielen Südamerikanern gespielt, in Italien gespielt, in Spanien gespielt, auch in England gespielt.

Das sagenhafte Spiel gegen Roma 1980…

Richtig, die Roma. Und ich denke, wir waren eigentlich nie so weit weg, wir hatten immer die Chance diese namhaften Gegner zu besiegen, zu schlagen. Nein aber der Fußball prägt dich natürlich, durch und durch. Du erinnerst dich unheimlich gern daran. Das ist immer so.

4. Das Länderspiel 1974

Ich würde gerne über das legendäre Länderspiel sprechen, BRD gegen DDR, 1974. Was bleibt für dich im Gedächtnis?

Nun gut, ich sag mal, dieses Spiel war… das wird es nie wieder geben. Es gibt kein Rückspiel im eigentlichen Sinne, das haben wir alles schon durch. Aber vielleicht muss man doch noch eine Minute eher ausholen.

Als wir uns für diese Weltmeisterschaft qualifizierten, war es das allererste Mal, dass sich eine DDR-Mannschaft für eine Fußballweltmeisterschaft qualifizierte und das ausgerechnet in der BRD. Dann kommt die Gruppenauslosung und wir sitzen alle mehr oder weniger gespannt vor den Fernsehgeräten. Dann sagt unser Trainer Buschner: „Hoffentlich kriegen wir die BRD.“ Und wir haben uns alle angeguckt. Für uns war das die Übermacht im Fußball schlechthin.

Wir hatten ja alle West-Fernseher und hatten die Bundesliga geschaut in diesen fantastischen Zusammenschnitten, da es damals noch keine direkte Übertragung von ganzen Spielen gab. Du saßt ja irgendwo und sagtest: „Mensch, was die alles machen, und alles schön bunt!“ Und dann kriegen wir die BRD und Buschner jubelt vor Freude und sagt: „Dann kriegen wir auch die leichteste Gruppe.“ Und der hatte recht, wir hatten also auch Australien und Chile.

Also keine starken Mannschaften?

Die waren nicht so stark. Die waren qualitativ nicht so hoch angeordnet wie die BRD und gegen den Topfavorit zu spielen ist immer eine gute Geschichte.

„Buschner steht auf und fängt an zu singen…“

Wir fuhren im Bus zum Spiel und dort erfuhren wir, dass Chile und Australien unentschieden gespielt haben, also waren wir schon für die Zwischenrunde qualifiziert. Buschner steht auf – ich hatte sowas noch nie erlebt – und fängt an zu singen, vor Freude natürlich, stimmt dort ein Lied an! Wir waren natürlich alle mehr als glücklich und haben gesagt: „Ok das, was wir wollten, die Zwischenrunde zu erreichen, haben wir schon geschafft, egal wie dieses Spiel ausgeht.“ Dann waren wir ja natürlich auch besonders motiviert, jeder für sich.

Gegen den Topfavorit in diesem Land zu spielen. Das Stadion war ja knüppelvoll, in Hamburg waren Fünfzigtausend oder vielleicht ein paar mehr. Das war schon alles für uns eine Herausforderung, für jeden einzelnen, gegen Beckenbauer, gegen Hoeneß, oh Mann (lacht), diese Namen..

Legendär

Das waren schon Legenden. Dann merkst du, die machen ja auch nur Fußball, ge?

Wir haben auch natürlich ein bisschen Glück gehabt. Da trifft der Müller den Pfosten, ja der Ball springt raus, und dann macht Sparwasser das Tor. Normalerweise hätte man, wenn man einigermaßen vernünftig gewesen wäre, sagen müssen, lass unentschieden spielen, oder knapp verlieren, dann kommen wir in eine andere Gruppe in der Zwischenrunde, die vermeintlich leichtere. Aber auf die Idee – sorry – ist überhaupt keiner gekommen. Wir waren so fokussiert auf dieses Spiel und dass wir dieses Spiel gewinnen wollten natürlich oder zumindest wollten wir nicht untergehen. Wir wollten schon auch zeigen, dass wir guten Fußball machen könnten.

„Es musste ja um Erfolg gehen“

Wir haben also den Kopf völlig ausgeschaltet, völlig. Das behaupte ich heute. Völlig ausgeschaltet. Mit ein wenig Vernunft wären wir in die andere Gruppe gegangen und hätten Chancen gehabt, vielleicht uns zu qualifizieren, um Platz drei zu spielen. Ich will damit nur sagen, keiner ist auf die Idee gekommen und hat gesagt, „Hey, gar nicht gewinnen“. Hätte auch keiner offiziell sagen dürfen. Es musste ja um Erfolg gehen.

Es war ja auch politisch, sowas von hoch her gehangen. Wir hätten eigentlich nach diesem Spiel abreisen sollen… (lächelt schlau) Ich übertreibe jetzt ein wenig, ja? (lacht)

5. Die heutige Nationalmannschaft

Im Bezug darauf, wie ist es heute, wenn du die deutsche Nationalmannschaft anschaust? Siehst du eine wesentlich westliche Mannschaft? Ist das irgendwie schwierig für dich?

Ich sag mal so, ich habe jetzt keine Schweißausbrüche, wenn ich die Jungs sehe. Mich interessiert aber schon, wie sie Fußball interpretieren. Ich bin jetzt nicht der große Fan, der da die Fahne raushängt und die Nationalhymne singt, das tue ich nicht. Aber ich bin sehr interessiert an der Leistung dieser Mannschaft und ich nehme auch viele Infos auf. Wie sie heute trainieren, wie sie das taktisch angehen, solche Dinge interessieren mich mehr, also die Details, nicht der Auftritt. Ob da einer die Hymne singt oder nicht ist mir sowas von egal.

Aber ich möchte schon wissen, weil ich immer noch glaube, dass wir in der DDR zu viel trainiert haben, zu intensiv trainiert haben und am eigentlichen Fußball vorbei trainiert haben. Wir haben viel zu viel Athletik gemacht, wir haben viel zu wenig technisch gemacht und viel zu wenig Taktik. Und von dieser Meinung könnte mich auch noch keiner meiner ehemaligen Kollegen abbringen.

Und heute ist das anders bei der Nationalmannschaft?

Ja, sorry. Wenn ich allein die Trainingsumfänge nehme, die sie heute trainieren… da muss ich sagen, dass wir in der Woche das Doppelte trainiert haben. Wir haben uns als DDR-Fußball nicht an den Ländern orientiert, die im Fußball das Weltniveau bestimmt haben, sondern wir haben uns innerhalb der DDR an den Sportarten orientiert, die Weltniveau waren. Ich glaube, wir haben uns eher an der Leichtathletik orientiert oder am Radsport, als an Ajax Amsterdam.

„Wir haben uns als DDR-Fußball nicht an den Ländern orientiert, die im Fußball das Weltniveau bestimmt haben…“

Wir hatten eine medizinische Abteilung, Sportmedizinische, für den gesamten Leistungssport. Wir hatten aber auch ein wissenschaftliches Zentrum in Leipzig. Da frage ich mich wirklich, was die gemacht haben…

Es wurde oft Doping erwähnt…

Darauf würde ich das gar nicht hinlenken. Sondern will sagen, was haben uns diese Leute, diese Wissenschaftler, vorgegeben? An Trainingsmethodik, an Inhalten, an Umfängen, an Intensitäten zu trainieren? Das war doch der Wahnsinn.

6. Grenzen im Kopf

Jenseits dieser wissenschaftlichen Aspekte, welche Rolle hat die Regierung bzw. die sozialistische Einstellung des Landes im Sport gespielt? Gab es eine Verbindung dazwischen, ein guter Spieler zu sein und ein guter Sozialist zu sein?

Natürlich gab es da Verbindungen, das ist ja unstrittig. Und natürlich waren die meisten Nationalspieler Mitglied der Partei.

Warst du?

Ich war auch. Das streitet ja gar keiner ab, dass wir als – wie nannte man das so schön? Wir waren die Diplomaten im Trainingsanzug – so haben die uns durch die Welt geschickt, so haben wir auch die Welt kennengelernt.

„Da sagst du, es geht uns aber gut“

Wir waren sieben oder acht Jahre lang jedes Jahr im Januar mit der Nationalmannschaft in Südamerika. Jetzt kommst du als wohlbehüteter DDR-Bürger, wo jeder eine Wohnung hatte und warmes Wasser. Du kommst an und siehst die Leute, die auf der Straße liegen, mit einer Zeitung eingepackt. Da sagst du, es geht uns aber gut.

Es ist ja immer ein Vergleich…

Ja, das sind die Vergleiche, die uns da immer umtriebig gemacht haben.

Aber gab es damals Spieler, die sich irgendwie heimlich gegen die Partei positionierten oder apolitisch waren?

Also, ich meine, ja. Offiziell gab es aber keine Gespräche darüber. Da war jeder vorsichtig genug. Du kennst ja die Geschichte mit der Staatssicherheit. Ich denke mal, dass wir uns sicherlich gut kannten, aber es gab irgendwo eine Grenze, die du auch gedanklich nicht überschritten hast. Wo du gesagt hast, also bis hierher und dann Schluss, ja?

7. Fußballerische Ostalgie und die Pleite des Ostens

Glaubst du, dass es heute eine Fußball-Ostalgie gibt? Sowas wie eine Fankultur?

Die gibt es sicherlich noch. Ich bin jetzt hier bei Einheit-Pankow und letztes Jahr hatte diese Verein 125-jähriges Bestehen. Das ist eine stolze Nummer, 125 Jahre. Da habe ich ein Traditionsspiel organisiert, habe Leute nach Berlin geholt, die noch einigermaßen laufen konnten. Da spielen alte Männer Fußball, und hier kommen 600 Leute. Ich will damit sagen, es gibt gerade im Raum Berlin tatsächlich noch eine Art Fankultur.

„Die wissen gar nicht, dass es die DDR mal gab“

Wenn ich ja eine Zeit lang bei den alten Herrn mitspielte, da wurde ich angesprochen von Leuten meines Alters, natürlich nicht von den Jüngeren. Die wissen gar nicht, dass es die DDR mal gab.

Was gibt es heute für Unterschiede zwischen Fußball im Osten und im Westen? Es gibt zum Beispiel nur eine einzige Ost-Mannschaft in der ersten Bundesliga.

Wer ist das denn?

RB Leipzig

Naja, aber… (lacht) gut, also darüber müssen wir nicht diskutieren, weil das keine Ost-Mannschaft im eigentlichen Sinne ist.

Ohne wirtschaftlicher Unterstützung, schaffst du es nicht, weil die guten Fußballer, die suchen sich natürlich aus, wo sie spielen. Für wen sie spielen ist weniger wichtig, aber wo sie spielen – wo es ordentlich Geld gibt. Und da wird keiner auf die Idee kommen, im Osten Fußball zu spielen, außer in Leipzig.

Ich sag dir ein Beispiel: Carl Zeiss Jena. Die Firma ist in Jena gegründet. Du hast ja auch das Jenaer Glaswerk. Sie haben ihre Hauptsitze inzwischen im Westen drüben. Carl Zeiss ist in Oberkochen und Jenaer Glas ist in Mainz.

„Nur mit einem Fleischermeister oder mit der Tankstelle wirst du das nicht hinkriegen“

Wie will du das hinkriegen? Nur mit einem Fleischermeister oder mit der Tankstelle wirst du das nicht hinkriegen. Es geht um den Zusammenhang zwischen erfolgreichen Sport und der entsprechenden finanziellen Unterstützung der einheimischen Wirtschaft. Aber wir haben im Osten keine einheimische Wirtschaft mehr.

Und glaubst du, es bleibt weiter so?

Was soll die Sachen ändern? Zeiss wird nicht zurückkehren nach Jena.

Ich meine, in Leipzig oder Dresden geht es doch ein bisschen besser…

Da geht es ein bisschen besser. Die Dresdener leben im Wesentlichen von ihrer riesengroßen Fangemeinde und die Leipziger, also Red Bull, mit diesem Super-Sponsor da aus Salzburg, das ist natürlich eine ganz andere Kategorie. Wenn du über den Leipziger Fußball sprichst, dann musst du eigentlich über Lok-Leipzig und über Chemie sprechen, aber nicht über Red Bull. Red Bull ist wie so ein Kunstrasen.

Den Begriff „Plastik-Wurzel“ verwendet man zum Beispiel…

Richtig, also erledigt. Der DDR Fußball ist erledigt. Vielleicht gibt es doch den einen oder anderen Verein, der noch in der Nachwuchsausbildung mitwirkten. Ich weiß aber nicht, wann der letzte DDR-Spieler, der hier ausgebildet wurde, in die Bundesliga gerutscht ist. Da fallen mir nicht mehr so viele ein, also ich könnte da nochmal nachdenken und hier vielleicht drei, vier Namen nennen, aber dann ist die Sache erledigt.

8. Die Wende und danach

Wie hast du die Wende erlebt?

Pass auf, ich sage dir was. Ich war fünf Jahre Trainer in Jena, von 84 bis 89 und wurde im Oktober 89 als Trainer entlassen – Oktober 1989.

Danach wurde ich einberufen zur Armee. Mit 39 sollte ich eingezogen werden. Ich musste dann zur Tauglichkeitsuntersuchung, zu einem Militärarzt, nach Gotha. Ich komm dorthin, und da sagt er mir, der Arzt – ich hatte nicht das Gefühl, dass ich krank oder irgendwas bin – sagte er mir, „Ihnen will man aber nichts Gutes, mit 39 jetzt noch Grundwehrdienst“. Ich sage ja, was soll ich machen. Ohne den Arzt vorher gesehen zu haben – und danach sah ich ihn auch nie wieder – hat er mich wehruntauglich geschrieben. Er hatte irgendwas an meinem Rücken entdeckt.

War er vielleicht Fan von dir?

Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung. Ich weiß jetzt nicht mal mehr seinen Namen.

Ich war jetzt ohne Job. Ich wurde aber vom DDSB weiter bezahlt, und lag zu Hause rum. Ich habe mir diese ganze Geschichte – im Nachhinein muss man schmunzeln darüber – am Fernseher angeschaut. Und dann ging die Mauer auf im November, wir wissen das. Dann hatte ich im Dezember, also vier Wochen später, hat mich Rot-Weiß-Erfurt angesprochen, ob ich nicht im Nachwuchs-Bereich helfen würde, und da hab ich gesagt, ja mache ich. Ich musste irgendwas tun, also zu Hause in dem Alter riskierst du eine Krise, weißt du?

Also das Training ging einfach weiter?

Ja, da bin ich dann nach Erfurt gegangen, und ich war kaum in Erfurt angekommen, bevor mir man angetragen hat, doch die erste Mannschaft zu trainieren, weil die stark abstiegsbedroht waren. Da habe ich natürlich gesagt, „Ja mach ich“. Ein Jahr darauf sind wir in die zweite Bundesliga aufgestiegen. Das war, sportlich gesehen, meine erfolgreichste Zeit.

„…ich war zurückhaltend, ich habe mich nicht auf die Straße gewagt“

So habe ich die Wende erlebt, also wir waren alle, wir lagen alle vor irgendwelchen Fernsehgeräten und haben mit viel Spannung geguckt was da passiert. Ich sage auch, ob man das Feigheit nennen kann – was gibt’s noch für Ausdrücke, optimistische Ausdrücke – sagt man mal, ich war zurückhaltend, ich habe mich nicht auf die Straße gewagt. Ich weiß auch, dass es in Jena zu der Zeit viele Demonstrationen gab, Proteste auf dem zentralen Markt gab. Da war ich nie dabei. Da habe ich mich zu Hause hingesetzt. Ja. War ich Feig, oder? (lacht)

Das würde ich nicht genau sagen…

(lacht weiter) Vielleicht, ich weiß es nicht! Ich kann es auch nicht sagen. Vielleicht war ich der Feigling da. Ich habe auch keinen aus meinem Bekanntenkreis gehört oder gesehen, dass irgendjemand sich an diesen Dingen beteiligt hatte.

Ja, so habe ich die Zeit erlebt. So richtig traurig war ja keiner darüber, wie es dann gelaufen ist. Weil, wir wussten auch alle noch nicht, was uns danach ereilt, also Fußballtrainern der DDR.

„So richtig traurig war ja keiner darüber“

Die Spieler, die richtig guten Spieler, die waren ja sehr schnell irgendwo im Western untergekommen. Ich kann mich daran erinnern, im November 90 war noch ein Länderspiel in Österreich. Da hat schon kaum noch jemand mitgespielt, die Spieler waren sehr begehrt im Westen, aber die Trainer nicht. Die Trainer nicht, warum auch immer. Es gibt natürlich die eine oder andere Vermutung, warum es so gewesen ist. Ja, möglicherweise hat man entweder die Trainer-Ausbildung nicht so recht geglaubt, oder…

Ich tue mich schwer, da die wahren Gründe zu finden. Also, auch ich lebte in der Vorstellung, dass, weil die Abstiegs-Mannschaft Rot-Weiß-Erfurt innerhalb von anderthalb Jahren dritte in der Meisterschaft geworden ist, da würde doch mal jemand anrufen aus dem Westen. Nö. Hat keiner angerufen.

Ich sag mal, viele, viele Kollegen machen das an einem Namen fest: Joachim Streich, Torschützenkönig, Meister-Länderspieler, wie auch immer. Joachim Streich war der erste Ost-Trainer, der ein Angebot aus dem Westen bekam, und zwar für Eintracht Braunschweig. Dort ist er nach einem halben Jahr gescheitert und viele sagen, wäre Hans Mayer zum Beispiel, derjenige gewesen, der als erste dort eine Chance bekommen hätte, dann wäre das ganz anders ausgegangen.

Aber gut. Das sind jetzt alles Spekulationen. Wir hatten alle Hochschulabschluss, und trotzdem wollten sie uns einfach nicht.

9. Was bleibt

Deiner Meinung nach, was ist von DDR geblieben?

Dass ich aufgewachsen bin, in relativer Sicherheit. Ich musste nie hungern und nie dursten. Das war sicherlich ein Verdienst meiner Eltern und der Gesellschaft.

Und das bleibt bei dir?

Das bleibt bei mir haften. Es war jetzt mal kein Land, was ich jetzt im Nachhinein so völlig in die Erde treten würde, es gab auch gute Dinge. Es gab auch gute Dinge.

(Foto: Charlie Perris)


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Wir bleiben alle! http://was-ist-geblieben.de/wir-bleiben-alle/ Tue, 05 Feb 2019 07:55:49 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=102 Ein Beitrag von Julia Meier

Der Slogan Wir bleiben alle lässt sich kaum noch trennen von Kämpfen um Wohnraum und bedrohte Kollektive in Berlin. Fast vergessen ist, dass es sich dabei um ein Relikt aus der DDR handelt. WBA war die Abkürzung für den Wohnbezirksausschuss, der Arbeitseinsätze im Kiez organisierte oder bei Problemen mit der Wohnungsverwaltung (KWV) unterstützte. Nach der Wende wurde das Kürzel kurzerhand als Slogan Wir bleiben alle für Verdrängungs-Proteste in Ost-Berlin und später in der gesamten Republik verwendet.

Wir bleiben alle stand auch auf den weißen Bettlaken, die ich Anfang November in der Karl-Marx-Allee aus einem Fenster hängen sah. Ich wunderte mich, dass diese Gebäude, die sich wie Denkmäler in mein Stadtbild eingebrannt hatten, von Verdrängungsprozessen betroffen sein konnten.

Ein paar Wochen später sitze ich im Café Sybille, welches zu DDR-Zeiten als Milchtrinkhalle bekannt und beliebt war. Auf dem Podest am Ende des Raums diskutieren eine Anwältin aus dem Mieterbeirat der Karl-Marx-Allee, die ehemalige Baustadträtin für Mitte und ein LINKE-Abgeordneter für Friedrichshain-Kreuzberg. Der Raum ist gefüllt mit vielen wütenden Menschen. Es sind die Mieter*innen der Karl-Marx-Allee, die soeben erfahren haben, dass vor drei Jahren hinter ihrem Rücken 700 Wohnungen der Straße an das börsennotierte Unternehmen Deutsche Wohnen verkauft wurden.

Bundesarchiv, Bild 183-16144-0006 / Krueger / CC-BY-SA 3.0
Aufbauzeit 1952
Quelle: Wikimedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

Den ganzen Abend wird lautstark diskutiert. Es fallen Begriffe wie „Mietpreisbremse“ oder „Enteignung“ und es wird von einer unverschämten „Restitution vor Entschädigung“ gesprochen sowie von den Erfahrungen der „Aufbauschichten in Trümmern“. Die Karl-Marx-Allee heißt an diesem Abend „Magistrale“, „Stalinallee“, „sozialistische Prachtstraße“ oder „Kommerzallee“. Nach der Veranstaltung laufe ich die Straße entlang und frage mich, was von all den Mythen und Legenden um diese Straße geblieben ist und wer hier wohl wohnt(e)?

Am gleichen Abend lerne ich Dr. Gisela Bessler kennen, eine Anwohnerin, die mir ihre Antworten auf einige meiner Fragen in einem Interview gibt. Nach dem Aufbau bewohnten tatsächlich viele Arbeiter*innen die Straße, manche von ihnen schlugen eine akademische Laufbahn ein und später wohnten in der Karl-Marx-Allee viele staatstragende Menschen. Stimmen aus der Zeit berichten von Hausgemeinschaften mit nachbarschaftlichen Netzwerken. In einer Zeit zunehmender Individualisierung begebe ich mich auf Spurensuche nach solchen solidarischen Nachbarschaften.

Stalin Denkmal
Quelle: Wikimedia, Lizenz:
CC BY-SA 3.0 DE

Nach dem Krieg war die Hälfte aller Häuser Berlins zerstört. In mühsamen Arbeitseinsätzen schufen die Bürger*innen der DDR die Gebäude der einstigen Stalinallee. „Arbeiterpaläste“ wurden sie genannt und spiegelten in ihrer Architektur das sowjetische Vorbild wider. Die Karl-Marx-Allee war eine Verheißung auf eine neue Gesellschaft. Unter dem Motto „Neu bauen ist besser als sanieren“ wollte die Regierung die Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 lösen. Ein einheitlicher Mietpreis, identische Wohnungsausstattungen und eine soziale Mischung in den Neubaugebieten sollten dazu beitragen. Die Utopie versprach luxuriöses Wohnen für Arbeiter*innen: Zentralheizung, fließendes Wasser und Kinderläden um die Ecke.

Was heute noch von früheren Hausgemeinschaften oder solidarischen Netzwerken in der Karl-Marx-Allee geblieben ist, ist schwer zu sagen. Noch schwerer ist es zu beantworten, ob diese in der sozialistischen DDR stärker verbreitet waren. Fakt ist, dass die protestierenden Mieter*innen in der Karl-Marx-Allee innerhalb kürzester Zeit einen ersten Erfolg erzielten. Die geforderte Rekommunalisierung der Straße schien Anfang Januar möglich. Heute, zwei Monate später, werden die Karten neu gemischt. Wie es um die Zukunft der Straße steht, bleibt ungewiss. Welche Bedeutung das (Zusammen)-Wohnen für ihre Bewohner*innen zu DDR-Zeiten hatte, erzählen einige von ihnen hier…

Dr. Gisela Bessler erzählt (wohnt seit 1963 in Block C-Süd)
Uni oder Produktion?


Zwischen Hausgemeinschaft und Studientag

Hausgemeinschaft vor…

…und nach der Wende

Restitution vor Entschädigung

Erstbewohnerinnen erzählen
Waldtraut Lenz (zog 1953 in den Block F-Süd)
„Wenn ich jetzt durch die Straße gehe, fühle ich, dass es nicht mehr mein Kiez ist – das Heimatgefühl fehlt. Es ist schwer zu beschreiben, warum es jetzt anders ist, es ist einfach ein Gefühl. Damals waren hier immer viele Leute unterwegs. Wenn man jetzt aus dem Fenster guckt, ist nichts los auf der Straße.“1
Sabine Stanislawski (wohnte von 1953-1976 in Block E-Süd)
„Damals wusste ich nicht, dass andere zu der Straße kritisch standen. ‚Na, fallen bei euch die Kacheln von den Wänden‘, waren Sprüche, die man hörte. Wir, die hier wohnten, reflektierten nicht, sondern nahmen das lustig. Als 18jährige traf ich im Oktoberclub – das war ein offener Jugendclub von der FDJ – öfter Westdeutsche von der DKP. Sie meinten, unsere Straße sei wunderschön und so eine Allee gäbe es in keinem anderen Land. In den kapitalistischen Ländern würden sie so eng wie möglich bauen, damit aus jedem Quadratmeter was rauszuholen war. So großzügig zu bauen wie in der Stalinallee, das war später leider auch in der DDR nicht zu verwirklichen. Irgendwann war der neue Baustil auch für uns das Schönere. Hier war das Historische, die Plattenbauten waren das Moderne. Wir konnten das nicht begreifen, dass die Platten im Westen so negativ gesehen wurden.“2
Edith Gläser (zog 1954 in den Block C-Nord)
„Ich war kein Genosse und deswegen hatte ich es nicht immer leicht. Mein Mann dagegen war ein großer Genosse. Er meinte, ich bin nicht wert, in der Stalinallee zu wohnen. Viele denken, dass hier nur Bonzen wohnten. Das kommt darauf an, was man unter Bonzen versteht. Die Hohen in der Partei hatten Wandlitz. Hier in der Stalinallee haben wirklich Arbeiter gewohnt. Viele waren in der Partei, aber nicht alle. Wer nicht in der Partei war, wurde ein bisschen geächtet. Verschiedene Leute, die Carepakete bekamen, mussten aus der Wohnung heraus. Daran kann ich mich erinnern. Bei Mieterversammlungen wurde auch manch einer gerügt. Zum Beispiel, wenn er nicht die richtige Zeitung gehalten hat.“3
Charitas Urbanski (zog 1953 in den Block C-Süd)
„In unserem Haus standen nie Wohnungen leer. Es war immer bewohnt, und die meisten wurden hier alt, so wie ich. Viele sind jetzt gestorben, und so langsam ziehen jüngere Leute ein. Zu denen habe ich wenig Kontakt, obwohl sie sehr nett sind und mich im Treppenhaus mit Namen begrüßen. Früher trafen wir uns Silvester immer mit einem Glas Sekt auf dem Flur. Das ist heute nicht mehr so. Bei den Paraden hingen wir Nachbarn in den Fenstern und haben zugeguckt. An dem Tag im Jahre 1961, als das Stalindenkmal verschwand, hörte ich von Leuten auf der Straße, dass sie ihn umhauen. Erst trauten wir uns nicht, das anzuschauen, weil die Polizei da war. Dann sind wir aus dem Haus zusammen auf den Dachgarten hoch und haben von dort zugesehen. Sie legten ihm eine Schnur um den Hals und schmissen ihn um. Da lag er erst mal. Ich dachte nur, jetzt ist eine Ära vorbei. Seitdem heißt unsere Straße Karl-Marx-Allee.“4

Protest gegen Deutsche Wohnen
Fotograf und Rechteinhaber: Christian Mang
(Verwendung wurde vom Rechteinhaber genehmigt)

Einzelnachweise:

  • 1. Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003, S.87.
  • 2. ebd. S. 67.
  • 3. ebd. S. 48.
  • 4. ebd. 36.

Bildnachweise:

Beitragsbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Berlin_karlmarxallee_kl.jpg
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.en

Literatur:

  • Jörg Haspel, Karl-Marx-Allee und Interbau 1957. Konfrontation, Konkurrenz und Koevolution der Moderne in Berlin (Beiträge zur Denkmalpflege in Berlin), Berlin 2018.
  • Herbert Nicolaus, Alexander Obeth, Die Stalinallee. Geschichte einer Deutschen Straße. Verlag für Bauwesen, Berlin 1997.
  • Nico Grunze, Ostdeutsche Großwohnsiedlungen. Springer VS, Berlin 2016.
  • Norbert Podewin, Stalinallee und Hansaviertel: Berliner Baugeschehen im Kalten Krieg. Verlag am Park / Edition Ost, Berlin 2014.
  • Philipp Mattern (Hg.), Mieterkämpfe. Vom Kaiserreich bis heute – Das Beispiel Berlin. Bertz + Fischer GbR, Berlin 2018.
  • Ylva Queisser, Lidia Tirri, Leben hinter der Zuckerbäckerfassade. Erstbewohner der Karl-Marx-Allee erzählen, Berlin 2003.

Ausstellungen:

  • Tränen – Trümmer – Träume, Dauerausstellung im Café Sybille

Dokumentationen:

  • DFF Dokumentation „Stalin-Allee – Doku über den DDR- Städtebau in Berlin“ aus der DFF-Reihe „Das Fenster“ (1991).
  • RBB Dokumentation Berlin Karl-Marx-Allee aus der Heimatjournal-Reihe (2015).

Weiterführende Links:

  • http://www.taz.de/!55 74102/
  • https://www.jungewelt.de/artikel/346146.kapitalismus-fast-wie-verrat.html
  • https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109778.rekommunalisierung-rot-rot-gruen-will-deutsche-wohnen-rekommunalisieren.html
  • https://www.neues-deutschland.de/artikel/1109498.deutsche-wohnen-enteignen-enteignung-ist-mehrheitsfaehig.html
  • https://www.zeit.de/kultur/karl-marx-allee/index.html#prolog
  • ]]> #checkpointcharlie #berlinwall http://was-ist-geblieben.de/checkpointcharlie/ Tue, 05 Feb 2019 07:55:14 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=100 Ein Beitrag von Karolína Bukovská und Jan Alexander Casper

    Was wirklich bleibt

    ist eine boomende Erinnerungsindustrie. Am Checkpoint Charlie wird deutlich, dass eine Systemgrenze nicht mehr existiert. 30 Jahre nach dem Mauerfall posiert man hier mit Sowjetmütze fürs Familienfoto. Die Geschichte der DDR wird anhand kommerzieller Produkte erzählt, Tourist*innen machen Fotos am ehemaligen Wachhäuschen und die Mauer selbst wird, künstlerisch überformt, Stück für Stück verkauft. Ist das poetische Gerechtigkeit? von Karolína Bukovská und Jan Alexander Casper

    #checkpointcharlie: Erinnern und Verkaufen

    Für ein Fotoprojekt habe ich mehr Zeit am Checkpoint Charlie verbracht, als mir lieb ist. Hier wird ein historischer Ort zur Einkaufsstraße und Fotokulisse. Eine unvollständige Phänomenologie der Berliner Erinnerungsindustrie von Karolína Bukovská

    Checkpoint Charlie: Ein Muss für alle ...

    … die die deutsche Hauptstadt besuchen. Der Ort, an dem sich amerikanische und sowjetische Panzer gegenüberstanden, ist bis heute Symbol des Kalten Krieges und der deutsch-deutschen Teilung. Nur wenige der Millionen Berlin-Besucher*innen lassen sich das entgehen. Jeden Tag strömen Tourist*innen an diesen Ort, der heute Mitte und Kreuzberg trennt, um sich die ehemalige Systemgrenze anzuschauen.

    Doch was ist von der berühmtesten Grenze zwischen zwei Welten tatsächlich geblieben? Was verspricht man sich vom Besuch eines ehemaligen Grenzüberganges, der nach der Wende zuerst feierlich abgebaut wurde, nur um ihn später durch eine Rekonstruktion zu ersetzen? Was will man hier heute sehen und erleben? Die Anziehungskraft dieses historischen Ortes, der eher an eine Attraktion in einem Freizeitpark erinnert, als an einen Schauplatz der Weltgeschichte, kann ich nur schwer nachvollziehen. Umso mehr interessiert mich, was sich an der Straßenkreuzung zwischen Friedrichstraße und Zimmerstraße im Wirrwarr des touristischen Betriebs Tag für Tag abspielt. Ich setze mich im McDonald’s auf den Stuhl am Fenster. Zeit für ein Lagebild vom Checkpoint Charlie 2019.

    Tassen mit Kennedy-Motiv und echte Mauerstücke

    Auf der anderen Straßenseite befindet sich der sogenannte „Mauershop“. Den verlassen gerade vier ältere Frauen mit Kopfhörern und orangefarbenen Audio-Guides. Eine von ihnen trägt eine weiße Plastiktüte in der Hand. Die Tasche ist bis zum Rand gefüllt. Das Angebot des Mauershops ist groß.

    Hinter den Schaufenstern sieht man Souvenirs mit Motiven von der Berliner Mauer und des ehemaligen Grenzübergangs. Das breite Sortiment erschöpft sich nicht in üblichen Ansichtskarten und Kühlschrankmagneten. Die Aufschrift des berühmten Zonen-Schildes, das damals Passant*innen über das Verlassen der amerikanischen Zone informierte, findet man auf allen möglichen und unmöglichen Alltagsgegenständen: auf Tassen, Tellern, Küchenbrettern, Bierkrügen, Flachmännern, Baseballmützen, Sweatshirts, Schlüsselanhängern, Stiften, Öffnern, Feuerzeugen und vielem mehr. Ähnliches bietet man in der „Ich bin ein Berliner“-Variante mit dem berühmten Kennedy-Zitat. Im Mauershop kann man außerdem die materiellen Überreste der 28-jährigen deutschen Teilung käuflich erwerben – kleine bunt bemalte Stücke der Berliner Mauer, die direkt im Laden in einer Werkstatt von Künstler*innen neu gestaltet werden.

    Fake-Soldaten posieren vor einem Fake-Wachhäuschen

    Die Damen halten kurz an, bevor sie die Straße überqueren. Im zehnminütigen Rhythmus fahren bunte Doppeldeckerbusse vor, die Stadtrundfahrten in mehreren Sprachen anbieten. Zum Schritttempo zwingt alle Fahrzeuge die schmale Insel in der Mitte der Straße, auf der sich der eigentliche „Checkpoint“ befindet.

    Vor dem weißgestrichenen Holzhäuschen, einer Replik der ganz alten Kontrollbarracke, stehen zwei Männer in grünen Uniformen. Den amerikanischen Look verleihen ihnen ihre Ray-Bans, dazu halten beide „Soldaten“ jeweils eine Flagge der Vereinigten Staaten in den Händen. Sowjetische Soldat*innen findet man in dieser nachgebildeten historischen Szene allerdings nicht. Vom besiegten Erzfeind der USA sind lediglich Schirmmützen geblieben, die zwischen den beiden Soldaten auf Sandsäcken aufgereiht sind.

    Einer der Soldaten trinkt Kaffee aus einem großen Pappbecher. Es ist ziemlich kalt an diesem Februarvormittag und am Checkpoint Charlie herrscht noch eine ungewöhnliche Ruhe, die Tourist*innen nähern sich aber bereits. Es ist eine Schulklasse. Die Jugendlichen halten alle fast gleichzeitig vor dem ikonischen Schild You are leaving the American Sector an – und holen sofort ihre Handys raus. Sie schießen alle das gleiche Foto von der Schild-Replik; das Original befindet sich im nahegelegenen Mauer-Museum. In dem Moment legt der Soldat den Becher auf die Sandsäcke hinter ihm ab. Sein Arbeitstag beginnt.

    Das Familienfoto mit den falschen US-Soldaten kostet drei Euro

    Der Schauspiel-Soldat kommt mit der US-Flagge auf die Gruppe der Jugendlichen zu und gestikuliert mit der Hand: Sie sollen näher kommen. Die Jugendlichen folgen neugierig seiner Anweisung und überqueren die Straße. Nach Absprache mit ihrer Betreuerin versammelt sich die ganze Gruppe um die beiden Soldaten. Leider gibt es nicht genug Mützen für alle. Mit ausgestreckten Armen greifen die Schüler*innen nach der Kopfbedeckung, die mit einem roten Streifen sowie Hammer und Sichel geschmückt ist.

    Inzwischen kommen weitere Tourist*innen dazu. Egal ob als Paar oder einzeln, es wirkt, als hätten sie Angst, sich den Schauspiel-Soldaten zu nähern. Als würden sie ahnen, dass die Ablichtung der Männer in amerikanischen Uniformen nicht kostenlos ist. Mit sicherem Abstand stellen sie sich vor die Kontrollbaracke, so dass man die Aufschrift US Army Checkpoint und die beiden uniformierten Männer gut sehen kann, und machen schnell und möglichst unauffällig ein Foto davon.

    Unter den Besucher*innen von Checkpoint Charlie sind aber auch mutigere Personen, die direkt zur Wache schreiten, um sie um ein gemeinsames Foto zu bitten. Vor jeder Aufnahme muss allerdings verhandelt werden. Dabei zeigt der Soldat auf das kleine schwarze Schild, das an seinem Gürtel hängt. Eine Fotographie kostet drei Euro. Einige zeigen sich immer bereit, in diese einzigartige Foto-Erinnerung aus dem Urlaub in Berlin zu investieren.

    #checkpointcharlie markiert Bilder von Brandenburger Tor, Fernsehturm, Holocaust-Mahnmal und Curry-Wurst

    Danach kommt es zum Ritual, das sich an der Straßenkreuzung zwischen Mitte und Kreuzberg Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag schon seit einigen Jahren wiederholt. Für die einzelnen Tourist*innen ein außergewöhnliches Erlebnis, für die Schauspiel-Soldaten eine alltägliche Routine. Die Kund*innen bekommen von den Soldaten sowjetische Schirmmützen auf den Kopf aufgesetzt, aufgeregte Tourist*innen stellen sich zwischen die beiden Soldaten, Stars and Stripes bilden den Rahmen. Das erste Foto – alle salutieren. Manchmal ruft einer der Soldaten ein lautes Salut! dazu. Das zweite Foto – Daumen nach oben und ein american smile. Und zur Sicherheit noch ein drittes Foto – Arme werden auf die Schulter gelegt. Damit ist der ganze Prozess zu Ende. Mütze ablegen, die Aufnahmen kontrollieren und schnell weg. Vor dem Checkpoint bildet sich schon eine lange Schlange.

    Einige von diesen Fotos werden später auf Instagram geteilt und mit dem Namen des berühmtesten Grenzüberganges markiert. Das Hashtag #checkpointcharlie erhalten allerdings nicht nur Fotos aus der Straßenkreuzung, sondern alle möglichen Bilder aus der Hauptstadt – mit #checkpointcharlie markieren die Users Fotos vom Brandenburger Tor, Fernsehturm, Holocaust-Mahnmal oder Curry-Wurst. Die Marke Checkpoint Charlie und Berlin gehören untrennbar zusammen.

    Was bleibt ist der falsche DDR-Stempel im Pass

    Nach zwei Stunden verlasse ich meinen Beobachtungsposten. Eine Rikscha mit rotem Dach mit Tigermuster dreht gerade eine Runde um das Kontrollhäuschen. Mit ausgestrecktem Arm versucht der Fahrer, einem älteren Paar die Panzerkonfrontation glaubhaft darzustellen und gleichzeitig das Gleichgewicht zu halten. Am kleinen Tisch vor dem Mauershop sitzt ein weiterer Schauspiel-Soldat. Mit Kaffee und Handy in der Hand wartet er vermutlich auf die nächste „Wachablösung“. Inzwischen bekommen zwei junge Frauen von seinem Kollegen einen DDR-Stempel in ihre Pässe. You are leaving the American Sector informiert mich das nachgebaute Schild, vor dem sich schon wieder ein Stau gebildet hat. Ich verlasse den touristischen Sektor rund um den Checkpoint Charlie und verlasse dabei auch eine Erinnerungsindustrie hinter mir, die sich in bunt bemalten Mauerstücken und Selfies mit #checkpointcharlie widerspiegelt. Das ist übrig geblieben von der ehemaligen Systemgrenze.

    Woher kommt der Mauerstein?

    „Mauerklopferin“ Jana Hewlett mitten im Gestaltungsprozess (Privat mit freundlicher Genehmigung von Jana Hewlett)

    Der Mauershop am Checkpoint Charlie gehört zu den größten Anbietern künstlerisch überformter Mauersteine. Nach dem Ankauf landen die L-Elemente, die etwa auf Ebay gehandelt werden, im hauseigenen Workshop tief in Pankow. Dort gestalten Berliner Künstler*innen die Elemente vor ihrer Zerlegung neu. Mauershop-Chef L. Meder gibt Einblicke in den Gestaltungsprozess und Künstlerin Jana Hewlett spricht darüber, was diese Neugestaltung historischer Überreste für sie bedeutet von Jan Casper

    Mauerstücke können in vielfachen Formen erworben werden © Bavaroi GmbH

    „Die künstlerische Arbeit gibt diesen Steinen der deutsch-deutschen Geschichte eine Botschaft auf. Das ist eine freudige und freiheitsliebende Message, die wir durch die künstlerische Bearbeitung herstellen.“

    L. Meder

    Mauershop-Chef L. Meder im Interview über Mauerteile auf Ebay und Echtheits-Kontrollen im Mauer-Geschäft

    Wer hat damit angefangen, Mauersteine zu verkaufen?

    Die ersten Mauersteine sind kurz nach dem Mauerfall 1990 verkauft worden, auf den Berliner Flohmärkten. Die Berliner und Berlin-Besucher haben direkt nach dem Mauerfall im November ‘89, als sogenannte Mauerspechte, angefangen, mit Hammer und Meißel Teile aus der Berliner Mauer herauszuschlagen. Diese Teile haben sie dann als Andenken an Berlin beziehungsweise an die deutsch-deutsche Teilung mit nach Hause zu nehmen.

    Daraus hat sich dann sehr schnell ein Geschäftsmodell für kleine Händler ergeben, die dann selbst mit Hammer und Meißel beziehungsweise Presslufthämmern kleine Teile der Mauer hinausgestemmt und danach vornehmlich auf Berliner Flohmärkten zum Kauf angeboten haben.

    Woher kommen die Mauer-Reste?

    Es gibt einen sehr großen Berliner Händler, der Großteile der Berliner Läden damit versorgt. Außerdem gibt es einschlägige Webseiten, wenn man „Berliner Mauerstück“ googelt. Es sind noch mehrere Hundert komplett intakte L-Elemente vorhanden. Das kann ich mit Gewissheit sagen. Das können wir dem Kunden auch in unseren intern gezeigten Videoaufnahmen belegen. Es sind wirklich noch sehr große Sammlungen Berliner Mauer vorhanden.

    Mauer-Elemente kann man auch auf Ebay kaufen. Woher weiß man, dass die echt sind?

    Die Mauer-Elemente, die wir zukaufen, haben alle eine sogenannte Historie. Man erkennt einem Mauer-Element mit einem gewissen fachlichen Blick an, dass es „Berliner Mauer“ ist. Die haben größtenteils sehr schlüssige Historien, das heißt, es gibt Originalaufnahmen oder Fotoaufnahmen von Elementen und den Orten, wo sie mal standen.

    Die letzten Farbreste, die eben immer noch auf der Mauer sind, sind zuweilen immer noch in einer sehr starken Verblassung sichtbar. Die Bemalung, die vor 1990 stattfand, ist von der Berliner Mauer natürlich nach 30 Jahren, in der Regel im Freien lagernd, so gut wie verschwunden. Auf Fotos kann man dennoch Elemente wiedererkennen.

    Gibt es objektive Echtheits-Kriterien?

    Ja. Da ist zum einen die Beton-Struktur. Die Elemente kommen alle aus den gleichen Betonwerken, und es gibt ja auch die regelmäßig stattfindenden Überprüfungen der Berliner Presse, die sich dieses Themas fast jährlich annimmt. In diesem Zusammenhang werden häufig Proben in die geologischen Institute getragen, wo ganz klar festgestellt werden kann, dass es sich um originale Berliner Mauer handelt.

    Was man aber auch sagen muss: Von vielen Straßenhändlern wird einfach irgendeine Betonmischung, die sie selber anrühren, angeboten. Das ist beides auf dem Markt. Definitiv. Es wird echte und falsche Mauer angeboten.

    Nach dem Erwerb überarbeiten Künstler*innen die Mauer-Überreste. Warum bleiben die Steine nicht im Original-Zustand?

    Ganz wichtig ist uns, dass wir klar kommunizieren, dass wir Berliner Mauer künstlerisch überarbeiten. Dass es also kein Mauerstück mehr gibt, dass leuchtende Farben hat, denn nach 30 Jahren ist die Farbe, wie schon erwähnt, einfach abgewaschen. Der Beton hat eine Pore, die die Farbe nicht besonders lange hält.

    Wir sagen, ganz klar: Die künstlerische Arbeit gibt diesen Steinen der deutsch-deutschen Geschichte eine Botschaft auf. Das ist eine freudige und freiheitsliebende Message, die wir durch die künstlerische Bearbeitung herstellen.

    Eigendarstellung: So werden aus Mauerteilen Mauersteine

    YouTube Video

    Hier steht die Mauer heute, wenn auch in Einzelteilen: Mauershop und Mauermuseum am Checkpoint Charlie
    (Privat mit freundlicher Genehmigung der Bavaroi GmbH)

    Drei Andenken, eine Geschichte

    Die Produkte des Mauershops werden von Tourist*innen aus der ganzen Welt in alle möglichen Ecken des Globus getragen. Diese Andenken erzählen die Geschichte der Teilung, der Mauer und der DDR, wenn auch auch oft unerkannt, unbewusst und natürlich nicht im bewussten Sinnzusammenhang. Eine Zusammenschau drei der beliebtesten Andenken:

    Nachdem der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow 1958 den Abzug der westlichen Siegermächte aus Berlin fordert, entspinnt sich die Zweite Berlin-Krise.

    Weiterlesen: Berlin-Krise und Mauerbau

    Immer mehr DDR-Bürger*innen wollen dem System entfliehen, während der potenziell atomare Konflikt sich zuspitzt.

    In Reaktion auf diese Zuspitzung beschließt die SED-Führung den Bau einer Mauer. Diese Mauer teilt Berlin von 1961 bis 1989. An der Berliner Mauer starben 183 Menschen beim Fluchtversuch oder in Assoziation damit durch DDR-Grenzsoldaten.

    Im Mauershop wird die Mauer nun Stück für Stück künstlerisch überformt verkauft.

    1963, auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise, spricht Präsident Kennedy Berlin, festgehalten auf einer Tasse.

    Weiterlesen: Kennedy-Rede
    Eine Auszug aus seiner berühmten Rede: „[…] Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte, der: „Ich bin ein Bürger Roms!“ Heute ist der stolzeste Satz, den jemand in der freien Welt sagen kann: „Ich bin ein Berliner!“

    Wenn es in der Welt Menschen geben sollte, die nicht wissen, worum es heute in der Auseinandersetzung zwischen der freien Welt und dem Kommunismus geht, dann können wir ihnen nur sagen, sie sollen nach Berlin kommen.
    Ein Leben in der Freiheit ist nicht leicht, und die Demokratie ist nicht vollkommen. […]“


    Berlin übersteht die Krise. DerVier-Mächte-Status, nach dem Berlin seit Kriegsende durch die vier Siegermächte USA, Frankreich, England und Sowjetunion kontrolliert werden soll und den die Sowjetunion aufkündigen wollte, blieb erhalten.

    Weiterlesen: Vier-Mächte-Status und Reisefreiheit in Berlin
    1972 wurde dieser Status erstmals rechtskräftig verbindlich festgezurrt: Das Viermächte-Abkommen, das die Botschafter der jeweiligen Mächte 1971 ausgehandelt hatten, trat in Kraft.

    In den Verhandlungen waren die Zuordnung West-Berlins zur Bundesrepublik, der Zugang von der BRD nach West-Berlin und der Zugang von West-Berliner*innen nach Ost-Berlin besonders wichtig.



    Bilder: © Bavaroi GmbH

    „Wir verteilen die Mauer in der Welt, Stück für Stück“

    -- Jana Hewlett

    Jana Hewlett ist 28, Wahl-Berlinerin und Teil einer Gruppe, die sich „Mauerklopfer“ nennen. Das sind die sieben Künstler*innen, die die Mauersteine im Mauershop neu gestalten. Hewlett ist erst mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen, aufgewachsen ist sie in Neuseeland. Mit den Mauersteinen zu arbeiten bedeutet für sie, „im Nachhinein doch noch etwas mit der deutschen Geschichte zu tun haben zu dürfen.“ Die „Mauerklopfer“ verstehen ihre Kunst als Teil einer Mission: Die Mauer Stück für Stück aus Berlin zu schaffen. Im Interview erklärt Jana, was diese Arbeit für sie bedeutet

    Was heißt das -- als Nachgeborene, als Außenstehende Mauersteine zu bemalen?

    Du bist 28, nicht aus Berlin, du hast keinen eigenen DDR-Bezug. Was ist dein Bezug zu diesen Steinen, die du bearbeitest?Wenn du mit deinem Onkel darüber sprichst, aus der Perspektive, dass er die Mauer vor Augen hatte, wie sieht er das, was du heute als Künstlerin machst?Habt ihr mal konkret darüber geredet, was jetzt mit den Steinen passiert?Du bemalst Mauersteine, du bemalst Überreste aus einer anderen Zeit. Was bedeutet das für dich in deiner Arbeit, wie reflektiert man, was man da tut?Unter euch Künstler*innen haben einige einen DDR-Hintergrund. Gehen die anders an die Sache heran?
    Die Steine sind Teil einer Geschichte, die ich selber nicht berühren konnte. Aber mein Onkel kommt aus Moabit, aus der DDR, und hatte die Mauer damals quasi direkt vor der Nase. Er hat mir damals viel erzählt, wie es ihm selbst damals ging und wie er diese Einengung empfunden hat. Ich wohne jetzt ja selbst in Berlin, da hört man viele Geschichten. Ich finde es schön, dass ich jetzt praktisch selbst Teil dieser Geschichte geworden bin, indem ich die Mauer zerstöre und verteile (lacht).
    Ich glaube, für ihn war es damals im Allgemeinen eine harte Zeit. Also, er musste viel zurückstecken, Freiheit war ja nicht, außer das man nackt baden durfte überall (lacht). Aber seine Kindheit war im Allgemeinen schwierig, für ihn ist das eine schwarze Zeit.
    Das ist für ihn nicht so ganz greifbar. Aber er findet schön, dass die Mauer damit irgendwann komplett weg sein wird und nie wieder zusammengesetzt werden kann (lacht).
    Das ist tatsächlich: Dieser Gedanke des Verteilens, die Mauer in der Welt zu verteilen. Die Arbeit an sich gefällt mir allgemein schon sehr gut, weil ich mit Sprühdosen, mit allen möglichen Farben und Formen arbeiten darf. Ich selbst bin Siebdruckerin, das heißt, es macht mir auch Spaß, mit Steinen zu arbeiten, das ist die eigentliche Arbeit. Vor diesem großen geschichtlichen Hintergrund die Mauer mit bunten Farben bemalen und verteilen zu können, das ist einfach schön.
    Das glaube ich schon. Der Älteste von uns ist, glaube ich, 33, der hat die Mauer dann ja schon eher mitbekommen. Ich glaube, dass das eine andere Bedeutung hat. Ich selbst war ja nicht eingeschränkt früher, und ich glaube schon, dass, wenn jemand diese Erfahrung hat, in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema mehr Power steckt.

    „Als Frage zum Schluss: Was mich von Anfang fasziniert hat, war dieser Gedanke, ‚Stell dir vor, jemand würde antike römische Ruinen finden, und die dann bemalen und verkaufen und unter die Leute bringen…‘?“

    Janas Antwort lesen: 'Das möchte man dann ja nicht; denn...
    …in diesem Fall wäre das ja nicht mit diesem Gedanken verbunden, dass man etwas aus der Stadt weg haben möchte. Man will ja diese Mauer nicht mehr sehen. Klar, ein paar Mauerstücke muss man behalten, damit man sich dann vorstellen kann, wie es einmal war, aber es ist ja noch nicht lange her: Die meisten haben die Mauer noch kennengelernt, und mussten darunter leiden. Im alten Rom mussten Menschen vielleicht auch leiden, aber wir berühren das nicht mehr. In diesem Sinn ist die Mauer kein Ort, den man erhalten möchte.“

    „Es geht also wirklich darum, die ‚Mauer aus der Stadt zu schaffen‘?“

    „Ich glaube: ja.“

    Bild: © Bavaroi GmbH

    Mauersteine bemalen, Mauersteine verkaufen; wie politisch ist das?

    Du hast eben gesagt, es ist schön, dass die Mauersteine in die ganze Welt getragen werden. Was bedeutet das? Würdest du sagen, jeder Stein trägt eine individuelle künstlerische Handschrift?Was glaubst du bedeutet das für jemanden, so einen Stein im Regal stehen zu haben? Als du zum ersten Mal Menschen kennengelernt hast, die diese Steine als Gedenkobjekte betrachten: Hat das deine Arbeit verändert?Unter den Künstler*innen, die selbst einen DDR-Hintergrund haben: Diskussieren deren Familien kontroverser, was ihr aus den Steinen macht?
    Dass die Steine auf der ganzen Welt verteilt werden, bedeutet vor allem: Weg! Weg mit den Mauern, kein Mauern mehr, nicht mehr hier und auf der ganzen Welt.
    Wir wissen eigentlich immer, wer welchen Stein bearbeitet hat. Hier im Laden kann ich anhand der einzelnen Farbgebungen und Stile, nachvollziehen, was von wem kommt. Wir unterhalten uns auch sehr viel darüber, welche Steine uns am besten gefallen, und welche eher nicht so, weil uns die Steine einfach wahnsinnig am Herzen liegen. Wir stehen total dahinter, wie die Steine aussehen und was wir hier machen. Deshalb ist uns die Transparenz so wichtig: Dass alle wissen, dass WIR die Steine angemalt haben, und dass es sich nicht um Originalfarbe handelt.
    Teilweise ist es vielleicht nur ein Souvenir, teilweise habe ich auch Leute kennengelernt, die am Checkpoint oder an der Mauer Familienmitglieder verloren haben. Für sie ist das ein Gedenken an etwas, das nie wieder passieren soll. Für manche ist das sehr emotional: Die waren dann seitdem nicht mehr hier, und da ist jemand gestorben. In diesem Zusammenhang sieht jeder unsere Arbeit anders, die finden das teilweise sehr gut, dass die Mauer weg ist und dass sie verteilt wird, wieder andere sagen: Man sollte die Vergangenheit einfach nur ruhen lassen.
    Danach war es mir erst recht wichtig, dass diese Menschen wissen, dass die Farbe von mir ist, dass ich als Nicht-DDRlerin meinen Fingerabdruck auf dem Stein hinterlassen habe. Und dass in der Auseinandersetzung mit diesen Überresten auch die heutige Zeit eine Rolle spielt, was ja auch so ist: Es soll ja nie wieder eine Mauer in Berlin geben, aber am liebsten eben auch auf der ganzen Welt nicht. Heute genauso wie damals.
    Ja genau, also da haben wir auch Familienmitglieder, die haben alle durch die Bank weg komplett anders reagiert. Die einen finden es nicht gut, weil man es als Geldmacherei mit einer Sache, wegen der Menschen gestorben sind, wo Menschen leiden mussten, wo Familien getrennt wurden, betrachtet. Das finden die einen nicht gut; die anderen finden es top, und sagen: ‚Hey, weg damit!‘ (lacht)‚ und soll doch die nächste Generation noch was davon haben.

    Über die Autor*innen

    Karolína Bukovská

    Geboren 1994 in Prag, Tschechien. Meine Eltern sind in der sozialistischen Tschechoslowakei aufgewachsen, ich in der post-sozialistischen Tschechischen Republik. Als Tschechin betrachte ich die DDR vor allem als den Teil des Nachbarlandes, der einst als sozialistischer „Bruderstaat“ galt. Die „Ostdeutschen“ sind für mich Menschen, die mit der Generation meiner Eltern und Großeltern eine ähnliche Lebenserfahrung teilen.

    Jan Alexander Casper

    1995 in Wiesbaden geboren und im Hunsrück aufgewachsen, hat die DDR für mich vor meinem Umzug nach Berlin nie eine Rolle gespielt. Das Thema kam weder in der Schule noch zuhause auf, höchstens mal ganz am Rande. Die Beschäftigung mit dem Thema hat für mich durch den Kontakt zu den neuen Nachbar*innen in Berlin begonnen.

    Bildrechte

    Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0078557 / Fotograf: Siegmann, Horst.

    Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0078844 / Fotograf: Schütz, Gert.

    Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0078855 / Fotograf: Schütz, Gert.

    Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0078857 / Fotograf: Schütz, Gert.

    Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 0084592 / Fotograf: Sass, Bert.

    Stiftung Berliner Mauer, Nr. F-015094 / Fotograf: Edmund Kasperski.

    Wikimedia Commons, Fotograf: National Archives, Public Domain Mark 1.0, URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d0/Checkpoint_Charlie_1961-10-27.jpg (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Wikimedia Commons, Fotograf: U.S. Army photo, USAMHI, Public Domain Mark 1.0, URL: http://www.army.mil/article/46993/standoff-in-berlin-october-1961/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Alessandro Rizzo [@alessandrorizzo1976]. (27.2.2019). #berlino #berlin #deutschland #germany #germania #checkpointcharlie #2012 [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BuZp8-dluiL/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Ankit S [@ankitsaxx]. (1.3.2019). In love with the swag of you #berlin #howitis #howitwas #history #checkpointcharlie [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/Buef7NtgueZ/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Cécile Payance [@cecile_payan]. (3.3.2019). #checkpointcharlie #berlin #thewall [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BujiumtjS_n/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Fashion Traveller [@irina_erzhena]. (23.2.2019). What a privilege to be able to travel without borders, crossing countries, waving your red passport. Tragic, that people have such short memories of borders, the challenges, the nightmare of not belonging…..#border #checkpointcharlie #separationanxiety #antibrexit #stayineurope #passionpassport #travelawesome #forbestravelguide #worldplaces #instagramhub #ourplanetdaily #streetdreamsmag #artofvisuals #living_europe #visualambassadors #moodygrams #doyoutravel #exploretocreate #alwaysonthego #myjourney #exploring #visitberlin #ootd #instagood #streetstyle #photoofthedsy #berlin #germany #irinatravels [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BuOdJOHg1wQ/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Keerael [@keerael]. (5.1.2019). I fell in love with that city. ? #Berlin #Germany #trip #checkpointcharlie #frenchgirl #favoriteplace #amazing #iwannagoback #besttripever #dreamdestination #newyear #winter #happiestgirlever [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BsP9o9UD6mH/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    kisuleshna_morenita [@kisuleshna_morenita]. (19.1.2019). КПП Чарли, теперь тут можно за ? сфоткаться ))) #checkpointcharlie #berlin #germany #morenita_germany #alemania #viajando #путешествия #германия #берлин #кппчарли [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/Bs1SeyCl-Z9/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Nicolas Conort [@nconort]. (21.2.2019). #berlin #coldwar #checkpointcharlie #history #blackandwhite #berlinwall [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BuJxBlUlNVA/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

    Travelografia [@born_insomniac]. (1.2.2019). My takes from my Germany trip in October 2018 Checkpoint Charlie #checkpointcharlie #checkpointcharlieberlin #berlinwall #berlin #germany?? #nikon #nikond750 #nikonuk #nikonengland #nikonaustralia #photography #photooftheday #natgeoyourshot #natgeo #natgeotravel #travel #traveller #wanderlust #world_photo #photograms #overcast #overcastday #raininberlin [Instagram Bild]. URL: https://www.instagram.com/p/BtUt1cPldfe/ (letzter Zugriff am 14.3.2019).

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    Unsichtbare Mauergeschichten http://was-ist-geblieben.de/unsichtbare-mauergeschichten/ Tue, 05 Feb 2019 07:54:10 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=135 Was von der DDR bleibt? Die Geschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen!

    Ein Beitrag von Jona Schapira und Tuba Arıkan

    Anwohner*innen der Grenzhäuser an der Sebastianstraße, 10. August 1978
    Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski

    Den Verlauf der Berliner Mauer kann man heute durch eine Doppelpflastersteinreihe, die in die Berliner Straßen gelassen wurde, nachvollziehen. Schaut man vom Straßenboden wieder nach oben, wird im Westteil der Stadt erkennbar, wie nah die Mauer an den Wohnhäusern stand. Im West-Stadtbezirk Kreuzberg wohnten in diesen Häusern oft die Familien und Nachkommen der sogenannten türkischen Gastarbeiter. Sie etablierten ein spezifisches Lebensgefühl, welches die Berliner West-Bezirke nachhaltig prägen sollte.

    Die Geschichte der Berliner Mauer und der Berliner Deutsch-Türk*innen ist, so zeigt bereits das Beispiel, eng miteinander verzahnt. In der deutschen Erinnerungskultur spiegelt sich das jedoch nicht wider.

    Am 31.Oktober 1961, nur zwei Monate nach dem Mauerbau, schloss die Bundesrepublik das Anwerbeabkommen mit der Türkei ab. Man wollte durch Arbeitsmigration den Verlust der Arbeitskräfte aus Ostdeutschland ausgleichen. Einige der „Gastarbeiter“ gingen nach ihrem Arbeitsaufenthalt zurück in ihre Herkunftsländer, andere blieben in Westdeutschland. Mit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung wurde ein Wendepunkt für die Deutsch-Türk*innen eingeleitet – Grenzen der Zugehörigkeit wurden neu definiert. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre inkludierte Ostdeutsche als „ethnische Deutsche“ und exkludierte Immigrant*innen als das „Andere“. Im kollektiven Gedächtnis der Deutsch-Türk*innen verbreitete sich die Gewissheit, dass sie niemals „dazugehören“ würden. Die Beziehung zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Migrant*innen erlebte eine Zäsur, die ihren erschütternden Höhepunkt in den Pogromen der 1990er-Jahre fand.


    Der Dokumentarfilm „Paranthesis“

    Mehmet Ercan drehte im Zeitraum von 2009 bis 2011 den Dokumentarfilm „Parenthesis“. Der Film entstand im Zusammenhang mit seiner Masterarbeit „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“ im Fach Turkologie an der Freien Universität Berlin. In seiner Dokumentation zeigt Mehmet Ercan die Mauergeschichten von 13 Zeitzeug*innen. Die erzählten Geschichten sind so verschieden, wie die Zeitzeug*innen selbst. Was sie alle eint, sind ihre deutsch-türkischen Biografien.

    Exemplarisch werden hier die Geschichten von Kadriye Taşcı, Hasan Toğrulca, Emine Koçyiğit und Bekir Kılıç gezeigt. Die Filmausschnitte sollen dazu beitragen, die Mauergeschichten der Berliner Deutsch-Türk*innen innerhalb der deutschen Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Was von der DDR bleibt? Die Geschichte der Berliner Deutsch-Türk*innen!

    Vier unsichtbare Mauergeschichten -- Filmausschnitte

    YouTube Video

    „Ich war Mitglied der kommunistischen Partei in der Türkei. […] Es ist nicht nur der Fall einer Mauer, sondern eines ganzen Regimes. Viele Fragen befanden sich in der Schwebe. Was wird mit uns passieren, mit der Partei, mit dem sozialistischen Regime?“ Kadriye Taşcı

    YouTube Video

    „Die Berliner Mauer habe ich 1979 kennengelernt. […] Ich landete am Flughafen Schönefeld (Ostberlin). Ich wartete stundenlang. […] Nach zwei Stunden haben sie mich in einen Bus gesteckt. Als wir an der Grenze ankamen, dachte ich, sie bringen mich ins Gefängnis. […]“ Hasan Toğrulca

    YouTube Video

    „Wir wohnten an der Köpenicker Straße in Kreuzberg. […] Meine Eltern warnten uns vor dem Kanal. Sie sagten, wenn wir reinfallen sollten, könne uns niemand retten. […] Tatsächlich patrouillierten Grenzboote im Wasser mit Grenzsoldaten, die schossen, sodass keiner helfen konnte.“ Emine Koçyiğit

    YouTube Video

    „»Warum darf Peter in der ersten Mannschaft spielen und ich nicht«, fragte ich. Weißt du, was der Mann antwortete? Er sagte: »Du bist Türke, er ist Deutscher. Eines Tages wirst du vielleicht gehen. Er ist hingegen Deutscher. Er gehört zu uns. Er wird hier bleiben.«“ Bekir Kılıç


    Interview mit dem Filmemacher Mehmet Ercan

    Bitte stell dich kurz vor!

    Ercan: Mein Name ist Mehmet Ercan. Ich beschäftige mich mit Film und Anthropologie und bin immer noch Doktorand an der Freien Universität Berlin.

    Erzähl uns von deinem deutschen Abenteuer! [Diese Frage stellte Mehmet Ercan bei seinen Dreharbeiten zu „Paranthesis“ immer als Eingangsfrage.]

    Ercan: Ich bin seit ungefähr 14 Jahren in Deutschland. Ich war am Anfang nur für einen einjährigen Sprachkurs gekommen und genau wie die im Ausländerbüro erteilten Jahresgenehmigungen, wurde mein Abenteuer auch Jahr für Jahr fortgesetzt.

    Wieso war das Thema deines Films für dich wichtig?

    Ercan: Um ehrlich zu sein erinnere ich mich nicht wirklich, warum ich mich für das Thema entschieden habe. Wie du sagst, es sind schon 10 Jahre her. Wir sind ja in 2019. Also es war ja im Jahr 2009, 20. Jahrestag der Fall der Berliner Mauer. Damals musste ich wohl ein Thema für die Master-Thesis finden, hatte aber kein Budget für ein anderes Filmprojekt. Deshalb habe ich das gewählt, nehme ich an.

    Welche Bedeutung hatte es für dich als Türke in Deutschland, Deutsch-Türk*innen zu interviewen?

    Ercan: Das Befragen von Türk*innen in Deutschland für einen Film ist nicht sehr unterschiedlich im Vergleich zu meinem alltäglichen Leben. Normalerweise führe ich immer ähnliche Befragungen von Menschen um mich herum durch, einfach aus Neugierde heraus. Fast alle Protagonisten in dem Film waren ja schon Bekannte oder Freunde von mir. Es war aber deswegen interessant, weil es sich diesmal um ein konkretes und einheitliches Thema handelte. 

    Welche Mauergeschichten waren für dich am einprägsamsten?

    Ercan: Ich fand ja alle Mauergeschichten, die im Film zu sehen sind, sehr einprägsam. Deswegen habe ich mir es erlaubt, dass sie beim Endschnitt alle noch zu sehen sind. Zuschauer*innen sollten wissen, dass der endgültige Film stark geschnitten und editiert wurde, fast wie ein „Fiction-Film“. Nur weil das Genre „Dokumentarfilm“ heißt, bedeutet es nicht, dass keine „Redaktion“ dahinter steht. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass die einprägsamsten Geschichten „off-the-record“ erzählt wurden und deswegen entweder rausgelassen werden mussten oder nicht einmal aufgenommen werden konnten.

    Es sind 10 Jahre vergangen seitdem du den Film gedreht hast. Was hat sich seitdem deiner Meinung nach geändert?

    Ercan: Es gibt immer noch keine Recherche, Filme und Bücher darüber, was ich damals „zufälligerweise“ zum Teil recherchiert habe. Ich wollte ja, wie gesagt, bloß mein Magisterstudium endlich zu Ende bringen und bin deswegen auf das Thema gestoßen. Und zehn Jahre später befindet sich dieses Mal Tuba in einer ähnlichen Situation und so geht der Staffellauf irgendwie weiter. Sonst sehe ich aber kein ernsthaftes Interesse, weder auf der Seite der Türkei / Deutschlands, noch auf der Seite der türkischen Community, dieses Kapitel der Geschichte weiter zu recherchieren und zu dokumentieren. Es sind immer ein paar „amateure“ Individuen.

    Was bleibt für dich von der DDR?

    Ercan: Auf der einer Seite nur die Geschichten, die ich von meinen Protagonisten und anderen Leute gehört habe und auf der anderen Seite die krassen Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern, die man merkt, wenn man irgendeine „Infografik-Map“ zur Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Gender usw. sieht.

    Der Filmemacher Mehmet Ercan, Foto: Privatbesitz Mehmet Ercan

    Grenzen der Zugehörigkeit -- Essay

    Feuerwerk, Jubel, Deutschlandfahnen, Menschen reichen sich die Hände. Eine erste Online-Bildrecherche fasst das Narrativ der deutschen Erinnerungskultur zur Wiedervereinigung zusammen: Die Geschichte eines Erfolges. Schaue ich mir die deutschen Erfolgsbilder genauer an, dann suche ich vergeblich die Geschichten meiner jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihrer Familien. Ich suche die Geschichten der Minderheiten in den 1990er-Jahren in Deutschland – und finde sie nicht. Nicht in den Ausstellungen, die ich besuche. Kaum in den Büchern, die ich lese.

    Während die Berliner Mauer 1989 fiel, blieb eine andere erhalten – sie heißt Rassismus und bekam nun einen neuen Anstrich. Das entstehende Nationalgefühl der 1990er-Jahre schuf neue Grenzen der Zugehörigkeit und leitete damit einen Wendepunkt für all diejenigen ein, die nicht zu „ethnischen Deutschen“ gezählt wurden. Während ehemalige Ost- und Westdeutsche zum „Wir“ im entstehenden „Volk“ gehörten, wurden all diejenigen, die als Migrant*innen gelesen wurden, erneut zum „Anderen“.

    Ich finde in den Erfolgsbildern der Wiedervereinigung nicht die Geschichten der Minderheiten wieder. Aber ich finde etwas anderes: Es sind die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die Bevölkerung und die Lebensstile in West- und Ostdeutschland erfuhren durch die Anwerbeabkommen beider deutschen Staaten eine Diversifizierung. Die größte Gruppe der „Gastarbeiter“ in West-Deutschland machten Türk*innen aus. In West-Berlin wurden diese häufig in Wohngegenden direkt an der Mauer angesiedelt. Es ist also davon auszugehen, dass viele Deutsch-Türk*innen konkrete Erinnerungen an das Leben mit der Berliner Mauer und den Mauerfall haben müssen. Dennoch sind ihre Geschichten kaum präsent. Sie sind kein Teil der deutschen Erinnerungskultur. Wie ist das in Hinblick auf die Größe der deutsch-türkischen Community möglich? Was sagt es über die deutsche Erinnerungskultur aus, wenn die Geschichten der Minderheiten nicht erzählt werden?

    Es bleibt eine Vermutung: Die deutsche Gesellschaft und damit auch ihre Erinnerungs- und Geschichtskultur ist rassistisch. Die Frage, welche Geschichte und Geschichten erforscht, erinnert und erzählt werden und welche nicht, findet eine Antwort auch in den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen. Ich möchte nicht nur die Bilder der Weißen mehrheitsdeutschen erfolgreichen Wiedervereinigungsgeschichte finden. Im Gegenteil: Ich will sehen und Teil davon sein, wie die Mauern der Erinnerungs- und Geschichtskultur mit Mut, Kraft und Wut und mit antirassistischen Hämmern eingerissen werden. Und dann mit all meinen jüdischen und (post-)migrantischen Freund*innen und ihren Familien auf den Trümmern tanzen.


    Grenzhäuser und -mauer an der Sebastianstraße , 10. August 1978
    Foto: Stiftung Berliner Mauer, Fotograf: Edmund Kasperski


    Materialliste

    Fachliteratur

    • Cil, Nevim: Topographie des Außenseiters. Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin 2007.
    • Ercan, Mehmet: „The German-Turkish community in Berlin and the Fall of the Wall“, Berlin 2011 [unveröffentlichte Masterarbeit].
    • Huneke, Dorte: Von der Fremde zur Heimat. 50 Jahre deutsch-türkische Anwerbeabkommen, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei, 24.10.2011. http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/anwerbeabkommen/43161/von-der-fremde-zur-heimat, letzter Zugriff 13.03.19.
    • Mandel, Ruth: Cosmopolitan Anxieties. Turkish Challenges to Citizenship and Belonging in Germany, Duke University Press 2008.
    • Tügel, Nelli: Das Land ihrer Träume? Türkeistämmige politische Emigrant_innen in der DDR, Berlin 2014.

    Zeitungsartikel

    • Woltersdorf, Adrienne: „Die Mauer fiel uns auf den Kopf“, Interview mit Nevim Cil, in: TAZ, Berlin 2004. http://www.taz.de/!677266/, letzter Zugriff 25.03.19.

    Filme

    • Candan, Can: Duvarlar-Mauern-Walls, 2000.
    • Ercan, Mehmet: „Paranthesis“, Berlin 2011.
    • König, Jana/ Steffen, Elisabeth/ Turczyn, Inga: Mauern 2.0. Migrantische und anti-rassistische Perspektiven auf den Mauerfall, Berlin 2013.
    • RBB: 1975. Türken in Kreuzberg, in: Die Berliner Mauer. Geschichte in Bildern, 2014. https://www.berlin-mauer.de/videos/gastarbeiter-aus-der-tuerkei-in-kreuzberg-640/, letzter Zugriff 25.03.19.
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    Geschichte in der Hand http://was-ist-geblieben.de/geschichte-in-der-hand/ Tue, 05 Feb 2019 07:42:41 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=126 Ein Beitrag von Jahn Benesch

    Wenn es Quellen gibt, die objektiv sind, dann sind es Objekte. Sie sind die erste und einfachste Antwort auf die Frage „Was ist geblieben?“. Doch einmal ganz ehrlich: Mit der Objektivität ist es eigentlich nicht weit her, wenn nun jemand kommt und sagt: Dieses Ding vor mir erzählt mir etwas über die Geschichte. Was passiert eigentlich genau, wenn Objekte als Quellen genutzt werden? Es folgen einige Überlegungen, ausgehend von einem Objekt, das mich schon einige Jahre begleitet, bei näherer Betrachtung aber Bedeutungsschicht um Bedeutungsschicht erlangt und immer signifikanter zu werden scheint.

    Kamera Exakta VX1000
    Exakta VX 1000. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

    Brücken in die Vergangenheit

    Ich habe viel darüber nachgedacht, was mich mit der Vergangenheit verbindet. Wie schaffe ich es, von meinem „Jetzt“ und „Hier“ die Brücke zu schlagen, in eine Zeit und einen Raum, der nicht jetzt und nicht hier ist? Dieser Vorgang geschieht in meinem Kopf, ist also zunächst allein eine Vorstellung. Doch entspringen diese Vorstellungen über andere Zeiten – auch wenn ich der Meinung bin, dass diese doch immer eine Rolle spielt – natürlich nicht allein der Phantasie. Das erste „Früher“, das ich als Mensch erfahre, ist das meiner eigenen Erinnerungen.

    Doch: Erinnerungen können trügen. Und jede Form von Erzählung hat ihre Auslassungen, ihren Fokus, ist bereits in einen narrativen Rahmen gefasst. Dies ist per se nicht schlimm. Nur auf diese Weise können wir überhaupt erzählen und geschehene Abläufe mitteilen, auch ohne selbst zugegen gewesen zu sein. Aber als Historiker*innen bleibt es dennoch ein Anspruch und Ansporn, überprüfbare Aussagen zu machen, und in unseren Erzählungen der vergangenen Realität auf die Spur zu kommen.

    Ehemaliger Grenzwachturm im Schlesischen Busch, Berlin
    Ehemaliger Grenzwachturm im Schlesischen Busch, Berlin. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

    Es stellt sich die zentrale Frage: Gibt es Quellen der Vergangenheit, die nicht von vornherein perspektiviert, subjektiv, verzerrt oder fokussiert sind? Die einfach und ungestellt aus ihrer Zeit heraus erhalten sind, an denen man den Lauf der Zeit ablesen kann? Ein „Überrest“ im ganz klassischen Sinne, der keine bewusst narrative Funktion hatte und erst jetzt, durch den gegenwärtigen, an Geschichte interessierten Menschen seine Funktion als Quelle bekommt? Eine Quellenkategorie, die diese Voraussetzung vielleicht erfüllen kann sind Objekte und insbesondere Gebrauchsobjekte. Diese wurden in einer Zeit für einen Zweck hergestellt, befriedigten ein Bedürfnis, wurden bei einer Arbeit benutzt. Und irgendwann gerieten sie außer Gebrauch, wurden einfach alt, oder zumindest unüblich, ungewöhnlich – und damit historisch? Und damit komme ich nun auch beim übergreifenden Thema diese Website an: „Was ist von der DDR geblieben?“

    An dieser Stelle fällt die Formulierung „alt, ungewöhnlich, historisch“ auf, denn das ist ja schon wieder eine „moderne“ Sicht auf das Ding, eine von mir auf das Objekt projizierte Bedeutung, die das Objekt aus der Jetztzeit anders bewertet, als es zum Zeitpunkt seiner Entstehung der Fall gewesen wäre. Alte Gegenstände haben einen Nimbus, eine Aura, die ja gerne beschworen wird. In den Berliner Flohmarkthallen ist das sehr schön zu sehen: Alte Dinge faszinieren. Schreibmaschinen, alte Backformen, Tintenfässer, Schnurtelefone, Musikinstrumente, Apothekergläser, Lampen oder auch Kameras. Dieser Zugang zu den Dingen ist stark assoziativ, aber ich möchte mich genauer damit auseinandersetzen, auf welche Art diese Assoziationen wirken, wie sie dazu dienen, eine Vergangenheit greifbar und vorstellbar zu machen und auf welch vielfältige Weise ein Objekt betrachtet werden kann, wenn man es als Quelle, als Überrest versteht. Und nicht zuletzt geht es um die Frage, ob diese Objekte am Ende tatsächlich einen wortwörtlich objektiven Aussagewert haben, oder nicht doch das Individuum immer wieder von neuem Zeichen und Bedeutungen in das Objekt hineinlegt. Also einmal ganz von vorn.

    Ladenschild des "Ost-West Späti"
    Ost-West Späti, direkt auf dem ehemaligen Mauerverlauf zwischen Neukölln und Alt-Treptow gelegen. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

    Die Exakta

    Ich besitze einen Gegenstand, der mich schon lange fasziniert und der aus der ehemaligen DDR stammt. Eine Spiegelreflexkamera der Marke Exakta Varex, vom Dresdner Hersteller Ihagee. Ich kaufte die Kamera, zusammen mit einem Koffer und Zubehör vor Jahren gebraucht im Internet. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich einfach nur eine analoge Spiegelreflexkamera besitzen und diese war günstig zu haben. Als ich die Kamera in den Händen hielt, machte sie einen stabilen, schweren Eindruck. Es war ein robustes Gerät, das ich auf Reisen mitnehmen konnte, ohne dass ich Angst darum haben musste. Und: Es funktionierte einwandfrei. Jeder Knopf, jedes Rädchen, jeder Hebel dieses vollständig mechanisch funktionierenden Apparates konnte flüssig bedient werden. Metall und schwarzes Kunstleder, Glas und Schmieröl. Einfach als materieller Gegenstand, als Maschine zum Herstellen von Bildern ist sie ein eindrücklicher Gegenstand. Zusammengesetzt aus hunderten Einzelteilen zu einem fest gefügten Ganzen, das dann in der Lage ist, Bilder auszunehmen, Momente einzufangen, das fasziniert mich bis heute und bereitet mir Freude. Ganz abgesehen von der Funktionalität – ich brauche zum Beispiel nie auf den Akkustand zu achten – empfinde ich das Design als schön, als ästhetisch. Und hier beginnen nun auch meine Überlegungen, die den Gegenstand in eine Geschichte einbetten.

    Erste Assoziationen, die ich zur Dingwelt der DDR habe, sind das Industriedesign und die Formensprache der 60er Jahre, in denen der Wettlauf der Systeme noch nicht entschieden war und die neu entwickelten Produkte des Ostblocks technisch mit denen des Westens mindestens mithalten konnten. Ein Gebiet, in dem dies sicher der Fall war, war die Kameratechnik. Mit Dresden verfügte die DDR über einen traditionsreichen Standort optischer Technik: Die Zeiss Ikon AG und die Ihagee Dresden waren vor dem Zweiten Weltkrieg Kamerahersteller von Weltrang, die die Entwicklung der Fotografie wesentlich beeinflusst hatten. Insbesondere die Ihagee, deren Kine-Exakta von 1936 die erste einäugigen Spiegelreflexkamera im Kleinbildformat darstellte, prägt die Bauformen von Kameras im Prinzip bis heute. Ausgehend von dieser Tradition erfolgte in den 50er und 60er Jahren eine Fortentwicklung der Kine-Exakta zu Exakta Varex – einer Kamera, die international in professionellem Umfeld benutzt wurde. Insbesondere in der wissenschaftlichen Fotografie dienten die Kameras aus Dresden zum Erstellen von makro- und mikroskopischen Bildern[1]. Zahlreiches Zubehör wurde speziell für diese technisch schwierigen Aufnahmen angeboten. Für die DDR war die Exakta ein Exportprodukt, das der Devisenschaffung diente[2]. Preislisten des Jahres 1963 zeigen, dass das Gehäuse einer Exakta IIa in der DDR 569 Mark[3] kostete, während es in der Bundesrepublik für 396 DM[4] erhältlich war. Das Modell VX1000, das ich besitze, wurde von 1966 bis 1970 gefertigt und stellte den Endpunkt der klassischen Exakta Varex-Entwicklung dar. Der bis dahin unabhängige VEB Ihagee Kamerawerk wurde in den größeren VEB Pentacon eingegliedert und die Firma und ihre Tradition so de facto aufgelöst. Spätere Kameras mit dem Markennamen Exakta hatten eine andere (und auf dem internationalen Markt nicht mehr konkurrenzfähige) Bauweise.

    Max Lingners Wandbild "Aufbau der Republik" am heutigen Detlev-Rohwedder-Haus
    Max Lingners Wandbild „Aufbau der Republik“ am heutigen Detlev-Rohwedder-Haus am Platz des Volksaufstandes von 1953, Berlin. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

    Welche Bedeutung hat die Kamera?

    Vor ihrem historischen Hintergrund gewinnt die Kamera eine Bedeutung als Zeugnis einer aus dem Vorkriegsdeutschland weitergetragenen Tradition, die sich unter den wirtschaftlichen Bedingungen der DDR jedoch nicht schnell genug weiterentwickeln konnte. In den späten 60ern verlor die Kamera ihren technischen Vorsprung und damit ihre Bedeutung als Vorzeigeprodukt und Devisenbeschaffer. Sie reiht sich ein in das allgemeine Narrativ einer enthusiastisch startenden DDR, die aber innerhalb von 10, 20 Jahren begann, wirtschaftlich und technologisch zu stagnieren. Die Exakta steht als Bindeglied zwischen den Zeiten des Aufschwungs und des Abschwungs.

    Die hohe Qualität der Kameras trug zu ihrer Popularität in dieser Zeit bei, auch in den westlichen Ländern, und selbst heute noch ist sie nicht übersehbar. Wenn ein mechanisches Produkt auch 50 Jahre nach seiner Herstellung noch funktioniert, ist das bemerkenswert. Auch die Literatur zur Benutzung der Kamera ist vielseitig und teilweise noch heute in den Universitätsbibliotheken zu finden, aufgereiht in den alten Beständen zur Nutzung analoger Fotografie. So befindet sich etwa das fast 400 Seiten starke Ratgeberwerk „Exakta: Kleinbild-Fotografie“ in seiner siebten Auflage von 1962 in der biologischen Bibliothek der FU im botanischen Museum – ein Überbleibsel und Hinweis auf die Zeit, in der diese Kamera im wissenschaftlichen Umfeld genutzt wurde.

    Aus der Archäologie und der Museumskunde stammt der Grundsatz, dass Dinge Semiophoren, also Zeichen- und Bedeutungsträger sind. Dinge, die zunächst einmal nur „lumps of the physical world“ [5] sind werden zu „Artefakten“ und damit Bestandteile der „materiellen Kultur“, wenn der Mensch sie herstellt oder benutzt und mit einer Bedeutung versieht. Diese Bedeutung kann ganz trivial sein. Ein Löffel etwa ist manchmal eben einfach nur ein etwa mundgroßes Schälchen am Stiel, mit dem man Essen in den Mund befördern kann, ohne sich die Finger zu beschmutzen oder zu verbrennen. Der*die Besitzer*in muss nicht unbedingt mehr Bedeutung in diesen Löffel legen. Aber er kann. Ist der Löffel aus Silber, und damit aus teurem oder seltenem Material? Ist er neu, gehört er zu einem Geschenk für den neuen Haushalt oder ist er gar ein Erbstück? Objekte kommen während ihrer Lebensdauer mit ihren Nutzer*innen und ihrer Umwelt in Kontakt und Menschen neigen dazu, sich diese Verbindungen in ihrer Vorstellung als Merkmal des Objektes zu merken, bisweilen sogar bis hin zu einer Personifikation oder Beseelung der Objekte in der Vorstellung eines Individuums[. Das gleiche geschieht mit alten Kameras und mit vielen weiteren alltäglichen Gegenständen.

    Bedeutungen von Objekten haben sowohl eine materielle oder funktionale Bedeutung, zusätzlich aber auch eine narrative und ideelle Ebene. Und je mehr wir über den Gebrauch eines Gegenstandes erfahren, desto eher wird es möglich, diese zweite, semiotische Ebene zu ergründen[6]. Bei Themen der Zeitgeschichte ist es möglich, über das Objekt hinaus die damalige Nutzung und die verbundenen Vorstellungen von Zeug*innen zu erfahren. Schriftliche oder mündliche Aussagen zum Gebrauch und seiner Funktion sind zu ergründen, die Herstellung der Objekte bis aufs kleinste Detail nachzuvollziehen. Dies sind Voraussetzungen, von denen der*die Archäolog*in sonst nur träumen kann.

    Bodenmarkierung auf dem Verlauf der Berliner Mauer
    Bodenmarkierung auf dem Verlauf der Berliner Mauer. Aufnahme des Autors, CC BY-NC

    Was ist diese Kamera also alles? Ein mechanisches Objekt, das von der Technologie und der Handwerkskunst seiner Herstellungszeit zeugt. Ein Wertgegenstand und ein Präzisionswerkzeug. Ein Mittel dazu, Bilder, Abbildungen, Medien herzustellen und zu vervielfältigen. In seiner Produktionsgeschichte lassen sich größere wirtschaftliche Abläufe wiedererkennen. Die Beschäftigung mit der Herkunft und der Weiterentwicklung dieses in großer Stückzahl produzierten und verwendeten Gutes ist als Zugang zur Wirtschaftsgeschichte der DDR bestens geeignet. Aber auch – und das heute sicherlich immer noch – ist die Exakta ein Designgegenstand und ein Sammlerstück, das eine ästhetische Dimension besitzt. Diverse Internetseiten, Fanclubs, Tauschbörsen und Internetforen zeugen von einer nach wie vor fortlaufenden Beschäftigung mit den Kameras.

    Und nicht zuletzt werden sie immer noch für ihren ursprünglichen Zweck genutzt. Die Schwarzweiß-Bilder in diesem Artikel wurden mit meiner Exakta aufgenommen und anschließend digitalisiert. Ohne die Kamera gäbe es die Bilder in dieser Form nicht. Was bleibt, ist also ein Gegenstand, der alte Kulturtechniken bewahrt, der weiterhin bei der Produktion neuer Medien genutzt wird und der einen mentalen Zugang in die Geschichte bieten kann. Dieser Zugang geschieht unbewusst und emotional, bewusst und rational, aber er geschieht. Ich denke, es ist einer der wichtigsten Prozesse historischen Denkens, seine materielle Umwelt als geworden und mit Geschichte aufgeladen zu betrachten. An vielen Objekten gelingt das recht mühelos. Die Exakta aus dem Dresden der 60er gehört dazu.

    Autor beim Gebrauch der Exakta
    Autor beim Gebrauch der Exakta. Aufnahme von Malte Grünkorn

    [1] In diesem Kontext wurde die Kamera auch auf einer Briefmarke für die Leipziger Messe 1955 (Beitragsbild) verewigt.

    [2] Dazu auf der Website des Deutschen Museums in Bonn.

    [3] Preisliste mit dem „EVP“ also Einzelhandelsverkaufspreis in der DDR für Ihagee-Produkte aus dem Jahr 1963.

    [4] Preisliste für Ihagee-Produkte in D-Mark.

    [5] Pearce, Susan: Museum Objects. In: Pearce, Susan (Hrsg.): Interpreting Objects and Collections (London 1994) S. 9.

    [6] Hierzu schreibt der Kölner Archäologe Tobias Kienlin: „Gleich ob sie nun – zum Teil – mit explizit formulierter Bedeutsamkeit behaftet sind, oder rein funktional erscheinen, wie so oft in unserer eigenen Kultur, vermitteln die Dinge dabei wichtige Klassifikationsschemata für die gesellschaftliche und kulturelle Realität.“ – Kienlin, Tobias: Die Dinge als Zeichen: Zur Einführung in das Thema. In: Kienlin, Tobias (Hrsg.): Die Dinge als Zeichen: Kulturelles Wissen und materielle Kultur (Bonn 2005), S. 2.


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    Und zur Nähe wird die Ferne http://was-ist-geblieben.de/und-zur-naehe-wird-die-ferne/ Tue, 05 Feb 2019 07:37:11 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=95 Die Präsenz der DDR
    Eine bildlich-akustische Annäherung

    Ein Beitrag von Ayse Kizilkulak

    Was ist von der DDR geblieben? Diese Frage stellte sich zu Beginn unseres Seminars im Winter-semester 2018/19. In meinem Kopf waren blasse Sequenzen. Bilder kamen auf von Hammer und Zirkel, von Menschen, die über die Mauer auf die andere Seite klettern, vom Checkpoint Charlie.

    „Wirklich?“, dachte ich, „ist das alles?“ .

    Warum wissen viele Menschen heute so wenig über die einstige Teilung Deutschlands, über eine Diktatur, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Bundesrepublik abgespielt hatte? Über die unmittelbaren Auswirkungen auch nach dem Mauerfall auf die Gesellschaft und die Kultur der Gegenwart?

    Als eine Person aus dem tiefen Südwesten der Bundesrepublik, neu nach Berlin gezogen, wollte ich auf Spurensuche gehen. Ich wollte die DDR in die Gegenwart holen, in mein Bewusstsein. Die Orte sehen, an denen Menschen gelacht, geweint, gegessen, oder vielleicht sogar eine Reise angetreten haben. Mein kleiner Beitrag soll versuchen die gefühlte Ignoranz und zeitlich-räumliche Ferne zu durchbrechen und zur Nähe werden lassen. Nicht alles, was die DDR einst ausmachte ist einfach so von der Bildfläche verschwunden, zumindest nicht in Berlin. Menschen, Architektur, Kultur, Musik, Gewohnheiten: Es gibt sie, die kleinen Anhaltspunkte und Erinnerungssplitter. Gewisse Dinge sind noch da. Andere eben nicht mehr. Gewisse Dinge sind ausgeschildert. Andere nicht. Was ist also von der DDR geblieben und was nicht?

    Sehen und hören Sie (am besten beides gleichzeitig) selbst.

    Eine Annäherung.

     

    Blick auf die Berliner Mauer, im Vordergrund ein Freund von D. Hubert Peuker in der Strelitzer Straße, die damals Egon-Schultz-Straße hieß.
    Blick auf die Berliner Mauer, im Vordergrund ein Freund von D. Hubert Peuker in der Strelitzer Straße, die damals Egon-Schultz-Straße hieß.
    Bildmontage; Originalbild: Stiftung Berliner Mauer / Foto: Detlef Hubert Peuker


    Bildansicht

     

    “Republikflucht“
    Hubert Peuker spielt schon lange mit dem Gedanken, die DDR zu verlassen. Geboren 1953 in Braunschweig, fühlt er sich in seiner neuen Heimat, der DDR, in die seine Familie Mitte der 1950er Jahre noch vor dem Mauerbau umsiedelte, nie wirklich wohl. Früh beginnt er aufzubegehren und gegen jegliche Form von politischer Bevormundung und Entmündigung Einspruch zu erheben. Nach der achten Klasse bricht er die Schule ab und beginnt eine Lehre als Maurer. Die Zustände im Ausbildungsbetrieb desillusionieren ihn zunehmend und verstärken den Gedanken, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Im jugendlichen Alter von sechzehn Jahren entscheidet er sich endgültig für die Flucht in den Westen. Dort lebt die Familie der Mutter mit seinem älteren Bruder. 

    Der Besuch Ost-Berlins im Sommer 1969 ist ein wesentlicher Teil seiner Fluchtvorbereitungen. Zurück in Jena wertet Peuker die Fotos, die er mit einer einfachen Schwarz-Weiß-Kamera der Marke „Werra“ aufgenommen hat, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle für die Überwindung der Grenze aus. Er muss die Fotos mithilfe eines kleinen Bausatzes aus Entwicklungsdose, Wannen und Chemikalien in dem zur Dunkelkammer umgebauten Dachboden des Familienhauses selbst entwickeln, da die Abgabe seiner brisanten Bilder an ein Fotolabor viel zu gefährlich wäre. 

    Text: Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer [1]

    Das Bild, das auf der Fotomontage zu sehen ist, zeigt die Sicht auf die Berliner Mauer 1969. Das Titelbild dieses Beitrages zeigt die Sicht über die Strelitzerstraße in die andere Richtung, ins „Innere“ Ostberlins. Die Strelitzerstraße verläuft quer zur Bernauerstraße.

    Die in der Bildbeschreibung erwähnte Umbenennung ist an ein größeres, vom MfS später politisch-mystifiziertes Narrativ gebunden. Die Strelitzerstraße 55 wurde später durch den „Tunnel 57“ bekannt – ein Fluchttunnel, mit Hilfe dessen 57 Flüchtlinge aus Ostberlin fliehen konnten. Von westdeutschen Studenten in elf Meter Tiefe gegraben, verlief der 145 Meter lange Fluchttunnel von einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße zum Hof der Strelitzerstraße 55, wo er in einem Toilettenhäuschen endete. An der Mauer oder im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grenzregime starben zwischen 1961 und 1989 mindestens 140 Menschen. Zuzüglich dieser Zahl lag unter Reisenden die Anzahl der Todesopfer an den Berliner Grenzübergängen bei 251. Mindestens 5.075 DDR-Bürgern*innen gelang die Flucht zwischen Mauerbau und Mauerfall. [2]

     Auf dem Bild ist der Springbrunnen am Strausbergerplatz zu sehen.

     

    Bildmontage; Originalbild: Bundesarchiv, Bild 183-H1002-0001-001 / Foto: Peter Heinz Junge /
    CC-BY-SA 3.0


    Bildansicht

     


    Architektur
    Mitten am Strausberger Platz angekommen, erschlägt einen die Architektur der langen Alleen beinahe: Ich muss aufpassen, als ich die Straße überquere, um näher an den Springbrunnen zu kommen. Schnell stellt sich heraus, dass der Fotograf des Bildes in der Bildmontage wusste, was er tat: Die Perspektive, die er gewählt hatte – nahezu unmöglich in das äußere Gesamtbild einzuordnen.

    Der Strausberger Platz, vor allem aber die ehemalige Stalinallee – Anfang 1960 in Karl-Marx-Allee umbenannt, sollte mit ihrer Außenarchitektur den Sozialistischen Realismus symbolisieren und gleichzeitig für mehr Wohnraum sorgen. Die Gestaltung der Magistrale, die imposanten mehrstöckigen Hochhäuser am Strausberger Platz sowie die auf dem Bild in der Bildmontage zu sehenden Hochhäuser am ehemaligen Leninplatz (heute Platz der Vereinten Nationen) entstanden in einem Kontext mehrerer architektonischer Umbrüche in der Nachkriegszeit. Insbesondere der ehemalige Leninplatz sollte als politisches Vorzeigeobjekt dienen und zeigt die von der Sowjetunion auch in der SBZ angeordnete architektonisch-künstlerische Richtlinie. In der Mitte des Platzes stand eine monumentale Leninfigur, welche vom Präsidenten der Akademie der Künste der Sowjetunion – Nikolai Tomski, gestaltet wurde.[3]
    Die (originale) Bildunterschrift des Bildes in meiner Bildmontage zeigt den propagandistischen Ton und die Bedeutung dieses Fotos für den Vorzeigeeffekt dieser Neubauten.

    „Zentralbild-Junge-2.10.69-sze-Berlin: 20.Jahrestag DDR-Höher als das Hochhausensemble am Leninplatz scheinen hier die Fontänen des Springbrunnens am Strausberger Platz zu sein. Unser Bildreporter verkürzte mit dem Teleobjektiv die mehrere 100 Meter weite Entfernung zwischen beiden Objektiven. Bis zum 7.Oktober 1969 werden die 17-, 21-und 25geschossigen Hochhausabschnitte am Leninplatz rohbaufertig sein.“

    Das Gebäude auf der Bildmontage auf dem folgenden Bild ist das ehemalige „Haus des Kindes“ am Strausbergerplatz 19.[4] Vielleicht ist das Bild ebenfalls aus diesem Grund nicht zufällig an diesem Ort zu dem in der Bildunterschrift genannten Anlass entstanden … Beide genannten Bilder sind in Auftrag und für den ADN aufgenommen.

     

    Auf dem Bild sind Kinder, die Bocksprünge machen zu sehen. 4. Volkssporttag DDR

     


    Bildmontage; Originalbild: Bundesarchiv, Bild 183-72771-0001 / Foto: Ulrich Kohls


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    Sport
    „Breiten“- und Spitzensport spielten in der DDR eine große Rolle: Kinder und Jugendliche wurden bereits im Kindergartenalter von Ärzt*innen und Trainern danach begutachtet, wer später einmal als Leistungssportler*in ein(e) Turner*in, Ruder*in oder vielleicht doch Schwimmer*in (usw.) geeignet sein könnte. Wurde ein Talent entdeckt, so konnte der Weg über die Trainingszentren, Jugendsportschulen (KJS) bis hin zur Olympiade reichen. Neben den Volkssporttagen gab es ab 1965 die Spartakiaden, auf die sich die Sportclubs wegen des Schau-Charakters oft im Wettbewerb vorzubereiten versuchten. Hier nahmen insbesondere Kinder und Jugendliche teil, deren Leistung nicht ganz zum geförderten Leistungssport gereicht hatte und sie Sport eher aus Freude betrieben. Es gab Spartakiaden für Kindergartenkinder bis zu Senioren. [5] Die Motivation der breiten Gesellschaft zur regelmäßigen sportlichen Betätigung – selbst während des Urlaubes oder in Betrieben und betrieblich organisierten Sportfesten, wurde zur flächendeckender Aufforderung, die die DTSB bis in die kleinsten Fitnessaktionen dörflicher oder städtischer Natur förderte. Massensport in der DDR war wichtig und wurde in den verschiedenen Veranstaltungen immer mit politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen verknüpft, in der auch Olympiasieger gerne mal zu Wort kamen und diesen organisierten Sportveranstaltungen nach außen hin Glanz verleihen sollten. Die Sportveranstaltungen sollten zur Motivation der Menschen zu mehr sportlicher Betätigung dienen; die starke Verbindung der SED mit dem Alltagssport demonstrierte allerdings Walter Ulbricht in einer seiner berühmten Aussagen im Stadion des „Treffpunkt Olympia“ 1959: „Jedermann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport“. Diese Losung sei fortan als programmatische Orientierung für den Sportalltag der DDR betrachtet worden sein. [6]

    Das in der Bildmontage verwendete Bild trägt folgende (original) Bildunterschrift: Zentralbild Kohls Ks-Noa 2.5.1960 4. Volkssporttage auch in der Stalinallee. Wie überall in der DDR so finden auch in Berlin vom 30.4. – 8.5.1960 die 4. Volkssporttage statt. Kleinfeldhandball-Turniere, Fußballkurzspiele, Volleyball, Kegeln, Gymnastik und viele andere Disziplinen stehen dabei auf dem Programm für den „Sport für jedermann“. UBz: Große Sprünge machen hier Schulkinder am Strausberger Platz.

    Auf demBild ist die U-Bahnhaltestelle Berlin Hönow zu sehen

     

    Bildmontage; Originalbild: Sludge G / Linie U5 Endstation – Hönow U-Bahnhof, Berlin DDR Jan 1990 / CC BY-SA 2.0


    Bildansicht

     


    Reise
    Im Zuge zunehmender Wohnungsneubauten in Ostberlin sollte die U-Bahnlinie E (heute die U5) bis nach Hönow erweitert werden. Innerhalb von vier Jahren wurde die Linie zwischen 1985 und 1989 ausgebaut. Eine Fahrt vom Alex nach Hönow kostete 27 Pfennig und dauerte 37 Minuten. Heute ist die U5 immer noch die einzige U-Bahnlinie, die zwischen Alexanderplatz und Hönow und umgekehrt direkt verkehrt. [7] In Hönow angekommen stellte sich mir die Frage, ob und wie die Menschen außerhalb Ostberlins wohl verreist sein könnten.

    DDR-Bürger*innen konnten über den in die ČSSR, nach Polen, Ungarn, Bulgarien und die UdSSR reisen. Aufgrund der geringen Anzahl zur Verfügung stehender Plätze konnte allerdings nur ein Drittel der nachgefragten Reisen in diese Hauptreiseländer vermittelt werden[8] Anfangs beschränkten sich die Reisen eher auf Rumänien und Bulgarien, wo die Menschen auf eigener Faust versuchten, die Landschaften zu erkunden. Später kam ein gewisser organisierter „Tourismus“ hinzu, welcher zunächst staatlich subventionierte (aber auch dementsprechend kontrollierte) Gruppen- und Einzelreisen durch Vermittlung ermöglichte. In der DDR selbst boten sich viele Landschaften als Erholung an. Unter diesen Gebieten waren Küstengebiete, die Mittelgebirge sowie Wald-Seen-Gebiete. Am attraktivsten und das am meisten frequentierte Gebiet war die Ostseeküste.[9]

    Auf dem Bild unten sehen Sie die Endhaltestelle der U5 Linie „Hönow“.
    Schieben Sie den Regler, um sich das volle Bild des Bahnhofes komplett anzuschauen. Im zweiten Bild sehen Sie eine fast komplett leere U-Bahn. Hönow war der östlichste Punkt meiner kleinen Bilderreise. Die DDR endete oder begann hier natürlich nicht. Über die neuen Bundesländer in der DDR-Zeit wurde in diesem Beitrag wenig bis gar nicht gesprochen. Die zunehmende Leere in der U-Bahn vom Strausberger Platz Richtung Hönow verband ich neben dem Staunen, wie eine U-Bahn tatsächlich leer aussehen kann (!) mit dem zunehmenden Unwissen über die heutigen neuen Bundesländer und die Geschichte ihrer Menschen. Schauen Sie sich gerne die Beiträge meiner Kommiliton*innen an, die hierzu andere Geschichten erzählen.

    Das obige Bild trägt folgende Bildunterschrift:
    The terminus of the newly extended U-Bahn line into the mushrooming suburbs of north east Berlin. It was only opened in July 1989, and I had read about it in the turgid pages of Kraftverkehr, an odd transport magazine sold in Kiosks, full of equations juxtaposed with fuzzy pictures of antediluvian IFA S4000 trucks and Ikarus buses.
    This line is now known as the U5.

    [twentytwenty]
    Auf dem Bild ist die U-Bahnhaltestelle Berlin Hönow zu sehen

     

     

     Auf demBild ist eine leere Ubahn von innen zu sehen
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    [1] Bild/O-Ton/Text: https://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/einblicke-in-die-sammlungen-1059.html 

    [2] http://www.chronik-der-mauer.de/fluchten/
    http://www.chronik-der-mauer.de/todesopfer/
    https://www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/grenzsoldaten-456,462,2.html

    [3] Ribbe, Wolfgang (Hrsg.): Die Karl-Marx-Allee zwischen Straußberger Platz und Alex, mit Beträgen von Peter Brandt u.a., Berlin-Forschungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd.6, Berlin 2005, S. 5 f., 95 f..

    [4] Adam-Tkalec, Maritta: Stadtgeschichte. Als der Strausberger Platz 19 noch ein Paradies für Kinder war, in: Berliner Morgenpost, 09.01.17, URL:  https://bit.ly/2FnOjiq

    [5] mdr.de/damals/archiv/artikel75384.html#sprung0

    [6] Hinsching, Jochen (Hrsg.): Alltagssport in der DDR, Aachen 1998, S. 87-90.

    [7] Adam-Tkalec, Maritta: Berlin und das U-Bahn-Netzwerk. Wie die U5 in der DDR den Nordosten erschloss, in: Berliner Zeitung, 19.03.18, URL: https://bit.ly/2FN9mNk

    [8] Wolter, Heike: Reisen in der DDR, Erfurt 2011. S. 35

    [9] Wolter, Heike: „Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd“. Die Geschichte des Tourismus in der DDR. S. 124-128, 130.

     

    Bildrechte Beitragsbild: Ayse Kizilkulak

     

     

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    „Ich glaube immer noch daran“ http://was-ist-geblieben.de/ich-glaube-immer-noch-daran/ Mon, 04 Feb 2019 16:29:59 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=90 Oder: Wie mein westdeutscher Vater die DDR sah

    Eine Spurensuche anhand von Oral History Interviews mit meinem Vater Siegfried Nagel

    Ein Beitrag von Luise Fakler

    Über das Projekt

    Mein Vater hat mir schon immer sehr viel aus seinem Leben erzählt. Über seine Kindheit im Teutoburger Wald und die abenteuerlichen Reisen nach Schweden. Über seinen Großvater, den Künstler, der mit seiner Frau und sieben Kindern in der kleinen Hütte im Wald lebte, in die wir heute noch in den Urlaub fahren. Über Namibia, das Land, in dem er nach seiner Bäckerlehre fünf Jahre verbrachte und von dem er immer noch schwärmt. Als ich ihm Anfang des Semesters von unserem Workshop zum Thema „Was ist geblieben – 30 Jahre nach dem Ende der DDR“ erzählte, war er richtig begeistert. Er begann mir ein bisschen von einem Kapitel seines Lebens zu erzählen, das bis dahin ganz neu für mich war: von den 1970er Jahren in Westberlin, der Zeit, in der er am Berlin-Kolleg sein Abitur nachholte und sich viel in linken, sozialistischen Kreisen bewegte. Mit der Gruppe Aktionsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten (ADS) nahm er unter anderem an Delegationen in die damalige DDR teil, in deren Rahmen man den Teilnehmer*innen bestimmte Aspekte des Systems zeigte, um Unterstützer*innen für den sozialistischen Staat zu gewinnen. Ich habe meinen Vater immer als Linken erlebt, aber über seine Sympathien zur DDR bzw. über seine Politisierung und die Zeit als junger Mann in Berlin wusste ich bis dahin noch so gut wie gar nichts. Ein paar Wochen später kam mir die Idee, ihn näher zu seinen Erinnerungen aus dieser Zeit zu befragen und daraus meinen Beitrag zu unserer Website zu entwickeln.

    Diese Seite enthält verschiedene kurze Audio-Dateien mit Ausschnitten aus unseren Interviews, die man sich individuell anhören kann. Da mein Vater immer wieder betont hat, wie sehr seine frühen Lebensjahre und seine Zeit als junger Mann in Namibia ihn im Hinblick auf seine politische Einstellung geprägt haben, geht es im ersten Teil um diese frühen Jahre seines Lebens. Die anschließenden Ausschnitte behandeln die 1970er Jahre, die mein Vater in Westberlin verbrachte und in denen er sich politisch engagierte. Den größten Raum nehmen dabei die Erzählungen über die DDR-Delegationen ein, da es hier um das Kernthema des Projekts geht – die DDR und darum, wie mein Vater sie erlebt und gezeigt bekommen hat. Abschließend stehen zwei Audios, in denen für mich auch Antworten auf die Frage „Was ist geblieben?“ stecken.

    Hinweis: Sofern nicht anders angegeben, stammen die verwendeten Bilder aus dem Privatbesitz meines Vaters.

    Inhaltsverzeichnis

    Wo die Geschichte anfängt…
    Namibia in den 1960er Jahren
    Westberlin, Anfang der 1970er Jahre
    Delegationen in die DDR
    Was ist geblieben?
    Glossar

    Wo die Geschichte anfängt…

    Bei einer Tasse Tee für mich und einer Zigarette für ihn machten wir es uns in der Küche meines Vaters bequem, während ich begann, ihn näher zu seinem politischen Engagement und seinen Erlebnissen in Bezug auf die DDR zu befragen. Gleich zu Beginn unserer ersten Sitzung machte mein Vater deutlich, dass seine Beziehung zur DDR nur anhand seiner persönlichen Geschichte und der frühen sozialen und politischen Prägung durch seine Mitmenschen zu begreifen ist.

    Jungen in Pfadfinder-Uniform
    Mein Vater (ganz links) als Pfadfinder im Jahr 1959, die Organisation trennte sich später, die Gruppe trat dem Wandervogel bei

    Einfluss der Wandervögel auf die politische Einstellung

    Mein Vater als junger Mann liest in einem Buch
    Mein Vater im Alter von 17 Jahren, 1963

    Namibia in den 1960er Jahren

    Mein Vater blieb bei den Wandervögeln aktiv, auch als er nicht mehr zur Schule ging und stattdessen eine Bäckerlehre begann. Nachdem er seine Lehre abgeschlossen hatte, wanderte er 1965 auf Einladung seines dort lebenden Onkels nach Namibia – das damalige Südwestafrika – aus. Der Grund für seine Reise war vor allem die Abenteuerlust, wie er sagt. In Namibia arbeitete er sowohl als Bäcker, als auch als Kolonnenführer beim Bau einer Kanalisation für Ondongwa, die Hauptstadt des Ovambolandes.

    Erfahrungen mit der Apartheid

    Da Namibia damals unter südafrikanischer Verwaltung stand, galten dort die Gesetze der Apartheid, mit denen mein Vater konfrontiert wurde. Es war ein tief verwurzelter Rassismus, auf dem das Gesellschaftssystem basierte – auch wenn laut meinem Vater nicht alle hinter diesem System standen.

    Wusstest du vorher, was Apartheid bedeutet?

    Namibier*innen in der DDR

    Überrascht war ich, als mir mein Vater erzählte, dass einige Menschen, die aus Namibia stammten, in der DDR ausgebildet wurden.

    1967 heiratete mein Vater und bekam im Jahr darauf einen Sohn. 1970 ließ er sich scheiden. Ein Jahr später fuhr er mit seiner neuen Partnerin ein Jahr lang durch Afrika und kehrte anschließend mit ihr nach Deutschland zurück.

    Mein Vater mit seiner damaligen Partnerin
    Mein Vater mit seiner Partnerin Christine in Namibia, damals Südwestafrika

    Westberlin, Anfang der 1970er Jahre

    Nachdem er sechs Jahre in Afrika verbracht hatte, kam mein Vater mit seiner damaligen Partnerin Christine 1972 nach Westberlin. Er arbeitete zunächst als Postbote bei der Bundespost.

    Wie war es in den 70er Jahren in Westberlin?

    Die 70er Jahre in Westberlin erlebte mein Vater als geprägt durch die Ostpolitik der Regierung Willy Brandts (SPD) und die vorausgegangenen Studierendenproteste der 68er-Generation. Viele seiner Freund*innen engagierten sich damals in politischen Gruppierungen wie der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) oder Studierendengruppen wie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).

    Abitur am Berlin-Kolleg

    Unter dem Einfluss seiner linken Freund*innen begann mein Vater, sein Abitur am Berlin-Kolleg nachzuholen. Dort trafen sich die Schüler*innen unter anderem in Arbeitskreisen, in denen sie sich intensiv mit den Karl-Marx-Bänden auseinandersetzten. Außerdem wirkte mein Vater bei der Herausgabe einer Zeitung mit.

    Widmung für meinen Vater im Buch "Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution"
    Widmung im Buch „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, das mein Vater von den Verwandten seiner Freundin Christine 1975 zum Geburtstag bekam

    Karl-Marx-Arbeitskreise

    Schüler*innenzeitung

    Delegationen in die DDR

    Mein Vater (Mitte, mit Hut) mit weiteren Leuten auf einer Delegation bei Halle
    Mein Vater (Mitte, mit Hut) auf einer Delegation bei Halle, 1974

    Besonders interessierte mich, mehr über die Delegationen in die damalige DDR zu erfahren, an denen mein Vater teilnahm. Schließlich besuchte er in diesem Rahmen nicht nur ein anderes Land, sondern setzte sich dezidiert mit dem politischen System dieses Staates auseinander. Da ich die DDR und die deutsche Teilung nie selbst erlebt, sondern nur medial vermittelt bekommen habe, war ich neugierig, wie er – zumal als westdeutscher Besucher – sich an seine Erfahrungen in der DDR erinnert.

    Auch wenn unsere Gespräche lang und ermüdend waren, fand mein Vater doch immer wieder Gefallen daran, weiter zu erzählen.

    An wie vielen Delegationen hast du teilgenommen?

    Wie muss man sich so eine Delegation vorstellen?

    Von der Friedrichstraße aus fuhren die Delegationen mit einem Bus über Ostberlin in verschiedene Städte in der DDR, wo ihnen z.B. Universitäten oder Wohnungsbauprojekte gezeigt wurden und sie oft sehr komfortabel untergebracht waren. Neben Diskussionen über die gezeigten Aspekte des Systems, wurde den Delegierten außerdem ein Kulturprogramm angeboten.

    Schwarz-Weiß-Panorama von Halle-Neustadt im Jahr 1969
    Wohnungsbau in Halle-Neustadt, 1969
    Bundesarchiv, Bild 183-H0909-0009-001-T1 / Siegfried Voigt / 09.09.1969
    CC BY-SA 3.0

    Freizeit- und Kulturprogramm

    Wie wart ihr untergebracht?

    Interhotel Panorama vor blauem Himmel
    Interhotel „Panorama“ in Oberhof, 1977
    DDR-Postkarten-Museum; Fotograf: Burghard (Auslese-Bild-Verlag)

    Wie hat man euch die DDR gezeigt?

    Die Delegationen beeindruckten meinen Vater stark und in vielen Aspekten auf positive Weise. Gleichzeitig war er sich der einseitigen Präsentation und den Schwächen des Systems sowie der Unzufriedenheit vieler DDR-Bürger*innen bewusst.

    Was ist geblieben?

    In Orientierung am übergeordneten Titel unseres Website-Projekts habe ich in den folgenden Ausschnitten Antworten auf die Frage „Was ist geblieben?“ gefunden.

    Die auf dieser Seite präsentierten Ausschnitte aus unseren Gesprächen zeigen, dass die Sympathie meines Vater für die DDR ganz wesentlich auf politisch linken, sozialistischen Überzeugungen beruhte. Auch wenn die DDR nicht mehr existiert und diese für meinen Vater ohnehin nicht umgesetzt hatte, so scheinen ihm diese Überzeugungen doch geblieben zu sein. Was für mich persönlich bleibt, sind vor allem die neuen Eindrücke durch die Gespräche, die sowohl mein Bild von meinem Vater, als auch meine Vorstellungen von der DDR und der Geschichte der deutschen Teilung verändert und erweitert haben. Seine Kindheit und der Lebensabschnitt in Namibia, worüber ich vorher schon viel gehört hatte, kamen für mich nun in einen größeren Zusammenhang mit seiner politischen Einstellung und Aktivität. Aus den Erzählungen von seiner Zeit als junger Mann in Berlin und den Delegationen, an denen er teilgenommen hat, höre ich einerseits heraus, wie ernst er die politische Idee und die Ideale des Sozialismus genommen hat und wie bewusst es ihm andererseits war, dass es der DDR nicht gelang, diese Ideale zu verwirklichen.

    Natürlich macht dieses Projekt nur einen kleinen Ausschnitt der Interviews sichtbar, die ich mit meinem Vater für dieses Projekt geführt habe. Seine Geschichten waren voller weiterer spannender Anekdoten und „längerer Betrachtungen der Weltgeschichte“, denen man seine Lust am Erzählen anhört. Ich habe gespürt, dass es für meinen Vater eine große Freude und eine Ehre war, mit seinen Geschichten auf mein Interesse zu stoßen. Meine Auseinandersetzung mit seiner Geschichte und seinen politischen Idealen scheint ihn sehr berührt und bewegt zu haben: Zu meinem Geburtstag schenkte er mir das Buch „Illustrierte Geschichte der deutschen Revolution“, das er damals von seinen Freund*innen geschenkt bekommen hatte.

    Mein Vater und ich im Sommer 2015
    Mein Vater und ich im Sommer 2015

    Glossar

    Wandervogel:

    im 19. Jahrhundert gegründete Jugendbewegung, durch Naturverbundenheit und Ideale der Romantik geprägt.

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    Namibia (ehemals Südwestafrika):

    1884-1920 deutsche Kolonie Südwestafrika, ab 1920 unter südafrikanischer Verwaltung, seit 1990 unabhängige demokratische Republik unter dem Namen Namibia.

    Auch wenn es in diesem Projekt um die Zeit vor 1990 geht, verwende ich hier den Namen Namibia.

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    Ovamboland:

    Gebiet, in dem die Ovambos – die größte Bevölkerungsgruppe Namibias bzw. Südwestafrikas – lebten und leben. 1968 bis 1990 durch die südafrikanische Regierung als Homeland institutionalisiert. Der Begriff stammt aus der deutschen Kolonialzeit.

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    Apartheid

    Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte Rassentrennung zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarben in Südafrika und somit auch im von Südafrika verwalteten Namibia (damals Südwestafrika). In Namibia endete die Apartheid (zumindest offiziell) mit der Unabhängigkeit 1990, in Südafrika dagegen erst 1994.

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    Kraal

    traditionelle Siedlungsform v.a. im südlichen Afrika; kreisförmige Siedlung mit einer streng geregelten sozialen Struktur

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    68er / Studierendenproteste in den 1960er Jahren


    politisch linke, gesellschaftskritische Bewegung in den späten 1960er Jahren. Ihre Proteste richteten sich unter anderem gegen den Autoritarismus ihrer Elterngeneration, ehemalige Nationalsozialist*innen in hohen staatlichen Ämtern und den Krieg in Vietnam. Die Studierenden forderten mehr politische Mitbestimmung, Gleichberechtigung von Frauen* und Männern* und die Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen.

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    Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW)

    kommunistische Partei in Westberlin, die von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR angeleitet und finanziert wurde. Ihre Wahlergebnisse bei Berliner Abgeordnetenhauswahlen lagen Anfang der 70er Jahre bei ca. 2 %.
    Eine mit SEW-Hochschulgruppen kooperierende, jedoch eigenständige linke Hochschulorganisation bildete die Aktionsgemeinschaft der Demokraten und Sozialisten.

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    Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)

    1946 als Hochschulverband der SPD gegründeter Studierendenbund, wurde 1961 aus der Partei ausgeschlossen und bildete bis zu seiner Auflösung 1970 die einzige parteiunabhängige sozialistische Hochschulorganisation in Deutschland.

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    Halle-Neustadt

    seit 1964 als eines der größten DDR-Bauprojekte errichtete sozialistische Modellstadt und heute Stadtteil der Stadt Halle (Saale). Die neu entstandenen Plattenbauten waren vor allem für die Unterbringung von Arbeitskräften in der DDR-Chemieindustrie vorgesehen.

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    Technische Universität Ilmenau

    Ende des 19. Jahrhunderts als Ingenieurschule Ilmenau gegründete Hochschule. In der DDR war sie als Hochschule für Elektrotechnik (seit 1953) und Technische Hochschule (seit 1963) für die Ausbildung von Diplom-Ingenieur*innen bedeutsam und genoss auch international hohe Anerkennung. Seit 1992 ist sie Technische Universität, die zahlreiche Bachelor- und Masterstudiengänge anbietet.

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    Zwischen Mauer und Trabi – Gedanken von Nachwendekindern zur DDR http://was-ist-geblieben.de/zwischen-mauer-und-trabi/ Mon, 04 Feb 2019 11:59:35 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=84 Ein Beitrag von Julia Baumann und Josephine Kuban

    Die DDR als Zeit, die wir nie erlebt haben und uns trotzdem prägte?

    An einem frühen Herbsttag sollten wir im Rahmen eines Seminars in kurzen Texten beschreiben, was für uns Nachwendekinder von der DDR geblieben ist. Da allerdings solch eine Frage uns Studierenden in unserem bisherigen Leben noch nie gestellt worden ist, waren die meisten von uns etwas verunsichert: „Wie sollten wir diese Frage beantworten können, wenn wir die DDR nicht einmal selbst miterlebt haben?“ Trotz dieser Zweifel gaben sich alle Beteiligten viel Mühe bei ihren Antworten und waren auch letztendlich überrascht, was für persönliche und sehr spannende Geschichten entstanden sind. Hat etwa die ehemalige DDR auf unser heutiges Alltagsleben doch mehr Einfluss, als wir gedacht haben?

    Aus dieser Situation heraus ist unsere Projektidee entsprungen. Wir unterhielten uns über unsere Familien und wie diese ihre ganz eigenen Erfahrungen in Ost- und Westberlin gemacht haben, obwohl sie in der gleichen Stadt leben. Nach diesem Gespräch vertraten wir zudem die Ansicht, dass unsere Eltern und Großeltern – trotz der Wiedervereinigung von Deutschland vor unserer Geburt – uns stark zu „Wessis“ und „Ossis“ erzogen haben. Denn unsere Vorstellungen zur früheren DDR sind eng mit den Erinnerungen, Vorurteilen und Gedanken unserer Familien verbunden. Hierdurch stellten wir uns dann folgende Frage: „Was verbinden wir Nachwendekinder auf Anhieb mit der DDR?“

    Da wir viele Personen zu dieser Angelegenheit befragen wollten und es zu aufwendig erschien, von jeder einzelnen Person einen Text zur DDR zu verlangen, haben wir eine Umfrage gemacht. Unsere gleichaltrigen Freund*innen und Kommiliton*innen mussten hierbei drei Begriffe angeben, die sie heute mit der DDR verbinden. Aus den Antworten haben wir dann Wortwolken erarbeitet, in denen wir die Zusammenhänge der Begriffe untereinander untersucht haben. Da wir keine ausgebildeten Soziologinnen sind und uns das Forschungsfeld der Generationenforschung noch sehr neu ist, können wir natürlich keinen wissenschaftlichen Stand über die Nachwendekinder erbringen. Wir möchten stattdessen unsere Erfahrungen, Fragen und Eindrücke schildern, die wir während des Projektes mit den Befragten gesammelt haben. Außerdem haben wir versucht, aus unserer Perspektive zu erklären, weshalb manche Wörter wie Mauer, Stasi und Trabi von unserer Generation häufig mit der DDR verknüpft werden. Aber beginnen wir doch erstmal bei den Anfängen unseres Projektes.


    INHALT

    Die ersten Reaktionen der Nachwendekinder Seite 2
    Unsere Generation als Forschungsobjekt – geht das überhaupt? Seite 3
    Das Gebliebene – ein Interpretationsversuch Seite 4
    Ein Blick auf die DDR in unseren Gedanken Seite 5
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    Und wenn nichts bleibt? http://was-ist-geblieben.de/und-wenn-nichts-bleibt/ Mon, 04 Feb 2019 11:57:02 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=82 Drei Potsdamer*innen erinnern sich an die Fachhochschule

    Ein Beitrag von Jakob Eichhorn

    Über das Projekt

    Wenn man mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof in die Stadtmitte Potsdams fährt, macht die Bahn zunächst einen Bogen um das neue, alte Stadtschloss, in dem sich seit seiner Rekonstruktion der Brandenburger Landtag befindet, um dann am Alten Markt zu halten. Von hier blickte man bis zum Sommer 2018 auf ein Ensemble, das es so heute nicht mehr gibt: Neben der barocken Fassade des Schlosses und der grünen Kuppel der Nikolaikirche stach die gelbe, kontrastierende 70er Jahre-Fassade des Fachhochschulgebäudes hervor.

    Alter Markt mit Fortunaportal, Fachhhochschule, Obelisk und Nikolaikirche (v.l.n.r.), Florian S., CC-BY-SA 3.0 DE

    Der Bau, welcher zu DDR-Zeiten das „Institut für Lehrerbildung“ (IfL) und nach der Wende die Fachhochschule (FH) beherbergte, prägte in den 41 Jahren seines Bestehens die Gestalt des Potsdamer Zentrums.
    Spätestens mit der Rekonstruktion des Stadtschlosses entwickelte sich das Gebäude für einige Potsdamer*innen zu einem Makel. Doch während die Einen in ihm einen architektonischen „Schandfleck“ sahen, traten Andere für seinen Erhalt ein. Neben dem Verlust eines öffentlichen Gebäudes in der Stadtmitte stand der Abriss für viele auch stellvertretend für eine seit den 90er Jahren praktizierte Potsdamer Baupolitik, der schon ein großer Teil der ostmodernen Architektur in der Stadtmitte zum Opfer gefallen war. Besonders ob des Faktes, dass an deren Stelle die Architektur des preußischen Potsdams rekonstruiert wurde, schlussfolgerte manch eine*r, man wolle das architektonische Erbe der DDR aus Potsdams Mitte tilgen.

    Doch letztlich hatte aller Protest keinen Erfolg. Ab 2017 rollten die Bagger und ein Jahr später stand das Gebäude nicht mehr. Heute klafft dort eine Lücke, die bald mit neuen Häusern in historisierender Gestalt gefüllt werden soll. 

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    Abbildung 1: Institut für Lehrerbildung/Fachhochschule Potsdam, Willo Göpel, CC-BY-SA 3.0 DE
    Abbildung 2: Planungsstand der Bebauung, Januar 2017, Copyright: PWG 1956 eG

    Zeit zu fragen, welche Rolle das Gebäude für Potsdamer*innen vor, während und nach dem Abriss spielte. 

    Dazu habe ich Katrin, Ernst und Emil interviewt. Während Katrin zu DDR-Zeiten am IfL studierte, spielte das Gebäude für Ernst, der in Westdeutschland aufwuchs und 1992 nach Potsdam kam, in seinem Alltag nur eine nebensächliche Rolle. Emil ist nach 1989 geboren und erlebte als Student der FH die letzten Jahre des Gebäudes.

    Drei Potsdamer*innen erinnern sich
    Katrin, Geboren 1970 in Magdeburg, Potsdamerin seit 1973
    Ernst, Geboren 1959 in Überlingen, Potsdamer seit 1992
    Emil, Geboren 1995 in Berlin, Potsdamer seit 2000

    Wir sprachen über das Gebäude, ihre persönlichen Bezugspunkte und über den Abriss: Wie nehmen sie die Potsdamer Stadtpolitik wahr, welche Rolle spielte für sie, dass das Gebäude aus der DDR stammte und wie soll mit solchen Gebäuden verfahren werden?
    Die Drei nehmen unterschiedliche Perspektiven auf das Gebäude ein. Ihre teilweise kontrastierenden, teilweise erstaunlich ähnlichen Ansichten wurden nach Themen zusammengeschnitten.

    Potsdamer Stadtentwicklung in der DDR

    Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war der Stadtkern Potsdams zu großen Teilen zerstört oder zumindest beschädigt.
    In der neu gegründeten DDR stand man nach Abtragen des Kriegsschutts nun also vor der Frage, wie städtebaulich mit der Situation umgegangen werden sollte.
    Die barocke Garnisonsstadt war als Zentrum des preußischen Militarismus symbolisch aufgeladen. Nun sollte Potsdam eine neue Rolle als moderne, sozialistische Stadt spielen. Seine bauliche Geschichte sollte dabei jedoch nicht gänzlich verleugnet werden.

    Fachhochschule Potsdam mit Statue am Obelisken auf dem Alten Markt, Zugvogel, CC-BY-SA 3.0

    Die Umsetzung dieser Linien äußerte sich baupolitisch durch den Abriss einiger Gebäude, wie dem Stadtschloss am Alten Markt. Am gleichen Ort entschied man sich jedoch auch für die Rekonstruktion von markanten Gebäuden wie der Nikolaikirche und dem Alten Rathaus.
    Das Leitbild einer modernen Stadt wurde besonders durch die Errichtung von Neubauten im Stadtzentrum verfolgt. Nach dem Abriss des Stadtschlosses (1960) entstand in den 70er Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft zu den historischen Fassaden des Alten Marktes ein Gebäudekomplex aus Bibliothek und Bildungszentrum.

    Das Institut für Lehrerbildung/
    Die Fachhochschule Potsdam

    Ein Jahr nach Baubeginn der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek begannen auch die Arbeiten am baulich anschließenden IfL mit dem Beinamen „Rosa Luxemburg“. Trotz der modernen Architektur des Dreigeschossers, die sich bewusst abwechslungsreich von den historischen Fassaden abheben sollte, war man bemüht, durch gestalterische Reminiszenzen an die barocken Gebäude Potsdams ein stimmiges Ensemble zu erzeugen.
    Besonders eine das Gebäude umfassende Kolonnade und vorgebaute Stahlbetonlamellen, die die Fassade des Gebäudes unterteilten, sowie sternförmige Verbindungselemente prägten die Erscheinung des Institutsgebäudes. Mit Gelb war es zudem in einer Farbe gestrichen, die sich in Potsdam auch an anderer prominenter Stelle, beispielsweise dem Schloss Sanssouci, wiederfindet.

    Ab seiner Eröffnung 1977 wurden im IfL vor allem Unterstufenlehrer*innen ausgebildet. Dafür wurde kein Abitur benötigt. 
    Die Wende bedeutete auch das Aus für das IfL. Stattdessen zog 1991 die FH Potsdam ein. 

    Erste Berührungspunkte mit dem Gebäude
    „Ich habe mich häufig verirrt, gerade in den Anfängen…“
    Fachhochschule Potsdam, Sebastian Ziebell, CC BY-NC-SA 2.0
    Das Gebäude und seine Umgebung
    „Natürlich war das ein Kontrast, aber ich fand das jetzt nicht störend“
    Als Student*in am IfL/der FH
    „Man war plötzlich noch mehr auf der Suche. Wie kann mein Leben jetzt weitergehen?“

    Die Neugestaltung des Alten Marktes

    Mit der Wende änderte sich auch die Potsdamer Baupolitik. Neue Leitlinie war die „behutsame Wiederannäherung an das charakteristische, gewachsene historische Stadtbild“. Der Abriss des Rohbaus des Hans-Otto-Theaters, welches ab 1988 am Alten Markt entstehen sollte, war eine erste Konsequenz.
    In den Folgejahren drehten sich Planung und einhergehende Debatten um die Stadtmitte besonders um den Wiederaufbau des Stadtschlosses, in welches 2014 der Brandenburger Landtag zog.
    Doch es taten sich auch neue Konfliktfelder auf. Besonders das angrenzende Gebäude der FH stand – nach weiteren Abrissen von Teilen des 70er Jahre-Ensembles und mit seiner seit Jahrzehnten nicht gepflegten Fassade – nun in deutlichem Kontrast zu den barocken Fassaden der anderen Gebäude am Alten Markt.
    Nach Beschlüssen der Stadtverordnetenversammlung konkretisierten sich die Pläne, auch diesen Bereich durch einen Abriss der FH und einen anschließenden Neubau von Gebäuden mit barocken Fassaden dem preußischen Stadtbild wieder anzupassen.
    Widerstand der Potsdamer*innen äußerte sich in Form eines letztlich abgelehnten Bürgerbegehrens der Initiative „Potsdamer Mitte neu denken“ und einer Besetzung des Gebäudes im Juli 2017. 

    Alter Markt, Abriss der Fachhochschule, Sol Octobris, CC-BY-SA 4.0

    Der beschlossene Abriss konnte nicht verhindert werden. Die letzten Fakultäten der FH zogen in den neuen Campus im Norden Potsdams um und die Entkernung des Gebäudes begann. Ab Mai 2018 wurde die Fassade abgetragen. Parallel dazu liefen die Vergabeverfahren für die Bebauung der frei werdenden Grundstücke. Ein Großteil soll nun von Genossenschaften, hauptsächlich mit Wohnflächen, bebaut werden.

    Abriss und Stadtpolitik
    „Das FH-Gebäude kann man nicht trennen von seiner Nutzung“
    Abriss der Fachhochschule, im Hintergund der Alte Markt, Sol Octobris, CC-BY-SA 4.0

    Potsdam im Streit um sein architektonisches Erbe

    Architektur und Geschichte
    „Sind Gebäude Zeugnisse des Systems oder Zeugnisse des Zeitgeistes?“

    Der Fall der FH steht nur stellvertretend für mehrere historische Gebäude, um die in Potsdam Debatten geführt werden. Häufig geht es dabei um einen Abriss von Architektur aus DDR-Zeiten, wie den Staudenhof und das Hotel Mercure im Stadtzentrum sowie das Terrassenlokal Minsk in der Nähe des Hauptbahnhofs. Während Letztere wohl bestehen bleiben, sieht es für einen Erhalt des Staudenhofs ab 2022 schlecht aus. Doch nicht nur Abrisse spalten die Potsdamer*innen, auch der Wiederaufbau der Garnisonkirche, Ort des  inszenierten Schulterschlusses Hitlers und Hindenburgs am „Tag von Potsdam“, sorgt für Konflikte. Auch, weil ein vollständiger Wiederaufbau zwangsläufig den Abriss des angrenzenden Rechenzentrums, dessen Räumlichkeiten zur Zeit von Potsdamer Künstler*innen genutzt werden, bedingen würde.

    Fachhochschule Potsdam, Andreas Levers, CC BY-NC-SA 2.0

    Der Streit um den richtigen Umgang mit der architektonischen Geschichte Potsdams ist also längst nicht beigelegt. 

    Auch wenn sich die Potsdamer Architekturdebatten häufig um die Vergangenheit einzelner Gebäude drehen: Die Interviews mit Katrin, Ernst und Emil haben letztlich gezeigt, dass nicht der Verlust eines Gebäudes aus der DDR im Zentrum ihrer Kritik steht, sondern vor allem, dass öffentlicher Raum aus der Stadtmitte verschwindet.
    Die individuelle Nutzungsgeschichte scheint ihre Wahrnehmung des Gebäudes also weitaus mehr zu prägen, als seine historische Bedeutung.


    Literatur

    Carsten Dippel, „Wir schaffen einen neuen Geist“. Sozialistische Baupolitik in Potsdam, in: Potsdamer Bulletin für zeithistorische Studien NR. 30-31/2004, S. 23-34, https://zzf-potsdam.de/sites/default/files/publikation/Bulletin/dippel_30.pdf (zuletzt abgerufen 07.03.2019).

    Christian Klusemann, Das andere Potsdam. DDR Architekturführer. 26 Bauten und Ensembles aus den Jahren 1949-1990, Berlin 2016.

    Martin Sabrow, Die Garnisonkirche in der deutschen Geschichtskultur, in: Michael Epkenhans, Carmen Winkel (Hrsgg.), Die Garnisonkirche Potsdam. Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg/Berlin/Wien, 2013, S. 133-160.

    Links

    Offizielle Informationen zum Sanierungsgebiet: http://www.potsdamermitte.de/index.php?id=aktuell

    Internetauftritt der Initiative „Potsdamer Mitte neu denken“: https://www.potsdamermitteneudenken.de/

    Vielen Dank an:
    Katrin, Ernst und Emil für die Interviews
    Milan Rottinger für das Mastering: https://milanpeals.com/

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    Wer sagt, was bleibt? Ansichten zweier Geschichtslehrer http://was-ist-geblieben.de/wer-sagt-was-bleibt/ Sun, 03 Feb 2019 11:36:26 +0000 http://was-ist-geblieben.de/?p=66 Ein Beitrag von Lena Herenz

    Das Projekt

    Ich bin in Brandenburg zu einer Zeit geboren, die Sozial- und Kulturwissenschaftler heute als „postsozialistisch“ einordnen. Ob dies meinen Blick auf die Welt und die Vergangenheit geprägt hat? Eher nicht – das dachte ich zumindest, bis ich zum ersten Mal gefragt wurde, wie es denn war, so kurz nach der Wende im Osten aufzuwachsen und gewissermaßen Teil einer „Ersten Generation West“ zu sein. Von daher waren die Fragen, die mir bei der ersten Ideenfindung für dieses Projekt im Kopf herumspukten, eigentlich nicht neu: Wer hat mich und diese „Generation“ geprägt? Ist vielleicht auch in mir etwas von der DDR geblieben? Und, was macht meine eigene Vergangenheit eigentlich mit meinem Denken über Geschichte?

    „Ist vielleicht auch in mir etwas von der DDR geblieben?“

    Um den Antworten auf diese Frage etwas näher zu kommen, sprach ich mit den ersten Historikern, die mir in meinem Leben begegnet waren: meinen Geschichtslehrern – einer aus dem Osten, einer aus dem Westen. Sie unterrichteten mich in der Mittel- und Oberstufe, die Zeit, in der ich begann, mich für die Geschichte zu begeistern. Wieder Kontakt zu früheren Lehrern aufzunehmen, fühlte sich zunächst merkwürdig an. Mit ihnen auf Augenhöhe über ein gemeinsames Interesse – die Geschichte – zu sprechen, hingegen nicht. Sie erzählten mir von den Veränderungen, die das Jahr 1989 in ihr Leben und in ihren Unterricht brachte, und wie es sich eigentlich anfühlt, selbst Teil der Geschichte gewesen zu sein, die man Schüler*innen näherbringen möchte. Herausgekommen sind zwei Gespräche mit Lehrern, die sich in der Veränderung fanden und hier auch ein bisschen von ihrer persönlichen Geschichte preisgeben. So lernte ich nicht nur zwei Perspektiven auf eine von ihnen gemeinsam erlebte Zeit des Umbruchs kennen, sondern auch ein bisschen über mich.

    Die Gesprächspartner

    Foto von einem Mann mit Stadt im Hintergrund
    Hanswalter Werner, Foto: Privat.

    geboren 1947 in Bitburg, aufgewachsen in der Eifel-Region | 1968 Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung | 1968-74 Studium Geschichte und Englisch auf Lehramt in Mainz | 1975-76 Referendariat, anschließend Beginn der Lehrtätigkeit in Bonn | Weiterbildung und Qualifizierung zum Schulleiter | 1990 Eintritt in die SPD | ab 1993 Schulleitung am „von Saldern-Gymnasium“ in Brandenburg an der Havel, Unterricht in den Fächern Geschichte, Politische Bildung und Englisch | 1993-98 Stadtverordneter | 2010 Renteneintritt | verheiratet, 1 Kind

    Mann sitzt auf einer Bank, Nahaufnahme.
    Matthias Richter, Foto: Privat.

    geboren 1955 in Potsdam, aufgewachsen in Rathenow |1975-79 Studium Deutsch und Geschichte auf Lehramt in Potsdam | 1979 Beginn der Lehrtätigkeit in Schwedt | 1981 Eintritt in die SED, ab 1983 Parteisekretär | 1985-90 weniger Unterricht durch Invalidenrente | 1987 Versetzung nach Brandenburg an der Havel | 1990 Austritt aus SED, Wiederaufnahme der vollen Lehrtätigkeit, Unterricht am späteren „von Saldern-Gymnasium“ in den Fächern Deutsch, Geschichte, Darstellendes Spiel und Recht | 1991-96 Mitgliedschaft bei der SPD | 1992-2005 Fachberater für Lehrer*innen in Nord- und Westbrandenburg | 2019  Renteneintritt | verheiratet, 2 Kinder

    Die Gespräche

    Wie alles anfing: Vom politischen Engagement zur Geschichte

    Nach der Schule haben Sie den Wehrdienst angetreten, aber nach den Ereignissen des Prager Frühlings traten Sie aus der Bundeswehr aus und waren somit Kriegsdienstverweigerer. War das auch der Moment, in dem ein politisches Bewusstsein bei Ihnen eingesetzt hat? 

    Das politische Bewusstsein setzte schon früher ein. Das war so die Phase von 13 bis 14. Mein Vater war SPD-Mitglied, auch im Kreisausschuss, also sehr aktiv in der SPD. Dann später, also zu Beginn des Studiums, habe ich mich in die Richtung des SDS bewegt. Ich war immer eigentlich politisch aktiv, aber eingetreten in die SPD bin ich erst 1990. Und zwar bekam ich da eine Postsendung, also Wahlwerbung, von der NPD und das fand ich unverschämt, dass die Post so etwas in alle Haushalte transportiert. Da habe ich versucht, jemand Verantwortlichen zu finden und da merkte ich, dass man in dieser modernen Gesellschaft, in der wir leben, als Einzelner ein Nichts ist. Man kann nichts bewirken, sondern muss sich in Organisationen zusammenschließen. Und so bin ich in die SPD eingetreten und seitdem bin ich da aktiv und überlege jetzt, ob ich nicht wieder kandidieren soll. Ich habe so eine große Sorge, dass, wenn die Demokraten sich nicht zeigen, unser Gemeinwesen Schaden nimmt. 

    Im Studium haben Sie sich dann für die Fächer Geschichte und Englisch entschieden. Was hat Sie denn an der Geschichte interessiert, auch im Studium?

    Das kam sicher von der römischen Geschichte. Ich war auch in der Schule ganz gut in dem Fach, aber wir hatten leider in der Oberstufe gar keinen Geschichtsunterricht. Das war bitter für mich, vor allem in den ersten zwei, drei Semestern. Ich glaube, mein Professor schrieb sogar an die Eltern der Studierenden, dass sie es sich doch mit dem Studium nochmal überlegen sollten, ob es das richtige Fach sei – das war in meinem Fall auch so. (lacht) […] Das Interesse war bei mir schon immer da und dann kamen ja auch so, als ich etwa 12,13,14 war, die Kenntnisse über den Holocaust. Da gab es plötzlich Filme im Fernsehen. Als Kind hatte ich das nicht wahrgenommen, dass das überhaupt eine Rolle spielte. Aber dann so in meiner Pubertät, da ist man ja auch plötzlich wacher. Das ist auch ein Thema, das mich immer wieder beschäftigt hat: Wie kann so etwas in Deutschland passieren? Bis heute auch. Vielleicht liegt das ja auch in den Genen, das Interesse an der Geschichte war immer da.

    Sie sind in einem eher kritischen Umfeld aufgewachsen und wollten trotzdem bereits als Schüler in die SED eintreten. Wie kam es dazu?

    Da kommt unsere EOS-Klasse zum Tragen. Wir waren da eine Reihe von sehr interessierten Schülern und mit unseren Diskussionen auch im Staatsbürgerkunde-Unterricht – wir hatten da einen sehr offenen, sehr guten Lehrer – und da reifte eben irgendwo die Einsicht, dass man nur ändern kann, wenn man dabei ist. Also von außen meckern oder Unzulänglichkeiten feststellen, das kann man alles tun, aber … wen interessiert’s?! Wir gingen eben davon aus: Eintreten und dann versuchen, unsere Vorstellungen da miteinzubringen, umzusetzen und zu verändern. Der Punkt war schon immer dabei: Verändern zu wollen.

    Was konkret wollten Sie da verändern?

    Die Offenheit, die Buntheit, die Farbigkeit im Land, die … tja, heute würde man sagen: die Demokratisierung, Meinungsäußerungen anbringen zu können, dahin wollten wir schon.

    Warum haben Sie sich dann für Geschichte als Studienfach entschieden?

    Weil meine Wunsch-Studienfächer nicht möglich waren und dann zur EOS-Zeit geguckt wurde, wo kommt man mit einiger Sicherheit unter und wo ist vielleicht noch ein bisschen Interesse. Dann hab ich eben angefangen, Deutsch und Geschichte auf Lehramt zu studieren. Interessiert hat mich dann besonders die Geschichte. Besonders die Zwischentöne in den Vorlesungen, die Möglichkeiten, tiefer einzutauchen und an Literatur zu kommen, die sonst nicht zugänglich war in der DDR. Eben die Zusammenhänge, der Überblick, die Möglichkeit, dann bestimmte Sachen auch weiterzugeben. 

    Unterrichten vor 1990: Zwei Lehrer in zwei deutschen Staaten

    Wie sah die Lehrtätigkeit vor 1990 aus? Was waren die Unterschiede zu dem Unterricht, den ich kenne?

    Die Unterschiede waren gar nicht so groß. Das Referendariat ging 1,5 Jahre; man hatte Fachseminare und Hauptseminare. Und damals wie heute war es eben wichtig, dass die Schüler selber zu ihren Ergebnissen finden sollten. Aber heute ist diese Moderatorentätigkeit des Lehrers noch stärker. Die Selbstständigkeit der Schüler hat sich sehr stark gesteigert, wird auch stärker gefordert, wird aber nicht immer gemacht. Es gibt noch immer den Frontalunterricht, der auch seine Berechtigung hat, aber dann nur in kurzen Episoden im Unterricht, nicht eine ganze Stunde. Dass der Lehrer spricht und die Schüler hören zu und schreiben mit, das ist ja nicht der Unterricht, den die Schule eben bieten soll. Ich glaube, die Selbstständigkeit der Schüler, die ist sehr viel stärker geworden. Damals war es eher so, dass der Lehrer stärker steuernd war. 

    Warum haben Sie sich denn für den Lehrer*innenberuf entschieden?

    Es gab keine andere Möglichkeit. Ich bekam ja Bafög und das lief dann aus. Da musste ich ja irgendwie sehen, wie ich Geld verdiene, um mich zu ernähren und dann habe ich das Referendariat angefangen. Aber wie es in der Schule so wirklich zuging, das konnte ich mir nicht vorstellen. Es gab ein Praktikum, da hab‘ ich dann zugeschaut und es hat mich erstmal nicht abgeschreckt. Das fand ich ganz okay und dachte: „Da kommst du schon zurecht!“ Aber dann das Referendariat war wirklich sehr, sehr hart. Die erste Stunde habe ich, glaube ich, eine Woche lang vorbereitet. Also, das Unterrichten war mir nicht so in die Wiege gelegt und das ist ein ganz harter Job. Das hatte ich nicht so gedacht, dass es manchmal so schwierig sein könnte.

    Die Unterschiede zu heute … es fängt eben im Prinzip im ganzen Bildungssystem an. Dass dieses Bildungssystem für den Sozialismus und für dieses Gesellschaftssystem strukturiert war. Wie man heute sagt: „Vom Kindergarten bis zum Studium“. Man hatte also immer einen Zusammenhang, einen Überblick und eine Ausrichtung, und die Ausrichtung war natürlich für diese Gesellschaft, denn diese Gesellschaft sollte ja entwickelt und erhalten werden. Und so wurde gebildet. Man wusste von allem die Zusammenhänge, die vorgegeben waren, und von diesen Zusammenhängen aus konnte man eben das Leben, die Geschichte und die Welt einordnen. […] Da war von Rostock bis Suhl alles gleich. Man hatte für den Unterricht Unterrichtshilfen, mit denen sehr viel gearbeitet wurde. Da war jede Stunde im Prinzip schon entwickelt. Und wenn man keine Lust hatte, etwas anderes zu machen, nahm man sich diese Unterrichtshilfen und konnte – da ja auch die Lehrbücher einheitlich waren in der gesamten DDR – nach diesen Unterrichtshilfen unterrichten, ohne dass man selbst Stunden entwickelt hat. 

    Konnte. Musste aber nicht?

    Musste nicht. Denn, natürlich hatte ich die Unterrichtshilfen auch, aber ich hab‘ das noch nie so richtig gekonnt, nach fremden Vorlagen zu arbeiten und hab‘ dann mit den Lehrbüchern mein Ding selbst gemacht. Da kamen dann eben bestimmte Fragen, die die Unterrichtshilfen nicht hatten – später hieß das dann problemorientierter Unterricht. Wobei vom Studium her alles ausgerichtet war auf diese systemischen Inhalte: „Der Sozialismus siegt!“, also das ist der Kernpunkt gewesen letztendlich. Da konnte man nun eben, wie schon gesagt, einfach mitmachen oder man konnte die Sachen auch ein bisschen kritisch hinterfragen und dann versuchen, die Schüler dahin zu kriegen, dass sie nicht einfach reinlaufen. Die Möglichkeiten waren im bestimmten Umfang schon da.

    Vor dem Umbruch: Karrierewege bis zum Sommer 1989

    Was war für Sie ausschlaggebend, dass Sie sich dann für die Schulleitertätigkeit weiterbilden lassen wollten?

    Wenn man, das werden Sie auch noch merken, Ende 30 ist oder so, dann fragt man sich: „Wie, das war schon alles jetzt? Jetzt nochmal 20 Jahre das Gleiche machen?“ (lacht) Also mit 29 war ich mit dem Referendariat fertig und dann 12, 13 Jahre in der Schule – und dachte, das kann doch nicht alles sein, jetzt nur noch darauf zu warten, dass man pensioniert wird. Und dann habe ich mich diesen Prüfungen unterzogen, um Schulleiter zu werden und das mit sehr gutem Erfolg, während vorher die Examen nicht so gut, also durchschnittlich, waren. Dann habe ich mich ein oder zwei Mal im Westen beworben. Da ging es ganz knapp aus, gegen mich allerdings. Und bevor ich zum Dritten mal angetreten bin, kam ja die Wende dann.  Das hat mich auch sehr interessiert. Wenn man politisch interessiert ist, dann ist das ja irre, was da passiert. Und ich war mit der Klasse in Berlin 1990 und hab das mitbekommen, wie das pulsiert hat. Also dachte ich, vielleicht solltest du es doch mal hier versuchen.

    Sie waren Parteisekretär an Ihrer damaligen Schule, wie gestaltete sich da das Verhältnis von Lehr- und politischer Tätigkeit? Gab es Probleme, weil Sie die Linie im Unterricht nicht so ganz befolgten?

    Im Endeffekt war der Parteisekretär dafür verantwortlich, dass die offizielle Linie im Lehrerkollegium, im Unterricht, eben an der Schule umgesetzt wurde. Wir waren in Schwedt 40 – 50 Kollegen und davon waren vielleicht 15 Genossen. Und diese 15 Mann sollten nun der Teil sein, der den Rest des Kollegiums mitnimmt und dafür sorgt, dass die Erziehungs- und Bildungsziele, vor allem die Erziehungsziele, im Unterricht relativ störungsfrei umgesetzt werden. Also der Parteisekretär war im Prinzip der zweite führende Kopf der Schule und sprach sich mit dem Direktor in allen möglichen und unmöglichen Fragen ab. Im Kollegium waren die Probleme relativ gering. Mit der Kreisleitung gab’s dann schon Reibereien, weil in bestimmten Fragen andere Ansichten vorhanden waren. Die Kreisleitung war dann wieder dafür zuständig, die große Linie nach unten durchzudrücken und unten … also die SED war nicht so ein monolithischer Block, wie man sie sich heute vorstellt. Da waren die Parteisekretäre und alle Persönlichkeiten verschieden. Eine Vielzahl hat einfach gemacht, was erwartet wurde, ein paar haben, naja versucht, die Realität darzustellen und zu verändern. Und, ich sag‘ mal, zu der letzten Gruppe muss ich mich schon zählen. Man muss auch davon ausgehen, an dieser Schule in Schwedt war alles relativ verkrustet und brav und dann kam da so ein langhaariger in Jeans, und der wurde zum Parteisekretär gemacht. (lacht) War schon ein bisschen komisch, aber funktionierte eben.

    Wie haben Sie persönlich den Sommer 1989 erlebt? Was war das für eine Zeit für Sie?

    Ich kann mich gar nicht mehr genau an etwas Konkretes erinnern. Natürlich, die Nachrichten schaute man und dann sieht man das alles. Das war ja unglaublich: die Menschen in der Botschaft und der Zug, der durch die DDR in den Westen fuhr… Etwas, das man für unglaublich gehalten hatte, denn es sah ja aus wie ein gefestigtes politisches System. Dann noch die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag, man marschierte auf und dann kam aber schon diese unterschwelligen Veränderungen und die Demonstrationen und dass das dann so kippt – das hätte ich nicht gedacht. Ich war total überrascht und es waren ja fast alle, selbst die größten Experten hätten nicht damit gerechnet, dass dieses System innerhalb weniger Monate so kollabiert. Das fand ich unglaublich spannend. Was ich selber in der Zeit gemacht habe, wo ich zum Beispiel im Urlaub war im Sommer, weiß ich nicht mehr, aber, dass ich das mit riesigem Interesse verfolgt habe und das hat mich auch berührt. Das, was man gar nicht mehr für möglich gehalten hätte – die Einheit des Volkes – das zu erreichen, dass die Mauer fällt, das fand ich wirklich großartig. Da kam also dieser Gedanke auf, vielleicht nicht direkt ’89, aber dann immer stärker – 1990 ging es um die Bundeshauptstadt – da dachte ich, dass ich da irgendwie dabei sein müsste. Also nicht im Sinne: Hier kommt der Besser-Wessi – war ich ja auch gar nicht, denn ich hatte nie eine Schule geleitet – aber ich dachte: „Irgendwie muss ich! Ich geh‘ dahin, wo es spannend ist!“
    Sommer ’89, hm. (überlegt) Das war eine spannende Zeit, eine verrückte Zeit, weil man ja merkte, dass irgendwie die Gärung da ist, weil wir ja auch gemerkt haben, dass viele von den Forderungen schlicht und ergreifend berechtigt waren.
    Und im Sommer ’89 waren ja dann schon das ‚Neue Forum‘ und der ‚Demokratische Aufbruch‘ auch aktiv und zum Beispiel wurde an meiner Schule das Programm des ‚Neuen Forums‘ ausgehängt. Weil wir eben davon ausgingen, wenn wir eine Demokratie sind, dann gehört’s dazu, dass andere Meinungen gesagt werden können und dann muss man die anderen Meinungen auch kennen. Viele Kollegen waren ja doch verunsichert und ängstlich, die haben eigentlich diese kleine Offenheit dankbar angenommen. Ansonsten war es besorgniserregend, denn – wie gesagt, ich konnte ja schon in die Bundesrepublik fahren und hab das auch gemacht – und man sah ja, welche Gefahren da kommen, man sah ja, wohin die Entwicklung geht.
    Auf jeden Fall war klar im Sommer ’89, dass sich etwas ändern muss. Die Sache verschärfte sich zum Herbst immer mehr und als Krenz dann die Nachfolge von Honecker antrat, da war eigentlich schon klar: der Weg kann’s nicht sein. Aber dafür war man zu weit unten, um da aktiv einzugreifen. Vom Sommer zum Herbst hin wurde ja dann auch der
    XII. Parteitag einberufen. Da wurden also in den Grundorganisationen andere Töne angeschlagen und auch auf den Delegiertenversammlungen wurden erstmals Leute gewählt, die nicht vorbestimmt waren. […] Man wusste einfach nicht, wohin die Sache geht. Bleibt die DDR? Stabilisiert sie sich? Verändert sie sich? Oder was kommt danach? Das ist dann so im Wechsel Herbst ’89, Frühjahr ‘90, da kippte die Sache dann, dass es sehr schnell in Richtung Wiedervereinigung geht.
    Ein Neuanfang: Woran orientiert man sich, wenn sich alles wandelt?

    Wie kam es dann dazu, dass Sie sich auf eine Stelle im Osten beworben haben?

    Ich ließ mir die Amtsblätter kommen und schlug sie auf und da waren Stellen, so viel wie man haben wollte. Also, ich hätte mich hier überall bewerben können, weil die alten Schulleiter ja abgesägt wurden und nicht mehr arbeiten durften, viele jedenfalls. Und neue Bewerber gab es anscheinend nur wenige, also hab ich mich dann hier umgeschaut. Erstmal sind wir nach Berlin geflogen von Bonn aus, haben uns ein Auto gemietet, sind durch die Mark Brandenburg gefahren und machten über Bernau und Wandlitz einen Bogen nach Brandenburg an der Havel. Und hier hat’s uns eigentlich sehr gut gefallen mit dem vielen Wasser, sodass ich mich dann eben hier beworben habe.

    Was war das für ein Gefühl, in so eine unbekannte Welt zu fahren, um eine neue Stelle anzutreten?

    Das war schmerzlich, gerade der Abschied. In Bonn hatte ich mir so ein kleines Auto, einen Golf, gemietet, ein paar Sachen reingepackt und bin dann losgefahren. Das war schmerzlich, meine Frau, meine Freunde und alles hinter mir zu lassen.
    Also die Erwartungen, da weiß ich gar nicht, was ich mir da dachte. Es war eine neue Aufgabe, eine große Aufgabe und es war eine tolle Gelegenheit, etwas anders zu machen. Das bietet ja auch Motivation, so ein Wechsel. Ich war also sehr, sehr motiviert und habe mich sehr auf die Aufgabe gefreut. Und dann habe ich mich hingesetzt, ins Büro und dann hab ich versucht, da eben anzufangen zu arbeiten. Ich habe ja vorher ein Konzept vorgestellt in der Schulkonferenz und bin von der Schulkonferenz mit acht zu sieben Stimmen gewählt worden und der Leiter des Schulamtes musste meine Ernennung vornehmen und das hat er dann auch gemacht, auch wenn die Entscheidung für mich knapp war. Ich kannte niemanden, weder einen Kollegen noch einen Schüler noch kannte ich die Eltern. Ich war also ganz entwurzelt und das war schwer. Ich war ja auch der Einzige, der aus dem Westen an der Schule war. 

    Woran haben Sie sich in den Jahren nach der Wende an der neuen Schule in ihrer Tätigkeit orientiert?

    Es gab nicht so viele Vorschriften wie heute, man hatte relativ große Spielräume, obwohl ich ganz neu war. Also, manchmal wäre es besser gewesen, es wäre enger gewesen. […] Orientiert habe ich mich an meinen eigenen Vorstellungen und Erfahrungen, die ich selbst hatte. Auch mein Menschenbild, das ethische Konzept, das Wertekonzept… Das war das eine. Und das andere, wie gesagt, wenn es keine Vorschriften gibt, dann muss man seinen eigenen Weg finden. Meine Ideen habe ich in der Schulleitung abgesprochen und dann haben wir das gemacht. Wir haben direkt am Anfang dafür gesorgt, dass der Name geändert wird – die Schule hieß ja „Gymnasium Neustadt“. Das war einfach kein schöner Name, genauso wie Gymnasium 1 und 2. Dann haben wir, nach der Idee ehemaliger Schüler der Saldria , die Schule in „von Saldern-Gymnasium“ umbenannt.

    Gab es auch Dinge, die Sie überrascht haben, als Sie in den Osten kamen?

    Ich hatte eigentlich ein positives Bild von der DDR, gerade als ich noch jünger war, also so 18,19,20 Jahre alt. Es gab auch Geflüchtete, damals schon. Die haben mir erzählt, die Schulbildung sei hier so gut, also in der DDR. Und es gab auch den Studentenbund Spartakus, die haben auch immer getrommelt, dass es so schön in der DDR sei und das habe ich zum Teil auch erstmal geglaubt. Und ja, als ich hier hinkam, war ich ein bisschen entsetzt. Es roch schon anders, sobald man über den ehemaligen Grenzübergang Helmstedt/ Marienborn fuhr, roch es nach Braunkohle. Die Luft war schlecht hier, also ganz anders als heute, durch diese Schornsteine, die immer den Dreck in die Luft gepustet haben. Das Stahlwerk, die Wohnsituation, die Straßenbahn, die war viel älter als in Bonn und ratterte durch die Straßen – also die ganze Infrastruktur war schlechter. Alles war schwieriger und das hat mich schon ein bisschen überrascht. Ja, rückständig war es, also wirklich, ja. […] Auch die Räumlichkeiten der Schule, allein schon die Heizungen! Auch im Lehrlingsheim, diese kleine Bude, die ich da hatte, diese 20m². Da bollerte dann die Heizung nachts und die konnte man nicht abstellen. Also wirklich, das waren sehr, sehr primitive Verhältnisse, in denen ich hier zunächst lebte. Aber die Aufgabe, die war wirklich gut.

    Wie sind Sie mit der Ungewissheit, die die Wende mit sich brachte im täglichen Leben umgegangen?

    Man wusste ja nicht, wie mit den Lehrern umgegangen wird. Ich habe versucht, mich beruflich anders zu orientieren. Denn es war ja nicht sicher, ob man – aufgrund von Qualifikationen oder Parteizugehörigkeit oder anderen Umständen – dabeibleiben konnte. Von daher war da auch eine große Sorge, wie es weitergeht. […] 1990 kam dann die Versetzung zum Gymnasium Neustadt. Die alten Schulen wurden zerschlagen, die Kollegien auseinander genommen, wahrscheinlich um diesen Neuanfang zu unterstreichen und hier auch Veränderung so herbei zu führen. Und dann hab ich 1990 nochmal angefangen, meinen Beruf neu zu lernen für diese veränderte Gesellschaft, weil viele Sachen, die nicht möglich waren in der DDR, jetzt zwingend waren – Geschichtsbetrachtung, inhaltliche Vermittlung, die Methoden anders, der ganze Schulaufbau ist anders geworden. Und von daher, ja das war schon ein schwieriger Neuanfang. […] Jetzt kam ja die Offenheit und die Zugänge zu all diesen Sachen, die man vorher nur in Andeutungen hörte oder die man nicht wahrhaben wollte. Und die Sachen mussten ja in den Unterricht, und wenn man mit der Überzeugung groß wird „Wir arbeiten an der besseren Gesellschaft. Wir werden irgendwann mal die besseren Menschen in diese Welt entlassen.“, dann ist das natürlich sehr schmerzhaft, wenn dieser Teil, an dem man mitgewirkt hat, plötzlich für wertlos erklärt wird oder unter Aspekten gesehen wird, die man nicht wahrhaben wollte oder die man verdrängen wollte – auch in der Geschichte, zum Beispiel das Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion… Auf einmal musste man das unterrichten. Da kippt das Bild ja wirklich ins Gegenteil. Und da muss man den Mut haben, dieses Gegenteil zu begründen, und ich hab mich eigentlich nie geschämt, den Schülern zu sagen: „Ich hab’s mal anders gesehen und unterrichtet, aber durch Information und neue Quellen sehe ich das nun so.“

    Wie sah die Weiterbildung aus? Haben Sie noch einmal studiert?

    Naja, dieses Studium ist nicht so gemeint, dass ich irgendwo an eine Universität oder Hochschule gegangen bin, sondern dieses Studium war einfach aus der Praxis heraus. Wirklich in die andere Welt einzutauchen, in der anderen Welt zu räubern und zu lernen: Welche Sachen kannst du mitnehmen? Welche Sachen musst du mitnehmen? Also, Leben als Studium oder eher die Berufstätigkeit als Studium in der Veränderung. […] Ein Fachstudium habe ich dann nochmal gemacht für das Unterrichtsfach „Recht“, das damals auch angeboten wurde hier bei uns an der Schule. In Geschichte waren dann bloß durch die Fachberatertätigkeit die wöchentlichen Fortbildungen, wo auch fachliche Teile dazu gehörten. Und Deutsch ging dann eben auch über Fortbildungen. Die Fortbildungstätigkeit nach der Wende – also von ’91 bis etwa 2000/ 2002 – die war sehr intensiv, also in allen Bereichen, in allen Fächern. Wer sich da als Kollege neu orientieren wollte, der hatte viele Möglichkeit und, dieser Bereich ist eigentlich aus meiner Sicht von vielen Kollegen, die damit klarkamen und einen veränderten, aber guten Unterricht gemacht haben, viel genutzt worden.

    Woran haben Sie sich in den Jahren nach der Wende beim Unterrichten orientiert?

    Na, wir haben uns sehr schnell daran orientiert, die Möglichkeit in Anspruch zu nehmen, mit Kollegen aus den alten Bundesländern zusammenzukommen. Meine Frau ist vier Wochen, sofort ’90, nach Dortmund gefahren, dafür kam aus Dortmund ein Kollege, der bei uns gewohnt hat, ein Schulleiter. Das war natürlich sehr, sehr interessant, weil die wirklich bereit waren zu helfen, diese Veränderungen zu bewältigen, und ein Großteil dieser Leute einfach auch neugierig war, wie es bei uns gelaufen ist. So kamen die und guckten eben, wie sah der Unterricht und die Schule in der DDR aus und die fanden eben doch einige Teile, von denen sie überzeugt waren, dass die mit rüber gerettet werden sollten. Aber naja, die Politik hat dann anders entschieden und hat dann doch die Systeme vollkommen zerschlagen und mehr oder minder übernommen. Manches ist geglückt, manches nicht. Aber für mich war eben immer wichtig der Kontakt mit den Kollegen, die helfen wollten.

    Wie sind denn andere Lehrer*innen mit diesem Wandel umgegangen?

    Da war schon ein Teil dabei, der sich einfach gesperrt hat, der geblockt hat und der, nachdem er merkte, ihm passiert nichts, einfach weitergemacht hat, weil man sich nicht damit auseinandersetzen wollte: „Ich hab‘ ja mitgemacht!“ Also irgendwie kommt ja immer die Frage von Täter und Opfer in diese Betrachtung mit ‘rein, und wer will schon sagen, dass er im Endeffekt beides ist. Da muss man ja für sich suchen – „Warste nun mehr der Täter oder warste nun mehr Opfer?“ Und an den Fortbildungen die wertvolle Sache war, wenn man mit den Kollegen suchen und diskutieren konnte. Wir haben ja wirklich versucht, uns weiterzubilden! Und diese Weiterbildung war so gestaltet, dass jemand mit einem Impuls kommt und man diskutierte: „Wie machen wir das nun? Wie setzen wir diese Sache um? Wie kommen wir mit den Veränderungen, die uns gewissermaßen durchs Fach aufgezwungen waren, klar? Und wie bringen wir das an die Schüler?“ Da musste man ja auch damit klarkommen, dass sich das Schülerklientel veränderte, also das Lehrersein in der DDR war vollkommen anders als das Lehrersein heute. Also, der wesentliche Unterschied ist: in der DDR gab es die Vorgabe und die Erfüllung, und jetzt danach wirklich die (überlegt) Suche nach Lösungen und die Nutzung von Möglichkeiten. Und da war eben der Austausch miteinander wirklich schön und wertvoll. Und auch mit den Kollegen, das muss ich wirklich sagen, die uns als Berater berieten, die waren nie so, dass sie irgendwelche Dogmen setzten, sondern die brachten ihre Ansichten und Erfahrungen mit und die wurden in unserem Kreis diskutiert.

    Ein neuer Schulleiter: Aufbruch in eine neue Zeit?

    Wie wurden Sie vom Kollegium in dieser Zeit voller Umbrüche aufgenommen? Was für eine Stimmung herrschte an der Schule?

    Die Stimmung war schwierig. Das Kollegium war ja neu zusammengesetzt. Die Kriterien dieser Zusammensetzung waren nicht bekannt, weder den Kollegen noch mir. Man hatte das ja absichtlich gemacht. Auch kam es vor, dass jemand von einen Tag auf den anderen nicht mehr da war, weil er eine IM-Tätigkeit vorher ausgeübt hatte, das kam dann eben peu à peu raus. Diese Fälle gab es also auch. Das führte zu einer großen Verunsicherung. Ich wurde persönlich freundlich aufgenommen, aber auch mit Argwohn und ich würde vielleicht auch sagen, mit Misstrauen beäugt. Da fragten sich die Kollegen schon: „Was will der eigentlich?“ Ich weiß auch nicht, ob ich mich dann immer richtig dargestellt habe. Es gab auch Sprachregelungen, die waren mir unbekannt. Die Sprache hier war auch ein bisschen militarisiert. Die sprachen dann zum Beispiel von „Truppenteilen“, wenn sie von Schülergruppen redeten. Das hat mich gewundert. Ich habe versucht, mein Konzept, was ich mir gedacht habe, was für die Schule gut wäre, dann durchzusetzen. Es war eben anscheinend vorher so, dass die Lehrer eben recht hatten und die Schüler hatten zu parieren. Also das riesengroße Problem der Autorität. Die Lehrer waren autoritärer, als ich das aus Schulen kannte. Es gab aber eben auch die andere Seite, die Autorität war jetzt weg, die Lehrer hatten gestern hü gesagt und jetzt sagten sie hott. Sie mussten sich umstellen, denn die Lehrpläne hatten sich geändert und das führte zu einem Vertrauensverlust bei den Schülern und zum Autoritätsverlust. Die Schüler haben das auch ausgenutzt und auch überzogen, also es gab nicht mehr diese Grenzen und die Schüler weiteten das für sich aus. Also solche Konflikte gab es. Gerade in Konfliktsituationen zeigt sich, was für ein schulisches Bildungs- und auch Staatssystem es gibt, wie man mit Leuten die Konflikte löst und damit umgeht. Ob man die Konflikte annimmt und über die Ursachen redet, oder ob man von oben den Daumen ansetzt und das durchdrückt.

    Sie kamen ja gewissermaßen als Personifikation des Wandels an die Schule…

    Ja, natürlich wurde es durch mich auch anders. Wenn es zum Beispiel Beschwerden von Schülern gab, dann habe ich mir das angehört und nachdem ich mit dem Schüler gesprochen habe, habe ich mich an den Lehrer gewendet und dann versucht, einen Ausgleich zu finden und nicht zu sagen: „Ich möchte das alles gar nicht hören!“ Das dauerte nicht sehr lange, sondern sprach sich bei den Schülern unglaublich schnell rum. Und dann haben sich die Schüler mehr und mehr geöffnet und das ist auch erstaunlich, gegenüber dem Schulleiter sich dann zu öffnen. Das ist geschehen und das hat mir gutgetan. Aber, man ist an der Spitze der Schule aufgrund der ganzen Umbruchsituation. Und dann hatte ich – so etwa im November ’93 – das Gefühl, ganz allein zu sein, „Es ist niemand da, der mir hilft, sondern ich muss das allein regeln.“ Tja, da muss man Rückgrat haben. […] Man musste sich ja dann auch irgendwie beweisen und das dauerte dann eine Zeit lang bis ich mich in meine Rolle reingefunden habe, denn es war auch ein Rollenwechsel vom Arbeitnehmer zum Arbeitgeber. Als Arbeitgeber konnte ich dann auch in der Gewerkschaft nicht mehr mitarbeiten, weil man mit den Kollegen natürlich nicht an einem Tisch sitzen kann. Ich habe auch niemanden geduzt, sondern blieb beim Sie und wollte die Distanz haben. Das ist auch so geblieben bis zu meinem Berufsende.

    Wie haben Sie versucht auf den Unterricht der Lehrkräfte einzuwirken?

    Ja, ich habe mir den Unterricht angeschaut. Da gab es sehr viel Frontalunterricht, es ging sehr autoritär zu, gerade auch von den älteren Lehrern. Die Schüler haben sich nicht gemuckt. (überlegt) Teilweise wurde dann zu mir gesagt: „Kommen Sie doch häufiger in den Unterricht! Der Lehrer war heute so freundlich.“ (lacht) Ja, also, ich war ja auch nicht allein als Schulleiter, sondern gemeinsam mit anderen Lehrern in der Schulleitung und zusammen haben wir das dann in die Wege geleitet. Dann haben wir immer über die Fortbildungen – es gibt ja immer drei Fortbildungstage vor dem Beginn eines Schuljahres – versucht, modernere Erziehungsaspekte anzusprechen. Das war manchmal schwierig, aber wir haben immer wieder versucht, den Kontakt zum Kollegium zu halten.

    Was ist denn in den Jahren nach der Wende in der Schule passiert? Was hat sich verändert?

    Da ist eigentlich wenig passiert. (überlegt) Da war eine Schulleitung, die war die Schulleitung, die hatte bestimmte Sachen umzusetzen und zu entwickeln mit uns. Da waren die Lehrer, da waren Lehrer, die fanden sich in der Veränderung. Und da waren Lehrer, die sich so viel wie möglich an dem Alten festhalten wollten. Da kam es nicht zu großen Konflikten, da machte man, auch im Fachbereich, im Endeffekt einfach nebeneinander weiter. Der Kontakt zu den Schülern, der hat sich für mich persönlich überhaupt nicht verändert. Ich hab‘ vorher mit denen diskutiert, hab’s danach gemacht. Ich hab mich vorher dafür interessiert, dass alle so gut wie möglich ihre Abschlüsse erreichen, und hab’s danach gemacht. Die Schüler waren widerständiger. Die haben sich natürlich nicht mehr alles gefallen lassen. Die haben Fragen gestellt. Die haben bestimmte Sachen nicht mehr gemacht. Und dann kommt natürlich die Problematik hinzu, dass sich die Eltern vor allem sehr gewandelt haben. In der DDR war das Verhältnis zwischen Eltern und Schule klar strukturiert hierarchisch. Wenn du in der Schule nicht klargekommen bist, dann konnte man die Eltern angehen und zur Not auch über die Betriebe. Diese Variante ist natürlich in der neuen Zeit vollkommen weggeblieben. Die Eltern haben sich nicht mehr alles von der Schule bieten lassen. Man musste sich also schon auch selbst überprüfen: in den Tätigkeiten und den Ansprachen zu den Schülern und auch im Umgang mit den Schülern. Selbst in der Bewertung musste man genauer werden, weil jetzt ja alles überprüfbar und anfechtbar wurde.

    Wann haben Sie Herrn Werner kennengelernt und wie haben Sie ihn wahrgenommen? Wie ist er vom Kollegium aufgenommen worden?

    Ich hab ihn kennengelernt in seinem Bewerbungsgespräch im Lehrerrat, weil ich dann schon im Lehrerrat war. Hm… Wir wollten ihn nicht. Das Kollegium der Schule wollte ihn nicht, weil er aus dem Westen kam, wir ihn nicht kannten und er sich in seiner ruhigen und damals relativ unkonkreten Art vorstellte. Die Kollegen aus NRW kamen zum Helfen und Entwickeln und gingen wieder und waren nicht unsere Vorgesetzten, die waren unsere Partner. Werner kam im schicken Mantel, relativ locker und damals für den Lehrerrat geradezu ahnungslos hier an, und so jemanden wollten wir nicht. Wir wussten ja nicht, was da wirklich dahintersteckt. In der halben Stunde kam der Mensch Werner nicht so richtig durch und wir hatten eine Alternative, einen Kollegen von uns und dann war Werner plötzlich da.
    Wie gesagt, wir wollten Hanswalter Werner nicht haben, weil er sein Programm nicht rüberbringen konnte und sicherlich spielte da auch der Punkt eine Rolle, dass er aus dem Westen kam – „Was wollen die hier?“ Er ist ja dann durch die Entscheidung des Schulamtes an den Posten gekommen und wir haben uns mit unseren Vorstellungen nicht durchsetzen können. Und da ich im Lehrerrat war, mussten wir mit dem neuen Schulleiter zusammenarbeiten, und wir, oder ich, hab dann relativ schnell begriffen, dass der Mann nicht von der verkehrten Sorte ist. Er war zugänglich, er war entwicklungsfähig, hatte Ideen und Spaß an der Arbeit – Spaß an der Entscheidung nicht immer so – aber unter ihm entwickelte sich sehr schnell ein angenehmes Arbeiten. Herr Werner ist wahrscheinlich mit der Muttermilch Demokrat und diese Eigenschaft des demokratischen Lebens und Handelns, die hat er wirklich an diese Schule versucht zu bringen. Er hat es bei einigen geschafft, die diesen Weg dann mitgingen. Bei anderen hat er es nicht geschafft, weil ihm dann vorgeworfen wurde: „Der trifft ja keine Entscheidungen, der labert immer nur!“ Das ist eben der Unterschied zur DDR, inwieweit man das verinnerlicht hatte und mitmachte, dass alles immer ein Ziel haben sollte.

    Gestern wie heute: Dürfen Lehrer*innen politisch sein?

    Wie ich es verstanden habe, haben Sie versucht, sich über das politische Engagement das Rückgrat zu stärken in ihrer Anfangszeit im Osten. Ist das richtig?

    Ja, das habe ich mir so gedacht: „Alleine könnte es sein, dass du es nicht schaffst, wenn dir hier die Tretminen ausgelegt werden.“ – also im übertragenden Sinne. Also habe ich mich in der Politik engagiert, ich war ja Mitglied in der SPD. Und am 1. Mai traf ich den Oberbürgermeister, der gesagt hat: „Komm‘ doch mit!“ Und dann stand ich auf der Liste für die Stadtverordnetenversammlung und habe kandidiert. Ich wurde nicht gewählt, mich kannte ja auch keiner und ich stand weit hinten auf der Liste, aber vor mir auf der Liste waren mehrere Leute, die wegen ihrer IM-Tätigkeit ausscheiden mussten, sodass ich dann plötzlich da rein gerutscht bin. (lacht) Das war schon witzig. Also, und dieses IM-Thema ist ja bis heute aktuell. Ich glaube, das war das allerschlimmste, was durch die Stasi etabliert wurde, dass das Vertrauen verloren ging. Das Misstrauen. Und das spürte ich, man hat mir misstraut. Das war so eine Grundhaltung: „Was könnte der machen? Was könnte mir jetzt passieren?“. […] Das dauerte ziemlich lange und das ist zum Teil auch noch geblieben. Das geht nicht so schnell. Nehmen wir das Beispiel mit der Mauer: Man fährt da ran und karrt sie weg, aber die Mauer in den Köpfen bleibt viel länger.

    Sie waren gemeinsam mit Herrn Richter in der AG Bildung innerhalb der SPD tätig und haben versucht, auch über die Schule hinausgehend Veränderungen zu bewirken.

    Das war aber nur sehr kurz. Im Jahr ’93 war das, aber ’94 habe ich das dann schon nicht mehr fortgeführt. Genauso wie das Thema mit der Schulleitung und der Politik. Ich war ja Stadtverordneter und das hat sich einfach zeitlich ausgeschlossen. Das war eine zu starke Beanspruchung in der Schule und es gibt ja Schulleiter, die sind nur ganz selten in der Schule und sagen dann Tschüss und machen was Anderes. Das ging für mich nicht, sondern ich habe mich für diesen Weg der Schulleitung entschieden. Das war gut so. Weil es so viel zu tun gab, es war eine 50,60-Stunden Woche manchmal. Und am wichtigsten ist wirklich der Kontakt zu den Kollegen, zu den Schülern zwar auch, aber vor allem die Kollegen. Dass man mit den Kollegen im Gespräch bleibt, und nicht über den Urlaub redet, sondern dass man mit ihnen über ihre Arbeit spricht. Dafür muss man sie besuchen und da muss man sagen, was man möchte und mit ihnen den Unterricht auswerten und Protokolle schreiben… also sehr, sehr intensiv. Aber so habe ich das gemacht, auch mit den anderen aus der Schulleitung zusammen und das war gut, wirklich gut. Man kannte die Leute und sie öffneten sich dann auch und man konnte sagen was man von ihnen erwartet und was sie selber auch erwarten, eine sehr intensive kommunikative Sache.

    Wie sah Ihre Beziehung zu Herrn Werner dann aus? Sie waren ja auch gemeinsam politisch aktiv…

    Wir hatten natürlich Meinungsverschiedenheiten, wir haben uns gestritten, aber: wir waren beide in der gleichen Partei und versuchten damals über die Arbeitsgemeinschaft Bildung in der SPD schulische Entwicklungen im Land Brandenburg mitzugestalten. Wir sind also viele Wochenenden unterwegs gewesen, z.B. in Potsdam, um uns mit anderen SPD’lern und dem Ministerium darüber zu verständigen, wie Schule gemacht und entwickelt werden sollte. Da haben wir also versucht, unsere Ideen einzubringen in dem irrigen Glauben, dass die Basis mitgestalten kann. Da ist dann doch mehr diese hierarchische Ordnung von oben nach unten durchgekommen – ein Referatsleiter hat den famosen Satz geprägt „Oben sticht unten.“ Und so hat er auch gearbeitet und gehandelt, und da war dann wieder diese Aussichtslosigkeit, die dann ‘96 dazu führte, dass wir die Partei verlassen haben, also meine Frau und ich, Herr Werner ist ja bis heute noch dabei. 

    Was wollten Sie denn verändern?

    Na, wir wollten im Prinzip ein Engagement für die Schule entwickeln, damit an dieser Schule Leute ausgebildet werden, die wir in Ruhe mit Berechtigung, also mit einem guten Gefühl, ins Leben entlassen können. Dazu wollten wir also eigentlich die Möglichkeit entwickeln, dass die Kollegen sich genau daran beteiligen können. Also, dass ihre Ideen, wenn sie im Rahmen waren, mit umgesetzt werden konnten. Dass man eine Schule nach seinen Vorstellungen im großen Rahmen wirklich selbst entwickeln konnte. Aber dazu hätte in allen Bereichen eine wirkliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit da sein müssen, und die ist eben doch hin und wieder an der Individualität der Leute gescheitert. Dass eben ein Teil sagte: „Ich kann jetzt machen, wie ich will, und ich mache, wie ich will. Solange ich nicht gegen irgendwelche Regeln verstoße, lasst mich in Ruhe!“ Diesen Punkt konnten wir nicht aufknacken, aber naja, selbst ist man ja klargekommen. 

    Alles auf Anfang: Unterrichten nach der Wende

    Wie sah denn in Ihrer Anfangszeit Ihr eigener Unterricht aus? Was war Ihnen wichtig den Schülerinnen und Schülern mitzugeben, vor allem in Ihrem dritten Unterrichtsfach „Politische Bildung“? Und wie hat sich Ihr Unterricht dann verändert im Osten?

    Wichtig ist ja, dann zu einem eigenen Urteil zu kommen als Schüler, dass man eben durch die Diskussionen und die Veranschaulichung verschiedener Theorien und Perspektiven zu einer eigenen Meinung kommt. Und das waren die Schüler nicht gewohnt. Die waren eher gewohnt, dass man ihnen sagt „So is‘ es!“ und waren eher das faktische Unterrichten gewohnt, wenig problemorientiert. So habe ich das empfunden. […] Ich meine, Unterricht ist Unterricht und ich habe mich da ja auch nicht so sehr verändern müssen, das war bei mir eigentlich nicht wirklich ein Bruch. Also, es war ein geografischer Bruch, klar, aber von der Art und Weise wie ich unterrichtet habe und was ich vertreten habe, da musste ich mich nicht so sehr verändern.

    Schlug Ihnen denn von den Schüler*innen auch so ein Misstrauen entgegen wie von den Lehrer*innen?

    Nee, das kann ich eigentlich nicht sagen, das habe ich nicht so empfunden. Die Schüler sind eben Schüler und wer dann da kommt, das hat für die Schüler nicht so eine große Bedeutung. Mit den Kollegen war es viel schwieriger. Auch mit den Eltern war es nicht schwierig, also die waren sehr offen. Die Eltern und Schüler waren weiter als die Lehrer. (lacht) Es waren ja auch sehr gute Schüler – das ist auch noch etwas, das ich unbedingt sagen muss: 12% eines Jahrgangs sind zu DDR Zeiten zur EOS gegangen und haben das Abitur gemacht und innerhalb von wenigen Jahren steigerte sich das auf 36%. Also eine unglaubliche Ausschöpfung von Ressourcen, die sich die DDR durch die Finger gehen lassen hat. Die Leute waren ja gleich klug geblieben und sind nicht irgendwie schlauer geworden, also das fand ich dann sehr gut.

    Wie hat sich Ihr Unterricht mit den Erfahrungen der Wende verändert?

    In meinem Unterricht ist schon eine starke Veränderung eingetreten durch die Multiperspektivität, dass also nicht nur eine Richtung vorgegeben wird, sondern, dass ich immer versuche, die Problematik und die Offenheit, also die verschiedenen Lösungen mit anzubieten und den Schülern den Raum lasse, sich selbst zu entscheiden. Da kann ich eine Episode erzählen: Eine Schülerin stritt sich mit mir zwei Blöcke lang. Das war im Prinzip fast ein Dialog in dem Unterricht. Zum Ende sagte ich dann einfach: „Tut mir leid, jetzt kriegst du 15 Punkte.“ Da guckte sie ganz erstaunt und fragte: „Wieso? Ich hab doch eine ganz andere Meinung als Sie vertreten?“, und ich sagte: „Na, und gerade deshalb kriegst du die 15 Punkte, weil du es so geschickt und perfekt gemacht hast. Wir sind zwar immer noch nicht einer Meinung, aber du kannst argumentieren und die Möglichkeit, dass es so richtig ist, wie du es siehst, die ist ja gegeben.“ Das ist vielleicht so eine Grundveränderung in meinem Unterricht, dass zum einen diese Möglichkeit besteht, dass man diese verschiedenen Ansätze entwickelt und diskutiert, und zum anderen, dass die Schüler diese Möglichkeiten auch nutzen und von mir auch darauf hingewiesen werden, wenn das der Fall ist, dass wir uns gerade nur eine Variante der Geschichte anschauen und dass andere Sichten darauf auch möglich sind.

    Die DDR ist jetzt Geschichte: Was bleibt im Unterricht?

    Und wie war es, nun plötzlich ein neues Kapitel der deutschen Geschichte zu unterrichten – also die DDR-Geschichte?

    Das war jetzt gar nicht so ein großer Teil. Es ist ja immer so, dass das was einem sehr nah ist, sehr wenig im Unterricht behandelt wird. Es ist immer so, dass sie ein bisschen hinter der Gesellschaft und ihren Entwicklungen hinterherhinkt, die Schule. Deswegen war die DDR im Unterricht gar kein so großes Thema. 

    Aber ist genau das nicht sehr spannend, im Politikunterricht über einen Staat zu reden, in dem die Leute aufgewachsen sind und der jetzt Vergangenheit ist – wie beurteilt man dann diese Zeit und wie vermittelt man das den Schülerinnen und Schülern?

    Ja, dann gab es ja diesen Begriff des Unrechtsstaates , aber man musste aber wirklich aufpassen, wie man das politische System beurteilt und wie der Einzelne das in seiner Biografie erlebt. Das sind ja Schüler, die auf dem Schulhof waren, sich gefreut und zusammen Fußball gespielt haben, dann kann man sie schlecht für die Stasi verantwortlich machen und so und sie mit in Haftung nehmen, sondern damit muss man differenziert umgehen oder sich ein bisschen zurückhalten.

    Was meinen Sie, worauf kommt es an, wenn man DDR-Geschichte hier vor Ort vermitteln möchte?

    Ich weiß nicht, ob Sie den Film F – wie Freiheit kennen, den haben wir zusammen gemacht mit einem professionellen Regisseur über eine Schülerin, die an der EOS „Goethe-Schule“ war. Wir haben den Film auch hier im Theater gezeigt, da waren 400 oder 500 Menschen da, auch Eltern, die sich auch an diese Zeit erinnerten. Und das finde ich sehr wichtig, damit kann man Geschichte besser vermitteln, als wenn man das nur anhand von Strukturen macht. An diesen Einzelschicksalen, die dann eingebettet in den historischen Hintergrund sind. Und, die beiden deutschen Staaten sind schon ein wichtiges Thema gewesen, aber die Projekte sind da vor allem die Möglichkeit, Dinge zu behandeln, für die im Unterricht die Zeit fehlt. Und, was auch ganz wichtig ist, dass Schüler aus der Schule heraus, zu gewissen Tagen, Gedenktagen, wie zum Beispiel am 27. Januar oder am Volkstrauertag, raus gehen, mitgehen zu den Gedenktagen und dort etwas sagen. Das habe ich in der Schule als wichtig empfunden, das ist auch gelungen und jetzt, ist das abgeebbt – das finde ich schade. Dazu sollte Schule doch anregen. Mit dem alten Spruch – Non scholae, sed vitae discimus – und die Verbindung zwischen Schule, dem Unterricht, dem Klassenraum und dem was draußen um einen herum geschieht, die sollte die Schule herstellen. 

    Sie haben auch an der Erstellung eines Lehrbuchs mitgewirkt und haben also einen Teil der Geschichte, den Sie selbst miterlebt haben, versucht, in ein Lehrbuch zu verpacken. Worauf haben Sie da geachtet? Was war Ihnen bei der Darstellung wichtig? 

    Wichtig war mir, die eigene Erfahrung mit einzubringen und nicht nur die Standards darzustellen: DDR – böse, Bundesrepublik – gut. Ich hab‘s ja mit einem Kollegen aus der Bundesrepublik zusammen gemacht, also unser Kapitel zur Geschichte der beiden deutschen Staaten nach ’45. Wir haben sehr eng zusammengearbeitet und unsere verschiedenen Ansichten ausgetauscht, und ich denke, dass die Darstellung zwar sehr kurz geworden ist, aber anders als das sonst üblich war, weil wir versucht haben, uns im Wesentlichen an Fakten zu orientieren: Wie war das Leben in der DDR? Wie funktionierte es? Wo ist eben deutlich gewesen, dass es so nicht funktionieren kann? Diese Gedanken mussten dann immer dem anderen Kollegen verdeutlicht werden, weil seine Ansicht aus seiner Welt mit in das Kapitel passen musste. […] Auch hier war es so, dass das Team des Lehrbuchs auf Augenhöhe zusammengearbeitet hat. Wir haben immer lange diskutiert, an den Wochenenden. Das war spannend, weil man sich mit seinen Ansichten den anderen gegenüber zur Wehr setzen musste und sie begründen und erklären musste. Da kam eben auch manchmal raus: „Na, das musst du dir doch nochmal anschauen, da warst du selbst nicht auf dem richtigen Weg.“ Aber andererseits haben die auch viel davon profitieren können, dass jemand aus dem anderen System dabei war, denn auch Lehrer in der Bundesrepublik hatten ja eigentlich keinen Kontakt zum Leben in der DDR.

    Wie hat sich denn die Art wie Sie die DDR-Zeit unterrichtet haben über die Jahre verändert? 

    Zum Beispiel, wenn es Wissenszuwachs gibt, den versuche ich im Unterricht einzubringen, sodass die Schüler davon auch profitieren können. Für mich ist nach wie vor, das muss ich jetzt nochmal sagen, immer die Frage der Doppelrolle von Täter und Opfer wichtig. Die spielt in meinem Unterricht, gerade weil ich Parteisekretär war bis zum Schluss, eine große Rolle und führt auch immer wieder zur Auseinandersetzung mit mir selbst. Und das gibt den Schülern immer die Möglichkeit zu bewerten: „Wie kann so ein Mensch also in zwei Systemen die selbe Rolle machen? Da muss ja irgendwo ein Unterschied sein, sonst würde das ja nicht mehr funktionieren.“ Und wenn dann jemand von den Schülern zu der Erkenntnis kommt, dass es ähnlich sei wie ’45 – naja, dass muss er für sich begreifen und begründen können.

    Kann der Geschichtsunterricht denn in diese Themen, zum Beispiel bei der Frage nach Systemkontinuitäten, überhaupt inhaltlich so in die Tiefe gehen?

    Ich würde mir von der offiziellen Seite und von den Plänen wünschen, dass es so tief geht. Aber schon allein das Stundenvolumen und die Stofffülle geben das überhaupt nicht her. Bei mir wird es nur über die persönlichen Dokumente versucht, wo dann eben deutlich wird, dass man nicht alles zerschlagen wollte, sondern, dass man hingewiesen hat, hier funktioniert eine Sache absolut nicht und die muss anders gemacht werden. Ja, da ist man dann natürlich, weil es nicht passierte, auch in der Opferrolle, das sehen Schüler schon, aber man kommt nicht so tief rein. Da müsste man wirklich ein Schuljahr mit fünf Wochenstunden Geschichte haben, wo man intensiv an den verschiedenen Sachen arbeiten kann, um den Schülern zu ermöglichen, sich wirklich ein fundiertes Urteil zu bilden. Die Zeit haben wir offiziell nicht und wir haben auch einen Teil Kollegen, die sich damit einfach nicht auseinandersetzen wollen. Das ist bis heute so.

    Der*die Lehrer*in als Zeitzeug*in: Wie viel Persönliches darf in den Unterricht?

    Wie geht man als Lehrer*in damit um, in einer Doppelrolle zu sein: als Zeitzeug*in und als Lehrkraft? Wie viel Persönliches haben Sie in den Unterricht getragen?

    Das weiß ich jetzt gar nicht genau. (überlegt) Als Zeitzeuge hat man natürlich… es fällt einem vielleicht ein bisschen schwerer, diese verschiedenen Perspektiven abzubilden. Ein Unterrichtsstoff, der abgeschlossen ist, damit kann ich ja viel, viel einfacher umgehen, als wenn es jetzt Teil meines eigenen Lebens ist. Aber durch das eigene Erleben – vielleicht kann man es dadurch ein bisschen spannender machen und es ist ja auch ein anderes Wissen, das man da hat, als wenn man etwas nur aus Büchern weiß. Das ist dann ein Vorteil. Also es hat Vor- und Nachteile, denke ich mir.

    Aber persönliche Dinge aus Ihrem Leben, die haben Sie nicht in den Unterricht getragen?

    Weniger, nein, das habe ich weniger gemacht. Als ich damals in Bonn Englisch unterrichtet habe, da wollte ich den Schülern den Unterricht lebendig machen und spielte ihnen Lieder von Bob Dylan vor, die ich selbst so gut fand. Die Schüler hat das gar nicht interessiert. Die kannten den kaum und ich war voller Euphorie – die Schüler leben ja in einer anderen Welt und das muss man immer berücksichtigen. Natürlich, wir hatten auch Lehrer, wenn man die antippte und ein Stichwort sagte, dann fingen die an und erzählten aus ihrer Biographie – das habe ich nicht gemacht.

    Gerade wenn man über die DDR im Unterricht spricht, hatten Sie vielleicht ja auch das Glück, nicht persönlich Stellung beziehen zu müssen, wohingegen das bei anderen Lehrkräften passieren musste. 

    Das stimmt. Ich war frei davon, weil ich es nicht erlebt hatte und ich musste mich nicht positionieren. Ich war aber im Westen immer auch schon ein aufrührerischer Mensch. Solche Großorganisationen erfüllen mich immer mit einem gewissen Stachel, sei es jetzt die Universität, sei es die Schule, in der Schule wurde das radikal unterdrückt, als ich Schüler war, oder bei der Bundeswehr. Man kann da auch viel Blödsinn machen, solche Großorganisationen kann man leicht durcheinanderbringen, das habe ich schon gerne gemacht. Auch in der Universität und später, da war ich als Referendar im Lehrerrat und da hat es mir auch Spaß gemacht, ein bisschen Unruhe rein zu bringen. Ich habe nie so aufgenommen, was gesagt wurde, sondern immer alles hinterfragt. Das ist eine gute Haltung, damit man sich nichts vormachen lässt von Autoritäten. Die gibt’s ja überall.

    Eigentlich alles, weil ich ja den Unterricht mache. Gerade wenn wir die Zeit des Umbruchs im Unterricht behandeln müssen, nehme ich meine persönlichen Unterlagen mit. Die Schüler lesen meine Stasi-Akte und sehen mein Parteibuch, meinen Reisepass und können mich dann fast alles fragen. Sie können es auch ablehnen. Natürlich, da kann und will ich nicht trennen, aber wichtig ist sicherlich dabei, dass von mir aus die DDR-Zeit kritisch hinterfragt wird, aber dass diese Kritik auch auf die neue Zeit mitgenommen wird. Welche Möglichkeiten bieten sich denn? Wo sind positive Veränderungen und wo muss man sagen – oder wo sage ich – das läuft schief. Also diese Offenheit ist im Unterricht da.  

    Sie haben gerade gesagt, dass Sie im Unterricht auch Ihre eigenen Unterlagen zeigen. Wie reagieren da die Schülerinnen und Schüler?

    Oh ja, die gucken schon. Und wenn sie allein über die Passbilder lachen. (lacht) Also, da gucken sie schon genauer hin, genauso beim Reisepass. Das ist ja für die jungen Leute heute unvorstellbar, dass man ohne so ein Ding und Erlaubnisse und Visa und Anträge nicht raus kam. Und auch, dass nicht jeder so einen Pass hatte. Da gucken sie schon genau, auch in die Briefe. In den Stasi-Unterlagen sind ja zum Teil persönliche Briefe an Freunde und ehemalige Freunde drin. Die lesen sie schon mit großem Interesse und sind dann schon sprachlos, mit welchen Nichtigkeiten und mit welchem Mist man sich auseinandersetzen musste und welche Teile davon für die Staatssicherheit interessant waren.

    Vorhin haben Sie von der Täter-Opfer-Problematik gesprochen. Wenn Sie Ihre Stasi-Unterlagen mitbringen, bringen Sie ja dann schon die Opferperspektive mit in den Unterricht, oder nicht? Wie stellen Sie da Ihre persönliche Zweischneidigkeit dar?

    Natürlich gehe ich damit offen um. Ein Parteisekretär war ja nicht dazu da, den Staat umzukrempeln, sondern den Staat stabil zu halten. Schon allein durch die Funktion wird den Schülern das klar, weil ich mich ja auch nie als Widerstandskämpfer darstelle. Im Endeffekt hat ja ein Teil meines Handelns zum Erhalt dieses Staates beigetragen und damit ist die Täterperspektive klar – da muss man nicht mehr viele Worte drüber verlieren. Man hat es so gemacht. Wenn man die Berichte sieht, die so ein Parteisekretär schreiben muss … natürlich waren meine Berichte anders als die von vielen anderen Parteisekretären, aber trotzdem hat man berichtet. Nun wird man da nicht feststellen können, dass durch meine Berichte jemandem persönlich geschadet wurde, aber im Endeffekt, wenn man es heute interpretiert, hat es natürlich geschadet. […] Ja, ich denke, die Sache wird schon klar.
    Die Opferperspektive, die kriegt man auch mit, aber andererseits konnte so ein Parteisekretär natürlich in konkreten Situationen auch Menschen und Kollegen helfen und deshalb war ich trotzdem nicht der Widerstandskämpfer. Den Punkt mache ich den Schülern wirklich immer wieder deutlich, denn sie sollen ja begreifen, dass sie sich in ihrem Leben engagieren sollen und dass man sehr schnell in die Rolle eines Täters kommt, auch wenn man das nicht so sieht und wahrhaben will.

    Ein Leben als Lehrer*in: Was ist von der DDR geblieben?

    Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?

    Ich denke, dass relativ viel geblieben ist und je älter man ist, desto mehr ist wahrscheinlich auch geblieben. Und bei den jüngeren, die ja auch in die ganze Welt strömen, bei denen ist die DDR natürlich weniger präsent, als bei denen, die hiergeblieben sind und verbittert sind. Eine große Verbitterung ist da, bei denjenigen, die den Arbeitsplatz verloren haben, bei denjenigen, denen wegen ihrer Tätigkeit bei der Stasi die Rente gekürzt wurde, pauschal um 50%, und das spürt man auch. Nicht umsonst ist ja hier auch die AfD so stark: Die politischen Institutionen werden nicht so geschätzt; der Staat, von dem erwartet man mehr, als er leisten kann und manchmal auch leisten will. Das ist wohl auch ein Erbe der DDR, denke ich mir, diese instabile politische Situation, in der wir jetzt leben. Die Menschen fühlen sich nicht anerkannt. Entwertungsprozesse sind auch abgelaufen, die Treuhand hat hier ja vieles angerichtet, sage ich mal. Da reicht es ja schon, sich den Sozialatlas der Stadt Brandenburg anzuschauen, dann sieht man, welche Probleme es da gibt.

    Sie sind seit 10 Jahren in Rente und unterrichten immer noch, wenn auch eher als Hobby und an einer anderen Schule. Dabei war das Unterrichten nach Ihrem Studium ja eigentlich nur eine Notlösung… (lacht)

    Das stimmt, ich wollte schon vor zwei Jahren aufhören und jetzt wurde ich wieder gefragt, ob ich das nicht weitermachen könnte. Ich find’s aber auch unglaublich interessant, weil es nicht nur um Wissensvermittlung geht, sondern auch um eine Wertevermittlung. Da gibt es schon Herausforderungen für die Lehrer und das macht mir aber auch Spaß mit den Schülern über alles zu diskutieren. Deshalb mache ich das, auch wenn ich nicht weiß, wie lang ich noch dabeibleibe.

    Haben Sie es je bereut, hier her gegangen zu sein?

    Naja, nach diesem halben Jahr. Danach eigentlich nicht mehr, nein. Das kann ich nicht sagen, nein, im Gegenteil: Ich finde es toll hier und das merkt man auch. Wenn man das ausstrahlt, das kommt an bei anderen, bei Schülern, bei Eltern, bei Lehrern. Dass man eben nicht der auf Abruf ist, oder der Wessi, der hier seine goldene Nase verdienen will, sondern dass man sich hier eben richtig verwurzelt und dass man hier arbeiten will.  […] Ja, das war wirklich eine ganz gute und wichtig Entscheidung. Ich würde das alles so wieder machen, ich würde es nochmal machen. Aber es ist auch so, dass ich eine emotionale Trennung vollzogen habe. Ich bin neulich über den Schulhof gegangen und es war nicht so, dass ich gedacht habe: „Ach wärst du doch nochmal hier!“ Es ist vorbei und das ist eigentlich auch gut so.

    Wenn wir jetzt mal ein Resümee ziehen – Sie stehen jetzt 11 Tage vor Ihrer Rente – bedeutete die Wende für Sie nicht auch, dass Sie sich in Ihrem Lehrer-sein auch immer weiterentwickelt haben? Das war schon ein Glück, oder?

    Also, die Frage stellt sich für meine Familie eigentlich nicht, wir sehen diesen Umbruch als wirkliches Glück und eine Chance, aber auch, weil wir im alten System auf der Sonnenseite saßen und im neuen System schon wieder. Wir haben weder materielle Not, wir haben Glück mit unseren Kindern, die alle Arbeit haben und in dieser Gesellschaft angekommen sind, also … (überlegt) es war eine Chance, wirklich nochmal neu anzufangen und wirklich einen anderen und besseren Weg zu gehen. Bei allen Krankheiten und Mängeln, die dieses System hat. Die Chance war günstig. 

    Was ist Ihrer Meinung nach von der DDR geblieben?

    Letztendlich sind 16,5 Millionen Menschen geblieben und Erfahrungen, die man nur in diesem System machen konnte. Die man beschönigen kann, die man kritisch betrachten kann, mit deren Hilfe man sein Leben neu und anders und besser gestalten konnte. Die Nostalgie der DDR ist für mich in vielen Fragen unverständlich, denn wie gesagt, dieses System hatte zwar einen äußeren Anspruch, aber die Wirklichkeit, die jetzt schon wieder verdrängt wird, die war eben eine andere. Aber eigentlich, außer der sozialen Sicherheit, die aber auch nur vorgespielt war, eigentlich war an diesem Staat wenig gut. Aber aus diesem alten Leben konnte ich sehr viel mitnehmen für diese neue Gesellschaft und mein zweites Leben. Das habe ich dann eben doch ein bisschen anders gestaltet, weil es den riesigen Vorteil gibt – ob man nun gehört wird oder nicht – man kann hier erstmal an jeder Stelle alles sagen und dafür wird man nicht bestraft. Und manchmal hat man eben doch den Eindruck, dass die Meinung doch irgendwie gehört wird und dass sich dann doch Dinge anders entwickeln. Also ein Bereuen dieser Veränderungen, das vielleicht am Anfang noch da war, weil man ja doch einen Lebensabschnitt zurücklassen musste und kritisch hinterfragen muss, ein Bereuen ist nicht da. Das ist schon ein Glück, das so erleben zu können. 

    Beide Gespräche wurden im Januar 2019 geführt. Für die Vergleichbarkeit wurde die Reihenfolge der Fragen angepasst und die Antworten gekürzt. Größere Auslassungen sind im Text markiert.

    Bildnachweis Titelbild: von Saldern-Gymnasium in Brandenburg an der Havel, Foto: Privat.

    Zum Thema weiterlesen:
    Bernd Martens: Wende in den Schulen in: Dossier: Lange Wege der Deutschen Einheit, Bundeszentrale für politische Bildung.
    Ulrich Arnswald et. al.: DDR-Geschichte im Unterricht. Schulbuchanalyse – Schülerbefragung – Modellcurriculum, Berlin 2006.

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